(erschienen im 48. „Rundbrief für alle Freunde von Albert Schweitzer“, November 1979)
Dem Andenken von Prof. Dr. Erwin R. Jacobi (1909-79) gewidmet
(Die Kerngedanken dieses Aufsatzes veröffentlichte Rainer Noll erstmals im „Schweizerischen Reformierten Volksblatt“ Nr. 17, 107. Jahrgang; Basel, 8. November 1973)
Teil I: DER ORGELFACHMANN – EINE DOKUMENTATION
Inhaltsverzeichnis
Autobiographisches Vorspiel
Am Anfang war ein altes Klavier, das eines Tages – ich mag etwa zehn Jahre alt gewesen sein – in unserem Klassenzimmer der Volksschule aufgestellt wurde. Auf diesem Instrument begleitete Hauptlehrer Becker den Morgenchoral. Durch das Erlebnis dieses einfachen Musizierens ergriff mich die Musik auf geheimnisvolle Weise, bisher stumme Saiten in mir wurden zum Klingen gebracht, und die leidenschaftliche Sehnsucht war geweckt, mich selber in Tönen ausdrücken zu wollen – sehr zum Erstaunen meiner Eltern, Lehrer und Schulkameraden, denn mein Heimatdorf Nordenstadt bei Wiesbaden – damals waren noch fast alle Einwohner Bauern wie mein Vater – ist eigentlich ein recht amusisches Pflaster. Im Elternhaus wurde nie gesungen, in der Schule nie richtig, in der Kirche mehr schlecht als recht. Ein Instrument stand mir nicht zur Verfügung. Diese Not ließ mich Weingläser mit Wasser füllen, um verschiedene Töne hervorbringen zu können. Geriet ich aber irgendwo an ein Klavier, so war ich in einer anderen Welt. Von einem angeheirateten Onkel im nahen Kloppenheim hatte ich inzwischen in einer einzigen „Klavierstunde“ die Zuordnung von Noten und Tasten erlernt. Als ich dann zwölf Jahre alt war, verkaufte mir der Hauptlehrer das alte Klavier aus der Volksschule für hartnäckig ersparte fünfzig Mark. Bis es später zur ersten richtigen Klavierstunde kam, war ich längst zu einfachen Bachstücken vorgedrungen, und stolz zeigte ich meinem Lehrer einen Stapel eigener „Kompositionen“. Die Musik hatte über mich und die Umstände gesiegt.
Auf den so bereiteten Boden traf folgendes: Eine Patentante schenkte mir zum Geburtstag die Schweitzer-Biographie von Hermann Hagedorn. Ich las eifrig darin, ohne Worte wie „Philosophie“ und „Ethik“ usw. je gehört zu haben. Ich wollte aber alles, was Schweitzer betraf, verstehen. Der alte Dekan Keller, unser Pfarrer, gab mir so plastische Antworten auf meine Fragen, was dazu führte, daß ich mich bis heute mit ihnen befasse. Damals ahnte ich nicht, daß dieses unscheinbare Geburtstagsgeschenk schicksalhafte Bedeutung für mich gewinnen sollte. Durch die Beschäftigung mit Schweitzer wurde auch mein Interesse für das Instrument Orgel überhaupt erst geweckt und ebenso natürlich für Johann Sebastian Bach! Die in feierlich-getragenen Tönen erklingende romantische Orgel der schönen Barockkirche Nordenstadts (erbaut 1885/86) war mir oft Anlaß genug zum Gottesdienstbesuch, bevor ich als Fünfzehnjähriger selbst für vier Jahre Organist dieser Kirche wurde. Bis heute ist es für mich etwas Besonderes, auf dieser inzwischen stilgerecht restaurierten Orgel ein Konzert zu geben.
Mein Großonkel Heinrich Kern schenkte mir zu Weihnachten 1962 – ich war 13 Jahre alt – auf meinen sehnlichen Wunsch Schweitzers Bach-Buch. Ich las es sofort ganz durch. Hörte ich mir nun aber schwierigere Werke von Bach im Radio an, so vernahm ich ein Chaos von Tönen. Was konnte Schweitzer nur an solcher Musik finden? Diese Frage veranlaßte mich, tiefer einzudringen. Ich besuchte Orgelkonzerte in Wiesbaden, nahm Orgelunterricht und beschäftigte mich mit Orgelbau. Schließlich kaufte ich meine erste Schallplatte, auf der Albert Schweitzer Bach spielte – und war nicht wenig enttäuscht von dem breiten, grundtönigen Klang der Günsbacher Orgel! Was sollte nun gelten: dieser romantische Klang der Orgel in Günsbach (wie auch der Orgel in Nordenstadt), den Vertreter der so genannten Orgelbewegung geradezu verteufelten und verdammten als Übel allen Übels im Orgelbau, oder jener hochgepriesene Barockklang, wie ich ihn von der neobarocken Oberlinger-Orgel der Kreuzkirche in Wiesbaden (erbaut 1959), an der ich mittlerweile Orgelunterricht hatte, und der herrlichen Barockorgel im Nachbardorf Wallau (erbaut um 1755) kannte? Und führten nicht eben dieselben „Orgelbewegten“ Albert Schweitzer als den Initiator ihrer Bewegung ins Feld, um ihren Ansichten Autorität zu verleihen? Unversehens befand ich mich mitten in einem zentralen Spannungsfeld verschiedener Orgelbaurichtungen, deren äußere und innere Widersprüche ein jahrelanges Ringen um Klarheit in mir hervorriefen.
