Einige Thesen zum Thema
Albert Schweitzer und die Silbermann-Orgel
(für „organ“ 2/98)
1) Die Begegnung mit einigen älteren Orgeln, die Albert Schweitzer im Elsaß in seiner Jugend kennengelernt hatte, nährten seine Zweifel in Bezug auf den Orgelbau seiner Zeit. Zu nennen sind hier u. a. die Walcker-Orgeln in St. Stephan zu Mülhausen (1866) und in der Ev. Kirche zu Münster (1873). Dieser Anstoß führte schließlich zur „Elsässischen Orgelreform“, die nach dem Ersten Weltkrieg in der „Orgelbewegung“ weitergeführt wurde (jedoch mit veränderter Zielsetzung).
2) Einige dieser alten Orgeln waren ursprünglich im 18. Jahrhundert von der im Elsaß wirkenden Orgelbauerfamilie Silbermann erbaut worden (z. B. in St. Matthäus zu Colmar und in St. Thomas, St. Aurelien, St. Wilhelm und St. Nikolaus zu Straßburg). Zu Schweitzers Zeit befand sich keine dieser Orgeln mehr im Originalzustand. Sie hatten z. T. erhebliche Änderungen und Erweiterungen im Sinne des 19. Jahrhunderts erfahren (z. B. Vermehrung der 8′-Register, erweiterter Ausbau des Pedals, Ersetzung des Echo-Werks durch ein vollständiges III. Klavier oder ein Schwellwerk, Wegfall des Rückpositivs).
3) Diese umgebauten Silbermann-Orgeln entsprachen Schweitzers Orgelideal weit mehr als der Silbermannsche Originalzustand, für den er sich kaum interessierte (er war z. B. noch anzutreffen bei den Orgeln in Ebersmünster und Maursmünster). Die Silbermannschen Originale im Elsaß lehnten sich stark an den klassischen französischen Orgelbau an (für den sich Schweitzer ebenfalls nicht interessierte) und waren somit alles andere als ideale „Bach-Orgeln“.- Orgeln des sächsischen Silbermann, der mit Bach in Verbindung stand und dessen Orgeln Bach spielte, hat Schweitzer nie kennengelernt (auch differenzierte er nicht zwischen beiden Linien, obwohl er sich des Unterschiedes bewußt war).- Beim Umbau der noch original erhaltenen Silbermann-Orgel in Sundhausen im Jahre 1911 wurde praktisch ein Neubau unter Verwendung von weniger als der Hälfte des Originalbestandes ausgeführt; Rückpositiv und alle Einzelaliquote wurden beseitigt, die 8′-Stimmen vermehrt, das Echo-Werk durch ein Schwellwerk ersetzt, das Pedal ganz umgestaltet, die mechanische Traktur pneumatisiert, Spielhilfen wie Tutti, freie Kombinationen und Koppeln (einschließlich Sub- und Superoktavkoppeln!) eingebaut. Im Abnahmegutachten gratuliert Schweitzer dem Orgelbauer (Dalstein & Haerpfer) für seine gute Arbeit.- Auch die ursprünglich von Silbermann erbaute Orgel der Straßburger St. Aurelienkirche, die 1884 durch einen Umbau, der fast einem Neubau gleichkam, „romantisiert“ worden war, ließ Schweitzer 1911 durch Dalstein & Haerpfer in seinem Sinne nochmals verändern. Solche Änderungen bedeuteten für ihn keinen Eingriff in die Silbermannsche Konzeption, sondern eine Vervollkommnung im Geiste Silbermanns, d. h. eigentlich eine Verbesserung hinsichtlich seines eigenen Orgelideals. Wie weit das Ziel dieser „Restaurierung“ von Silbermann entfernt war, möge folgendes Zitat aus einem Brief Schweitzers von 1949 an Christian Brandt (Pfarrer an St. Aurelien) belegen: „Wenn ich für Kenner spielen soll, wähle ich das Instrument von St. Aurelien, auf dem ich dann Bach, Mendelssohn, Widor, César Franck so wiedergeben kann, wie ich es nur selten auf all den zahlreichen Instrumenten kann, die ich in der Welt kenne.“ Auch für die Einspielung Bachscher und Franckscher Orgelwerke im Oktober 1936 fiel die Wahl auf dieses Instrument.
