Neufassung für Lions-Club Mainz:
(Vortrag von Rainer Noll, Dienstag, 9. Dezember 2014, 19:30 Uhr, für Lions-Club Mainz, Atrium-Hotel Mainz-Finthen)
I.
Vor 49 Jahren, am 4. September 1965, starb Albert Schweitzer in seinem Urwaldhospital Lambarene in Afrika im 91. Lebensjahr. Als Motto zum heutigen Thema möchte ich folgendes Wort von ihm voranstellen: „Die Wahrheit hat keine Stunde. Ihre Zeit ist immer und gerade dann, wenn sie am unzeitgemäßesten erscheint.“ (WU, S. 150) Weiter bekennt er: „Mit dem Geist der Zeit befinde ich mich in vollständigem Widerspruch, weil er von Mißachtung des Denkens erfüllt ist.“ (LD, S. 181) Unzeitgemäß war und ist Schweitzer ganz gewiss, aber deshalb (oder gerade deshalb) nicht weniger aktuell. Man denkt an André Gides Feststellung, dass das Denken nur so weit Gültigkeit bewahrt, wie es unzeitgemäß ist.
Lassen Sie mich versuchen, Ihnen einen Albert Schweitzer vorzustellen, wie Sie ihn bisher wohl noch nicht gekannt haben, ja vielleicht nicht für möglich hielten. Es ist aber ganz unmöglich, einer so vielseitigen Persönlichkeit in der Kürze eines Vortrages gerecht zu werden. Die Musik klammere ich heute schon ganz aus – allein die nötigen Hörbeispiele würden den Rahmen sprengen und erforderten einen eigenen Vortrag. So seien meine Worte quasi ein geistiges Amuse-Gueule, das Sie hungrig auf Schweitzers Botschaft machen soll.
II.
Sie werden kaum erraten, von wem ich aber zunächst spreche (rufen Sie dazwischen, sobald Sie ahnen, wen ich meine): Er gehört in eine Reihe mit Hitler, Stalin oder Pol Pot und ist einer der vergessenen Massenmörder des 19. und 20. Jahrhunderts, aber heute noch in seiner europäischen Heimat allgegenwärtig. Von diesen Genannten unterscheidet ihn allerdings, dass er sich persönlich bereichern wollte, und zwar um 231 000 000 € nach heutigem Wert. Dafür nahm er in Afrika den Tod von mindestens 10 000 000 Männern, Frauen (ohne Rücksicht auf Schwangere) und Kindern in Kauf (Schätzungen gehen teils auf mehr als das Doppelte). Und ausgerechnet dieser Mann schmückte sich mit humanitären Parolen und verkündete 1876 bei der von ihm einberufenen Konferenz der „amis de l’humanité“ (also „Freunde der Menschlichkeit“): „Der Zivilisation den einzigen Erdteil zugänglich zu machen, in den sie noch nicht vorgedrungen ist, und die Finsternis zu durchdringen, die noch ganze Völker umhüllt, dies ist ein Kreuzzug, der unseres Jahrhunderts des Fortschritts würdig ist.“ [armer Mann, in welcher Finsternis lebtest Du eigentlich selbst?] Bei dieser Konferenz hob man die „Association Internationale Africaine“, die Internationale Afrika-Vereinigung, aus der Taufe und erkor ausgerechnet diesen Mann zu deren Präsidenten. Diese Vereinigung sollte künftig Unternehmungen zur „wissenschaftlichen Erforschung der unbekannten Teile Afrikas“, zur „Zivilisierung des inneren Afrika“ und zur „Unterdrückung des Sklavenhandels“ koordinieren. Unter diesem Deckmantel riss er sich das Kongo-Becken als privaten Besitz von 1885 bis 1908 unter den Nagel und beutete das Land schonungslos aus, vor allem wegen des Kautschuks, den Dunlop [1888 Patent auf Gummireifen] und Goodyear für die aufkommende Reifenproduktion benötigten. Die Schiffe fuhren beladen mit Kautschuk, Gold und Elfenbein nach Europa und kehrten mit Waffen beladen zurück nach Afrika. Wer von den Eingeborenen das Soll nicht erfüllte, wurde kurzerhand erschossen. Den Offizieren musste von jedem Erschossenen eine abgehackte Hand als Beweis für den zweckmäßigen Gebrauch der teuren Munition vorgelegt werden. Jagd auf Tiere war den Soldaten deshalb verboten, und wer es doch tat, hackte einfach lebenden Menschen für jede verschossene Kugel die geforderten Hände ab – Körbe voll Hände trafen bei der Verwaltung ein. Manchmal „erlegten“ sie auch einfach zum Zeitvertreib die Einheimischen. Offiziere schmückten ihre Gartenzäune mit Köpfen von Erlegten. Dies alles nur die Spitze des Berges der Gräueltaten, von denen wir u. a. aus Tagebüchern des schwedischen Geistlichen Sjöblom und auch durch den Schriftsteller Joseph Conrad („Heart of Darkness“, 1899) wissen! (Quelle auch Adam Hochschild, „King Leopold’s Ghost“, 1998) Eine angekündigte Fernsehdokumentation darüber wurde dreimal verhindert, bis sie doch gesendet werden konnte.