Ich selbst war durch meine ersten Lehrer und entsprechende Literatur ganz im Sinne der herrschenden orgelbewegten Mode – d.h. also neobarock – „indoktriniert“ worden. Ebenso war mir ein völlig schiefes Bild von Schweitzers Standort in der Orgelbewegung vermittelt worden. Daß Schweitzer z.B. seine letzten Orgeleinspielungen in Günsbach machte, wurde nie als ein Bekenntnis zu dieser Orgel für möglich gehalten, sondern man bedauerte diesen „Fehlgriff“ Schweitzers zutiefst und hatte dafür alle möglichen Entschuldigungen bereit, wie: Schweitzer hätte sich in seinem Alter nicht mehr auf eine andere Orgel umstellen wollen, viel lieber hätte gerade er auf einer Barockorgel gespielt usw. Diese Äußerungen empfand ich immer als irgendwie unbefriedigend. Aber sie verursachten ein etwas schizophrenes Verhältnis zur Orgel in Nordenstadt: einerseits faszinierte mich die Würde ihres Klanges, der derselben Klangwelt wie derjenige der Günsbacher Orgel angehört, andererseits trat ich 1967 schriftlich für ihren Abbruch und einen neobarocken Orgelneubau ein – eine Jugendsünde eines Achtzehnjährigen als Frucht ideologischer Verblendung! Damals blieb die Orgel dank der Trägheit und des Desinteresses seitens der Gemeinde unangetastet erhalten, und gerade an dieser Orgel erlebte ich schon bald mein Damaskus zu Nordenstadt: ich konnte nicht länger gegen die Erkenntnis an, daß kaum eine der obertönigen Neobarockorgeln den runden, warmen und feierlichen Ton dieser Orgel hervorbrachte, den ich liebte und suchte. Ich hatte zu mir selbst gefunden und bekannte dies mit meinem Eintreten für die Restaurierung dieser Orgel in ihrem erhaltenen Originalzustand, die 1976 durchgeführt wurde (auch die Zeit war nun dafür reif!). Dies Instrument wurde mir nicht zum Ideal einer Orgel, aber gerade diesen tragfähigen, biegsamen, verschmelzungsfähigen Klang besonders ihrer Grundstimmen möchte ich bei keiner Orgel missen.1)Die Grundstimmen der 1970 von Förster & Nicolaus (Lich/Oberhessen) erbauten, klanglich wunderbar ausgewogenen Orgel der St. Martinskirche in Kelsterbach erfüllen diesen Anspruch in vollkommener Weise. Er ist das Fundament, ohne das ein Orgelklang, selbst mit der schönsten Klangkrone geziert, zum klanglichen Kretin verdammt ist.
Der Orgelbaureformgedanke von den Anfängen bis zur Orgelbewegung
Wo immer man etwas zu dem Stichwort „Orgelbewegung“ liest, fällt alsbald der Name Albert Schweitzer – leider meist in undifferenziertem und oft irreführendem Zusammenhang. Die Türen zu dieser Bewegung wurden aufgestoßen von der „elsässisch-neudeutschen Orgelreform“, die für künstlerisch und handwerklich hochwertige Orgeln eintrat und der billigen, industriell gefertigten Massenware „Fabrikorgel“, die durch technische Finessen über ihre fundamentalen künstlerischen Mängel hinwegzutäuschen suchte, den Kampf ansagte. Den Startschuß hatte der „Vorpostenscharfschütze“2)So P. Meyer-Siat in „La reforme Alsacienne de l’orgue“, enthalten in „Bulletin des professeurs du Lycée d’Etat de Garçons de Mulhouse“, Mulhouse, 1965/66, Nr. 3, S. 13-20. Siehe auch „Emile Rupp als Orgelreformer, Kirchenmusiker und Mensch. Dem Begründer der Orgelreform zum Gedenken“ von Walter Kwasnik, Schriftenreihe Das Musikinstrument, Heft 8, Frankfurt/Main. Emile Rupp (1872-1948, Widor-Schüler wie Schweitzer) mit seinem ersten Artikel „Hochdruck!“ in der „Zeitschrift für Instrumentenbau“ im Jahre 1899 gegeben. Schweitzer meldete sich erst 1905 mit seinem Aufsatz über „Französische und deutsche Orgelbaukunst und Orgelkunst“3)1906 unter dem Titel „Deutsche und Französische Orgelbaukunst und Orgelkunst“ erschienen bei Breitkopf & Härtel, Leipzig. in der Zeitschrift „Die Musik“ (S. 67-90 und S. 139-154) öffentlich zu Wort. „Er war viel reifer, gemäßigter und tiefgründiger als Rupp“4)P. Meyer-Siat a.a.O. (Übersetzung Rosemarie Kost). und wurde die zentrale, führende Persönlichkeit der elsässischen Reformbewegung, die zu dem „Internationalen Regulativ für Orgelbau“ von 1909 führte.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Reformgedanke von anderen jenseits des Rheins weitergeführt. Wilibald Gurlitt (1889-1963) veranlaßte 1921 zu Forschungszwecken den Bau der „Praetorius-Orgel“ im Freiburger musikwissenschaftlichen Institut (Rekonstruktion einer Frühbarock-Orgel nach Angaben von Michael Praetorius, 1571-1621). 1925 ließ Christhard Mahrenholz (geb. 1900) die romantische Orgel der Marienkirche in Göttingen durch Umbau „barockisieren“. „Diese Orgel war damals für die junge Generation ein erregendes Ereignis. Mit ihr war der Faden, der nach den ersten Bemühungen Albert Schweitzers abgerissen worden war, wieder aufgenommen und sogleich um große, entscheidende Schritte weitergeführt.“5)Rudolf Utermöhlen: „Christhardt Mahrenholz zum 75. Geburtstag“ in „Ars Organi“ 23. Jahrg., Heft 48, 1975, S. 2207.