4) Eine gewisse Ausnahme stellt die Behandlung der Orgel in St. Thomas zu Straßburg dar. Sie war die erste Silbermann-Orgel, die Schweitzer vor dem Abbruch retten konnte (was ihm zuvor in St. Wilhelm noch nicht gelungen war). Im 19. Jahrhundert waren auch hier einschneidende Veränderungen vorgenommen worden, aber sie war die einzige Silbermann-Orgel Straßburgs, bei der die originale Tastatur, die Traktur und die Schleifladen aus der Zeit, da Bach noch lebte, erhalten waren. Diese ließ Schweitzer hier aus Pietät und auch als Muster für die Nachwelt erhalten und ersetzte sie nicht durch moderne Ladensysteme und Pneumatik; auch das Rückpositiv wurde nicht entfernt (in seinen Schriften, und Jahrzehnte später auch in der Praxis, favorisierte er allerdings unmißverständlich die mechanische Traktur und die Schleiflade, die die Orgelbauer zu Beginn des Jahrhunderts noch nicht wieder hätten bauen können – auch das Rückpositiv hielt er später für wesentlich). Ansonsten ließ er aber auch die Orgel in St. Thomas in seinem Sinne umgestalten.- Dieses etwas abweichende, für ihn keineswegs typische Vorgehen wurde (selbst in seinen Augen) überbewertet und führte zu der völlig irrigen Interpretation, er wolle im Orgelbau zurück zu Silbermann. Auch für die Erhaltung wertvoller Instrumente des 19. Jahrhunderts setzte er sich ein und bedauerte deren Verschwinden. Die besten Orgeln wurden für ihn zwischen 1850 und 1880 gebaut, in Deutschland schätzte er besonders Werke von Walcker und Ladegast aus dieser Zeit.
5) Weit über „Restaurierungen“ vorhandener Silbermann-Orgeln hinaus gipfelte für Schweitzer die Weiterentwicklung des Orgelbaues „ im Geiste Silbermanns“ in den Schöpfungen Aristide Cavaillé-Colls, die er (abgesehen von den zu dominanten Zungenstimmen) für das Vollkommenste hielt, was der Orgelbau bis dahin aufzuweisen hatte. Schweitzers eigenes Ideal war die Synthese aus alter und moderner Orgel, aus den weichen, runden, biegsamen Labialstimmen eines Cavaillé-Coll und den verschmelzungsfähigen deutschen Zungenstimmen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie der Integration derjenigen technischen Errungenschaften, die der künstlerischen Gestaltung dienen. Mehr als bei allen Silbermann-Restaurierungen verwirklichte er seine Vorstellungen z. B. in den von ihm konzipierten Orgelneubauten in der Erlöserkirche zu Straßburg-Kronenburg und in der Altstädter Nicolaikirche zu Bielefeld, die in der „Orgelbewegung“, als deren „Vater“ er nun galt, nicht einmal zur Kenntnis genommen wurden.
Für ihn gab es nur eine „wahre“ Orgel, nämlich die, die seinem Ideal entsprach. Vergangenen Epochen unterstellte er, sie hätten dieses Ideal mangels technischen Vermögens noch nicht verwirklichen können, und folgerichtig bezeichnet er deren Produkte als „Vorläufer“, wozu dann auch eine Silbermann-Orgel im Originalzustand zählt. Zur „wahren“ Orgel wird sie erst durch Restaurierung „im Geiste Silbermanns“ und im Sinne Schweitzers, was hier eigentlich gleichbedeutend ist. „Im Geiste Silbermanns“ besagt bei Schweitzer nicht, einen konkreten historischen Silbermann und dessen Bauweise zum Maßstab zu erheben (womöglich noch zum alleinigen und für alle Zeiten gültigen), dies Diktum ist vielmehr zu verstehen als Synonym für eine ästhetische Geisteshaltung, die derjenigen Schweitzers entspricht oder verwandt ist, und der durch diese Formulierung historische Legitimation verliehen werden soll. Nicht: „Zurück zu Silbermann!“, sondern: „Von Silbermann aus in die Zukunft!“ entspricht der Richtung seines Denkens (d. h. Fortschritt ja, aber in Tuchfühlung mit der Vergangenheit sich an Vorgängern orientierend).
6) Bewundernswert, und auch heute noch eine Herausforderung an den Zeitgeist, ist Schweitzers Kraft des Glaubens an das eigene Ideal, die gar nicht anders kann, als rein historische Betrachtungsweisen zu überschreiten und hier und jetzt selbst Geschichte zu schreiben. Alles Epigonenhafte, archaistische Tendenzen und Historizismus lehnte er ab. Nicht um die Wiederbelebung oder gar Nachahmung historischer Ideale ging es ihm, sondern um die Schaffung neuer Ideale für seine Zeit, durch eigenschöpferisches geistiges Ringen aus der Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft gewonnen. Persönlichkeiten der Vergangenheit dienten ihm allenfalls als Katalysatoren für geistige Prozesse, nicht als zu kopierende Vorbilder. Der Glaube an die schöpferische Kraft des eigenen Geistes gab ihm den Mut, selbständig neben historische Größen zu treten und den Faden der Geschichte in der Gegenwart weiterzuspinnen. Das Motto „im Geiste Silbermanns“ ließ für Schweitzer den Spielraum, selbst kreativ zu sein bei gleichzeitiger Wahrung des geschichtlichen Kontinuums.
Wegen der von der Redaktion gebotenen Kürze wurden diese Ausführungen thesenartig und ohne näheren Quellenangaben formuliert – verwiesen sei besonders auf die gründliche Arbeit von Harald Schützeichel „Die Orgel im Leben und Denken Albert Schweitzers“ (Kleinblittersdorf 1991) und den ausgezeichneten zugehörigen Quellenband.
Rainer Noll