Die „Barockorgel“, was immer man darunter verstehen mochte, galt nun zunehmend als das Ideal einer Orgel schlechthin, während das gesamte Orgelschaffen des 19. Jahrhunderts – Orgelbau wie Orgelkomposition6)Im Zuge dieser Entwicklung ist es nur konsequent, daß z.B. Helmut Walcha sämtliche Orgelkompositionen, die zwischen 1750 und 1900 entstanden waren, vom Lehrplan der Kirchenmusikabteilung der Musikhochschule in Frankfurt/Main gestrichen hat! Derselben Geisteshaltung entsprang seine Ablehnung Max Regers. – Allerdings trifft meine Darstellung nicht für alle Persönlichkeiten der Orgelbewegung in der stark simplifizierten Form zu, wie sie mir die Kürze hier aufnötigt, das muß gesagt werden. „Heute ist es Mode geworden, wiederum ganz pauschal die Orgelbewegung zu verteufeln. (…) 1930 wie 1970 hat es zum Glück immer Leute gegeben, die ,über den Zaun‘ zu blicken vermochten und ihn nicht mit dem Horizont verwechselt haben.“ (Martin Weyer, Von der Zimbel zur Vox Coelestis?, in „Ars Organi“, Heft 46, S. 2087.) – tabuisiert und das ganze Jahrhundert pauschal als Zeit des Verfalls geringschätzig übergangen wurde.
Diese Einseitigkeit ging so weit, daß sich in den vergangenen Jahren eine Gegenbewegung etablierte, die sich für die Erhaltung der nur noch spärlich vorhandenen Orgelbaudenkmäler der Romantik einsetzt wie einst Schweitzer und seine Mitstreiter für diejenigen des Barock.
Der Standort Schweitzers
Hier kann nun nicht deutlich genug gesagt werden, wie wenig Schweitzer selbst sich mit den späteren Zielen der Orgelbewegung identifizierte und wie weit diese über seine Anstöße hinausgegangen war. Die Wurzel aller scheinbaren Widersprüche liegt darin, daß dies bei der Verbindung Orgelbewegung-Schweitzer allgemein zu wenig berücksichtigt wird. Heute weiß ich, daß Schweitzer gar nicht dieser historisierende Verfechter eines neubarocken Klangideals war für den er in Unkenntnis dieser Tatsache vereinzelt sogar in Fachkreisen noch gehalten wird.
So sehr Schweitzer begrüßte, daß nach dem Ersten Weltkrieg die Orgel Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen geworden war7)Siehe „Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst“ mit Nachwort über den gegenwärtigen Stand der Frage des Orgelbaus, Leipzig 1927, S. 56 f., so wenig war er mit der Idealisierung des barocken Orgelbaus dieser neuen Ära einverstanden, die von einem Extrem ins andere geraten war. Christhard Mahrenholz konstatierte in seinem Einführungsvortrag8)„Der gegenwärtige Stand der Orgelfrage im Lichte der Orgelgeschichte“ in „Bericht über die dritte Tagung für deutsche Orgelkunst“, Kassel 1928, S. 17. zur dritten Tagung für deutsche Orgelkunst in Freiberg/Sachsen 1927: „Wir sind doch jetzt schon fast so weit gekommen, daß jede Orgel aus der Zeit vor 1800 von vornherein als klangliches Phänomen gilt, an dem der Spieler sich begeistert und dessen Mensuren der Orgelbauer mit viel Fleiß kopiert – und das alles angesichts der Tatsache, daß nach dem Zeugnis der alten Orgeltheoretiker niemals so viel Pfuscharbeit geleistet worden ist, als zu Schnitgers und Silbermanns Zeiten. Hier wird der Denkmalschutz zum Denkmalkult.“ Von Anfang an, so bereits 1914, erhob Schweitzer warnend seine Stimme gegen die Anfänge dieses Trends und hat nicht nur das Verschwinden vieler Orgeln aus dem 18. Jahrhundert bedauert: „Auch der Verlust von Instrumenten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – genannt seien nur die Namen Ladegast und Walcker – wiegt schwer. Die Gefahr liegt nahe, daß ihrer über der Verherrlichung der Meister des 18. Jahrhunderts, deren würdige und verständnisvolle Erben sie waren, nicht genug gedacht werde. – In der Kunst ist jeder übertriebene Historizismus von Übel. Nicht jede alte Orgel gehört erhalten. Manche sind so fehlerhaft, daß sie es nicht verdienen.“9)A. Schweitzer: „Zur Diskussion über Orgelbau (1914)“, Berlin 1977, S. 13. Das zuletzt Gesagte gilt für Orgeln des 19. Jahrhunderts natürlich ebenso wie für Orgeln des 18. Jahrhunderts! In dem Aufsatz „Zur Reform des Orgelbaus“10)Erschienen in „Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst“, Juni 1927, Nr. 6, 32. Jahrgang, S. 148-154. muß sich Schweitzer bereits gegen eine falsche Inanspruchnahme seines Namens in einem Artikel von Peter Epstein in derselben Zeitschrift (1926, Nr. 12) wehren: „Etwas irreführend in seiner [Epsteins] Darstellung ist, daß er mich die Forderung aufstellen läßt, für die Wiedergabe der Orgelwerke Bachs sollten wir zur Orgel des 18. Jahrhunderts zurückkehren (…). Weder in meiner Schrift über deutsche und französische Orgelbaukunst (1906), noch in meinem Buche über Bach (1906) [1905!], noch bei den Verhandlungen über Orgelbau auf dem Kongreß der ,Internationalen Musikgesellschaft zu Wien‘ (1909), die zur Aufstellung des ,Internationalen Regulativs für Orgelbau‘ (Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1909) führten, noch in der amerikanischen Ausgabe der Orgelwerke Bachs (Schirmer, New York, 1913) habe ich archaistische Ansichten vertreten. (…) Die in meiner Schrift von 1906 ausgegebene Losung lautet: Zurück von der dröhnenden Fabrikorgel zur tonreichen und tonschönen Orgel der Orgelbaumeister. – Die vollendetsten Orgeln wurden etwa zwischen 1860 und 1880 gebaut. In jener Zeit schufen Orgelbaumeister Werke, die die klanglichen Vorzüge der Bachschen Zeit in Vollendung bieten, ohne mehr ihre technischen Mängel aufzuweisen. (…) Natürlich werden wir auch Verbesserungen über sie hinaus erstreben. Es muß sich dann aber um wirklich künstlerische Bemühungen handeln, nicht um Versuche, die dem fabrikmäßigen Betrieb dienen. … Die Orgel der Zukunft ist also die Orgel mit dem Gediegensten und Wertvollsten, was die Orgeln früherer Generationen an Klangmaterial besaßen, unter möglichster Beibehaltung des Rückpositivs und unter Bereicherung durch die Ausdrucksmöglichkeiten eines stark besetzten Schwellkasten-Klaviers.“ Ähnlich klar und völlig unmissverständlich äußert er sich 1931 in „Aus meinem Leben und Denken“11)Siebenstern-Taschenbuch, S. 63 ff. Das von Schweitzer am Ende zitierte Bibelwort findet sich 1. Kor. 13,10.: „Die besten Orgeln wurden etwa zwischen 1850 und 1880 erbaut, als Orgelbauer, die Künstler waren, sich die Errungenschaften der Technik zunutze machten, um das Orgelideal Silbermanns und der anderen großen Orgelbauer des 18. Jahrhunderts in höchstmöglicher Vollendung zu verwirklichen. Der bedeutendste von ihnen ist Aristide Cavaillé-Coll (…). Von den anderen Vertretern des Orgelbaus aus jener Zeit schätze ich besonders Ladegast in Norddeutschland, Walcker in Süddeutschland und einige englische und nordische Meister, die, wie Ladegast, durch Cavaillé-Coll beeinflußt waren. (…) Während mir die monumentale Orgel des 18. Jahrhunderts, wie sie später durch Cavaillé-Coll und andere ihre Vollendung erfuhr, in klanglicher Hinsicht als das Ideal gilt, wollen neuerdings Musikhistoriker in Deutschland auf die Orgel der Zeit von Bach zurückgehen. Diese ist aber nicht die wahre Orgel, sondern nur ihr Vorläufer. Es fehlt ihr das Majestätische, das zum Wesen der Orgel gehört! Die Kunst hat absolute, nicht archaistische Ideale. Für sie gilt das Wort: ,Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.‘ “ Der erste mir bekannte Autor, der Schweitzers Stellung in der Orgelbewegung und diejenige der elsässischen Reform in ungetrübter Klarheit und Schärfte erfaßt hat, Wolfgang Metzler, bemerkt 1965 zu dieser Textstelle in seinem hervorragenden Buch „Romantischer Orgelbau in Deutschland“ (Verlag E. F. Walcker & Cie., Ludwigsburg, o. J.) S. 54: „Diese Äußerungen offenbaren für viele Anhänger der Orgelbewegung etwas Unerwünschtes: Sie sehen gerne Schweitzer als den Vater der Bestrebungen, die Romantik im Orgelbau vergessen zu machen. Doch verhält es sich damit etwa wie mit Luther und den Bilderstürmern: Wo Schweitzer Auswüchse tadelt, möchte eine übereifrige Gefolgschaft ein ganzes Zeitalter annullieren; dies ist aber schon nicht mehr in seinem Sinn.“12)In jüngster Zeit hat Bernhard Billeter in seiner äußerst wertvollen von Prof. Dr. E. R. Jacobi angeregten Dokumentation „Albert Schweitzer und sein Orgelbauer, Briefe an Fritz Haerpfer, 1879-1956″ in „Acta Organologica“ Bd. 11, Berlin 1977, S. 173-225, sehr Wesentliches zum tieferen Verständnis des Orgelfachmanns Schweitzer beigetragen.
Noch weit freimütiger äußert Schweitzer sich in Briefen, so an den Architekten Leitolf in Aschaffenburg: „Günsbach, 7. Oct. 32 (…) Hören Sie nicht auf die Leute, die Ihnen eine ,Barock-Orgel‘ oder ,Praetorius-Orgel‘ aufschwätzen wollen. Das ist vorübergehende Mode.“ Ebenso im Brief an Johannes Schäfer in Osterode/Harz: „Günsbach, 6. März 36 … arbeiten Sie für die wahre Orgel, die gleich weit entfernt ist von der heutigen Barock-Gebimbel-Orgel, wie von der früheren Orchester-Fabrikorgel! (…) Gott bewahre uns vor Nachthörnlein, Ranket, Blockflötlein und dergleichen.“ Der letzte Satz spielt auf die Freiburger Praetorius-Orgel an, die die genannten Register enthält.
Schweitzers Ruf „Zurück zur alten Orgel“ wurde und wird also meist fehlinterpretiert, leider oft sogar von Fachleuten, die nicht einmal bemerkt haben, daß sie mit dem im Umlauf befindlichen Falschgeld betrogen wurden. Dieses Falschgeld war geprägt worden von vielen Autoren, die Gesamtdarstellungen Albert Schweitzers gaben, ohne auf dem Gebiet von Orgelbau und Orgelspiel zu Hause zu sein. In Umlauf war es gekommen durch andere Autoren, die sich in der gleichen Lage befanden und deshalb bei den ersteren unkritisch abschrieben. Dabei hat Schweitzer zu dieser Fehlinterpretation ganz konkret im Jahre 1927 erklärt: „Mancherorts ist die Losung ,Zurück zur alten tonschönen Orgel‘ so missverstanden worden, als sollte die Orgel des 18. Jahrhunderts zum Ideal erhoben werden. Dies ist nicht der Fall. Mit der alten Orgel sind in dieser Losung alle diejenigen gemeint, die vor der Aera der modernen Fabrikorgel entstanden, zu einer Zeit, als Orgelbaumeister noch als Künstler arbeiten durften, das heißt die Werke vom 17. bis in das siebente Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. – Sicherlich müssen wir die noch vorhandenen alten Orgeln des 17. und 18. Jahrhunderts als historische Kleinodien erhalten und möglichst sachgemäß und pietätvoll restaurieren (…). Sicherlich müssen wir die Orgeln aus jener Zeit noch viel besser kennenlernen (…). Unser Ideal der Orgel ist aber auch durch die Errungenschaften der großen Orgelbaumeister der sieben ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bestimmt. Weiter noch hat es den Forderungen Rechnung zu tragen, die die bedeutenden Orgelkomponisten – die César Franck, die Widor, die Reger und die anderen – in ihren Schöpfungen an die Orgel stellen.“13)Siehe Anm. 6, S. 60 f. Über Orgelbaumeister Alfred Kern (geb. 1910), der 1961 die neue Günsbacher Orgel nach Angaben Schweitzers erbaute, schrieb er an Reverend Weinland (1959?): „Er [Kern] ist der Garant, daß die Orgel ihren schönen Klang bei dem Umbau [gemeint ist der Neubau der Günsbacher Orgel] bewahren wird, und wirklich das Muster einer Dorforgel, auf der man die vorbachischen Meister, J. S. Bach, Mendelssohn, César Franck, Widor, Guilmant, Reger spielen kann, sein wird.“14)Zitiert nach B. Billeter, siehe Anm. 11, S. 181.
Schweitzers Dispositionsprinzipien
Dieser Anspruch wirkt sich ganz konkret in Schweitzers Forderungen für die Orgeldisposition aus: „Die Ablehnung streichender Stimmen (Salicional 8′, Gambe 8′, Cello 8′, Violonbaß 16′) habe ich nicht begreifen können und daher nie mitgemacht. Bach hat sie nie abgelehnt. Er hatte Violonbaß 16′ in den Pedalen von Orgeln, die er spielte. Beim Umbau der Mühlhauser Kirche [gemeint ist natürlich die Orgel] fordert er die Einsetzung einer Gambe 8′, die er mit Salicet 4′ verbinden will. (…) Aber diese Stimmen dürfen nicht schneidend und scharf sein wie so um 1900 herum, sondern milde und edel. Ein Violon 8′ (Cello) gut und mild intoniert im Pedal halte ich auch in einer Orgel von 20 Stimmen erfordert, um den Baß im Piano aufhellen zu können.“15)Aus einem Brief Schweitzers an Rudolf Quoika vom 2.8.1954, zitiert nach R. Quoika, Ein Orgelkolleg mit A.S., Freising 1970, S. 29. Wie wichtig für Schweitzer die Streicher sind, zeigt seine Empfehlung: „Man scheue sich nicht, Gamba 8′ und Salicional 8′, in verschiedenen Mensuren, zugleich im Hauptklavier und im Schwellwerk zu disponieren.“16)Siehe Anm. 6, S. 63. Die 1743-1746 erbaute Hildebrandt-Orgel der Wenzelskirche in Naumburg, auf deren Disposition Bach wohl starken Einfluß gehabt hat und die er selbst zu seiner vollen Zufriedenheit abgenommen hat, enthielt relativ engmensurierte Streicher: im Rückpositiv Viola di gamba 8′ und Fugara 4′, im Pedal Violon 16′ und Violon 8′.17)Siehe Ulrich Dähnert: „J. S. Bach’s Ideal Organ“ in „THERAPIE: Organ Yearbook“, 1970, S. 21-37. Für Schweitzer geben Subbaß 16′ und Cello 8′ den klaren Baß für Bachs Choralvorspiele ab (siehe Brief vom 29.6.61 an Alfred Kern, zitiert bei B. Billeter: „A. S. und sein Orgelbauer“ in „Acta Organologica“ Bd. 11, S. 222). Tatsächlich enthielten auch Bachs Orgeln in Arnstadt und in Weimar (Schloßkirche) Violone 16′ im Pedal, ebenso streichende Register wie Viola da Gamba, Gemshorn und Quintaden in den Manualen (wie auch die Orgel der Nicolaikirche in Leipzig). „Für Bach war die mit solchen Registern gegebene Varietät innerhalb der Grundlabialen so wichtig, daß er selbst in den kleinen Weimarer Verhältnissen nicht darauf verzichtete. Ebenso großen Wert legte Bach auf die Monumentalität des Klangs, die sogenannte ,Gravität‘ (…), und unter den Zungen liebte er (…) gerade diejenigen mit voller Becherlänge, die ,eine viel beßre gravität von sich geben‘.“18)Hans Klotz: „Über die Orgelkunst der Gotik, der Renaissance und des Barock“, Kassel 1975, S. 384. Gerade auch die Elsässische Reformbewegung legte größten Wert auf Zungen mit voller Becherlänge, während die spätere Orgelbewegung auf früh- und hochbarocke kurzbechrige Zungen (Regale, Ranckete) zurückgriff! Man sollte aber bedenken, daß Bach die volle Becherlänge beim Umbau der Mühlhauser Orgel nur für eine Posaune 16′ im Pedal forderte, ansonsten aber wohl kurzbechrige Zungen in den Manualen gelten ließ, sonst hätte er die Orgel in St. Katharinen in Hamburg, die auch einige kurzbechrige Zungen enthielt und deren reiche Zungenbesetzung Bach besonders lobte, nicht „in allen Stücken vortrefflich“ finden können (siehe Jakob Adlung: „Musica mechanica Organoedi“, Berlin 1768, Bd. 1, S. 187). Bachs spezifisches Ideal war, selbst bei kleineren Instrumenten die mitteldeutsche Labialvarietät mit einer sonst nur bei großen Instrumenten anzutreffenden klanglichen Monumentalität zu verbinden. Damit bekannte sich Bach zu einer von seiner Zeit aus gesehen zukunftsweisenden Orgelbaurichtung, und Schweitzer kann sich mit seinen Idealen der Monumentalität und der Grundlabialvarietät mit vollem Recht auf ihn berufen. Und mit gleichem Recht kann er die großen romantischen Orgelbauer als „würdige und verständnisvolle Erben“ des 18. Jahrhunderts bezeichnen. Das, was in der Orgelbewegung meist als „Barockorgelideal“ angesehen wurde, entsprach also nicht einmal einigen der Forderungen Bachs an den Orgelbau seiner Zeit, sondern nur demjenigen der vorbachschen Zeit! Dazu Schweitzers Stellungnahme: „Ich habe darunter gelitten, daß eine gewisse Richtung sich (…) auf einen historischen Orgeltypus, und gar noch auf einen vorbachischen, festlegte. Ich habe mich aber damit getröstet, daß man sich doch mit der Zeit zum wahren Ideal der Zukunftsorgel zurückfände, und ich glaube auch, daß dieses stattfinden wird.“19)Siehe Anm. 14, S. 26 f. „Alles Wahre ist nicht von Übertreibungen und Einseitigkeiten belastet.“ (ebenda S. 30). Angesichts der heutigen Entwicklung im Orgelbau ein prophetisches Wort!
„Maßstab einer jeglichen Orgel, bester und alleiniger Maßstab, ist die Bachsche Orgelmusik.“20)A. S.: „Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst“, Leipzig 1960, S. 17. Diese durchaus mißverständliche und mißverstandene Maxime Schweitzers will keineswegs besagen, wir sollten zur Orgel der Bachzeit zurückkehren. Schweitzer versteht hier Bach als ästhetische und nicht als historische Größe! Wie ich schon zeigte, hat sich Schweitzer klar gegen historisierende Tendenzen ausgesprochen. Er interpretierte auf der Orgel keinen puristisch-historischen Bach. Die genannte Maxime Schweitzers ist nur richtig zu verstehen aus der Wurzel seiner Bach-Ästhetik, wie Leo Schrade sie aufgezeigt hat: „Er [Schweitzer] wollte weg vom Historischen und hin zum Ästhetischen, denn das schien ihm der feste Punkte, von dem aus ein neues Bachverhältnis zu gewinnen war. (…) Der Freimut, mit dem Schweitzer die Freunde der Musik aufforderte, sich von der rein geschichtlichen Sicht wegzuwenden und der Ästhetik zuzukehren, zeigt einen geistigen Mut, der in der Musikliteratur unserer Tage kaum seinesgleichen hat. (…) Schweitzer ging daran, seiner Zeit das Werk Bachs als lebendige Kraft wiederzugeben. Wenn wir es nicht als lebendige Kraft anerkennen, verliert jede Interpretation ihren Sinn. Das musikalische Kunstwerk muß sich im Leben bewähren, nicht in der Geschichte.“21)Leo Schrade: „Die Ästhetik Albert Schweitzers – eine Interpretation J. S. Bachs“ in „Albert Schweitzer – Sein Denken und sein Weg“, Tübingen 1962, S. 262-280. – Daß Schweitzer jedoch keine grundsätzlich antihistorische Ideologie vertrat, zeigt z.B. seine Behandlung der Cembalofrage: Schweitzer war kein bedingungsloser Freund des Cembalos, in einem Brief an Lluis Millet schrieb er 1911, daß das Cembalo ihm Diarrhöe und Kolik verursache (zitiert bei Erwin R. Jacobi: „Albert Schweitzer und die Musik“, Wiesbaden 1975, S. 18/19). Aber aus klangästhetischen Gründen fordert er sehr entschieden das Cembalo für Bachs Violinsonaten mit obligatem Cembalo („J. S. Bach“, S. 349 ff.).
Für die französischen Romantiker stellt Schweitzer berechtigte Forderungen an die Disposition, die erst im Orgelbau unserer Tage wieder häufiger respektiert werden: „An dem Grundsatz, daß das Schwellwerk das vollständigste sein müsse, ist unter allen Umständen festzuhalten. … César Franck, Widor und die anderen romantischen Meister setzen voraus, daß das Schwellwerk mit einer intensiven Gambe, einer nicht minder intensiven und nicht zu engen Voix céleste, mit Oboe 8′ und Clairon 4′ ausgestattet ist. Klarinette 8′ erwarten sie auf dem Positiv. Finden sich diese Stimmen aus irgendeiner Willkür des Erbauers auf einer Orgel nicht an ihrem Platze, so muß für die Wiedergabe der Werke dieser Meister und aller von ihnen beeinflussten Komponisten die ganze Registrierung umgeworfen werden.“22)Siehe Anm. 6, S. 62. So manche Entstellung franz. Kompositionen auf deutschen Orgeln hat hier ihre Ursache.
Zum vollen Verständnis dieser Forderungen sei darauf hingewiesen, daß die romanischen Komponisten von jeher ihre Registriervorstellungen sehr genau zu fixieren pflegten, diese also wesentlicher Bestandteil der Komposition sind, wie etwa die Instrumentation Teil einer Orchesterkomposition ist.
Mit den französischen Zungenstimmen ist Schweitzer allerdings nicht einverstanden: „Die intensiven, unter hohem Winddruck sprechenden Zungen der französischen Orgeln vermischen sich nicht mit den anderen Stimmen, sondern ertöten sie. … Für ein Bachsches Fortissimo sind Cavaillé-Colls Zungen also nicht zu gebrauchen. … Eine der Hauptaufgaben des heutigen Orgelbaues ist also, wieder die schönen Rohrwerke aus der Zeit von 1860 zu bauen.“23)Für große Orgeln in großen Räumen läßt Schweitzer im Gegensatz zu Emile Rupp einige Hochdruckzungen gelten. Nicht Zungen des 18., sondern deutsche Zungen des 19. Jahrhunderts fordert also Schweitzer!
Die 8′-Register sind für ihn das Fundament, auf dem die ganze Schönheit einer Orgel beruht. Flöte 8′, Bordun 8′ und Salicional 8′ braucht er besonders für den runden Flötenton, gegen den sich die Solostimme in Bachs Choralvorspielen besonders gut abhebt.24)Siehe die Briefe an A. Kern vom 6.6.59 und 24.1.60, zitiert bei B. Billeter, S. 218; siehe Anm. 11. „Auf das Hauptwerk gehört neben Bordun 8′ und Flauto Major 8′ unter allen Umständen ein schöner, weiter Salicional 8′. Diese alte Tradition zu verlassen, hat keinen Sinn. (…) Auch eine Gamba 8′ gehört nach der Tradition ins erste Klavier.“25)Siehe Anm. 6, S. 63. Die „alte Tradition“, nach der Schweitzer hier disponiert haben will, ist nicht etwa die Tradition des 18. Jahrhunderts, sondern diejenige der Orgelbaumeister der Hochblüte des romantischen Orgelbaus, eines Cavaillé-Coll, eines Walcker, eines Ladegast, eines Sauer und wie sie alle heißen! Es kann kein Zweifel daran sein, worauf Schweitzer beim Disponieren größten Wert legte – so hat es mir auch Alfred Kern mündlich bestätigt: „(…) auf die Grundstimmen verschiedensten Charakters, sogar auf Kosten der Klangkrone im I. sowie des Prinzipalaufbaus im II. Manual. (…) Es wird daraus ersichtlich, wie stark Schweitzer in der Klangwelt des 19. Jahrhunderts verwurzelt war. Man darf nicht vergessen, daß Richard Wagner ihn ebenso beeindruckte wie Bach.“26)Bernhard Billeter, siehe Anm. 11, S. 184. Siehe auch „Albert Schweitzer und Richard Wagner“, Zürich 1977, von Erwin R. Jacobi. So ist es bezeichnend für Schweitzer, daß er 1912 bei einer Dispositionsänderung der 1909 nach Grundsätzen der Elsässischen Reformbewegung und des „Internationalen Regulativs für Orgelbau (1909)“ erbauten Haerpfer-Orgel des Sängerhauses in Straßburg27)Heute Palais des Fêtes. Auf Wunsch von Schweitzer ist diese Orgel bis heute unverändert erhalten geblieben. Orgelmeister Ernest Mühleisen ersetzte lediglich die pneumatische Traktur durch einen fahrbaren Spieltisch mit elektrischer Traktur. Siehe B. Billeter: „Acta Organologica“ Bd. 11, S. 178. die Terz und die Septime des Schwellwerkes zugunsten eines Weitprinzipals 8′ opferte und nicht eine der vielen 8′-Stimmen (im Hauptwerk allerdings trat ein Weitprinzipal 8′ anstelle des Gemshorns 8′).
Nach dem Gesagten mag die Behauptung Wolfgang Metzlers nicht mehr paradox klingen, „daß die elsässische Reform den letzten Höhepunkt des romantischen Orgelbaues darstellt“28)W. Metzler: „Romantischer Orgelbau in Deutschland“, S. 81.. Metzler bescheinigt ihr darüber hinaus eine schöpferische Weiterentwicklung: „Die Orgel der elsässischen Reform war bereits eine Zusammenfassung gewisser historischer Orgeltypen, allerdings eine solche, die einen neuen Stil bildete. Sie addierte nicht blindlings die Summanden, sondern formte sie um.“29)Ebenda, S. 91.
Das Beste von allem sollte zu einem guten Neuen werden, so z.B. der Werkaufbau der Barockzeit mit Rückpositiv, verbunden mit dem reichhaltigen, intensiven Schwellwerk eines Cavaillé-Coll.
Schweitzer heute: überholt und doch aktuell
Hans Heinrich Eggebrecht, Willibald Gurlitts Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Musikwissenschaft in Freiburg, zeigte in seinem Eröffnungsvortrag zur Internationalen Orgeltagung in Freiburg 1967 über „Die Orgelbewegung“ (Stuttgart 1967) die Hauptmerkmale einer „Bewegung“ auf: Protest, fixierte Wertsetzung, normativer Anspruch, verbunden mit geschichtlicher Relevanz, Leistungsfähigkeit und der aus dem normativen Anspruch folgenden Verschuldung. Die Hauptverschuldung der Orgelbewegung liegt nach Eggebrecht in der Radikalität des Ausstreichens von 150 Jahren Orgelbaugeschichte und Orgelliteratur in Verkennung der Voraussetzungen der Musik unseres Jahrhunderts, wodurch die Kontinuität der Geschichte zerschnitten würde, als ob unser Jahrhundert unmittelbar auf das 17. und beginnende 18. Jahrhundert folgte. Dies hatte zur Folge, daß man nur der Barockmusik klangliche Originalität zuerkannte, nicht aber der Musik des 19. Jahrhunderts. Eggebrechts Fazit: „Aus all diesen Gründen ist es nicht möglich, den ,Baum‘ der Orgelbewegung weiterhin zu kultivieren, indem man den ,historisierenden Zweig‘ entfernt (…)“, denn „historisierend, d. h. rückwärtsgewandt im Sinne einer Bereicherung und doch zugleich auch Verkennung der Gegenwart, war nicht nur ein Ast, sondern der ganze Stamm.“
Es dürfte im Verlauf meiner Ausführungen mehrfach klar dokumentiert worden sein, wie wenig Albert Schweitzer, der als „Vater“ des ganzen Unternehmens gilt, zu diesem „Stamm“ der Orgelbewegung zu rechnen ist. Wie unangenehm ihm die ideologisierte Verengung der Idee der wahren Orgel zu einer etikettierten „Bewegung“ schon vor dem eigentlichen Beginn der Orgelbewegung war, hat er bereits 1914 ausgesprochen: „Ich selbst habe es immer vermieden, von einer ,Reform des Orgelbaus‘ zu sprechen, obwohl ich verstehen kann, wie es zur Prägung des Ausdrucks kam. Aber er scheint mir nicht angebracht, weil die ausgesprochenen Grundprinzipien eigentlich etwas Selbstverständliches30)Siehe Hermann J. Busch: „Zur Situation des europäischen Orgelbaus am Beginn des 20. Jahrhunderts“ in „Ars Organi“ Heft 46, Febr. 1975, S. 2080-2086. enthalten. Auch kann ich mich nicht damit befreunden, daß diese Namengebung noch erweitert wird und Worte wie ,elsässisch‘, ,neudeutsch‘, ,deutschfranzösisch‘ an sie herangetragen werden, ob dies von Freundes- oder Feindesseite geschieht. Solche Spezifizierungen haben mit der Sache nichts zu tun. Mag sein, daß die betreffenden Gedanken zuerst im Elsaß und hier mit besonderer Entschiedenheit ausgesprochen wurden. Aber das hat mit der Idee an sich gar nichts zu tun. Diese soll sich allgemein und frei bewegen und darf nicht durch Ursprungsbezeichnungen behindert werden, die ihr von Anfang an zu eng sind oder es bald werden müssen, wenn der Gedanke wirklich lebendig und entwicklungsfähig ist.“31)A. Schweitzer: „Zur Diskussion über Orgelbau (1914)“, Berlin 1977, S. 8.
Bereits ein Jahr nach dem erwähnten Vortrag Eggebrechts, 1968, konstatiert Luigi Ferdinando Tagliavini: „Eine ,Orgelbewegung‘, deren Symbol die Praetorius-Orgel gewesen war – ein Instrument, das (…) den Anfang zur fragwürdigen ,neobarocken‘ Richtung machte (wir beziehen uns hier selbstverständlich auf die erste Praetorius-Orgel von 1921), eine Orgelbewegung, in deren Namen wichtige Werke des romantischen Orgelbaues zerstört oder verletzt wurden, eine solche Bewegung gehört unwiderruflich der Vergangenheit an.“32)„Randbemerkungen von L. F. Tagliavini zu einer Schrift von H. H. Eggebrecht“ in „Ars Organi“ Heft 37, Dez. 1970, S. 1492. Bernhard Billeters Ansicht muß ich voll zustimmen: „Ein guter Teil der Übertreibungen der sogenannten Orgelbewegung hätte bei einer Evolution nach den Vorstellungen Schweitzers vermieden werden können. Der Verlust der Orgelromantik und der meisten klingenden Zeugnisse aus jener Zeit ist uns spät, dafür um so schmerzlicher bewußt geworden, und so mag es wertvoll sein, heute die Ansichten Schweitzers wieder zur Kenntnis zu nehmen.“33)B. Billeter: „A. S. und sein Orgelbauer“ in „Acta Organologica“ Bd. 11, S. 184.
Solche Äußerungen, wie auch die folgende von Metzler, sind unüberhörbare Zeichen einer Tendenzwende, die irgendwann kommen mußte: „Die großen Romantiker, seien es Orgelbauer oder Orgelkomponisten (Brahms, Reger) haben die Einflüsse der lebendigen Vergangenheit nicht ignoriert; wir sollten auch ihre Leistungen darum in den Gedankenkreis unserer Bemühungen mit einbeziehen; vielleicht gelingt es sogar, sie so wirksam werden zu lassen, daß heute Instrumente entstehen, die das auf Synthese bedachte Programm Albert Schweitzers in einem umfassenderen Sinne zu erfüllen vermögen, als es seinerzeit möglich war.“34)Siehe Anm. 27, S. 93. Je mehr die neobarocke Ära der Orgelbewegung nach vielen Jahrzehnten sich ihrem Ende zuneigte, desto aktueller wurde plötzlich der allzu früh überholt geglaubte Schweitzer – und desto treffender wurde die Einschätzung und Würdigung seiner Leistung. Man mache sich einmal die volle Bedeutung einer Aussage von Tagliavini klar, worum es heute im Grunde gehe, nämlich „um eine Rückkehr zu den Grundsätzen, die schon Albert Schweitzer vertreten hat; dieser wirkliche Vorläufer und Anreger der Orgelbewegung hatte in der Tat nicht so sehr die Dekadenz des ,romantischen Orgelbaus‘, sondern der Fabrikorgel aufgezeigt; im übrigen hatte er sich in keiner Weise mit jener ,Schuld‘ beflecken wollen, die Eggebrecht als die größte der Orgelbewegung bezeichnet: das Ausklammern des 19. Jahrhunderts.“35)Siehe Anm. 31, S. 1493.
Sicherlich kann es nicht um eine völlig unkritische Rückkehr zu den Grundsätzen Schweitzers oder gar darum gehen, diese zum Dogma zu erheben – Schweitzer selbst wäre der letzte, in dessen Sinne dies wäre! So sehr er sich für einen klaren Werkaufbau (Hauptwerk, Rückpositiv, Schwellwerk) aussprach, so wenig möchten wir zum Beispiel auf ein lückenloses, charakteristisches Prinzipalrückgrat in allen Werken verzichten (was Schweitzer, wie schon erwähnt, in seinen Dispositionen vernachlässigte). – Aber tatsächlich – und dies möchte ich nochmals in aller Deutlichkeit herausstellen – kann bei Schweitzer nicht im mindesten von einer Ablehnung des 19. Jahrhunderts die Rede sein, in dem seine ganze Person wurzelt. Dieses Jahrhundert brachte nicht nur die „Fabrikorgel“ hervor, sondern auch die Orgel, die seinem Ideal am nächsten kam!36)1976 bestätigt Hermann J. Busch, daß es noch weithin als selbstverständlich gelte, „daß die romantische Orgel technisch durch Registerkanzellenladen und nichtmechanische Traktur, klanglich durch das Schlagwort ,Orchesterorgel‘ hinlänglich charakterisiert sei und dieser instrumenten-baulichen Entwicklung die ,Dekadenz‘ von Orgelspiel und Orgelkomposition nach Bach entspreche. Daß solche undifferenzierte Einschätzung immer noch weit verbreitet ist, belegen Veröffentlichungen der jüngsten Zeit.“ („Zwischen Tradition und Fortschritt – Zu Orgelbau, Orgelspiel und Orgelkomposition in Deutschland im 19. Jahrhundert“ in „Mundus Organorum, Festschrift Walter Supper zum 70. Geburtstag“, Berlin 1978, S. 63-93).
Es ist höchst bemerkenswert, daß der als Bachspezialist bekannte Schweitzer sich in seiner Konzertprogrammauswahl nie an eine Spezialisierung hielt: romantische Meister wie Mendelssohn, César Franck, Widor, Guilmant, de Maleingreau und Rheinberger spielte er selbst in einer Zeit, als dies verpönt war (nach dem Ersten Weltkrieg nur noch die drei erstgenannten). Es ist wohl kaum bekannt, daß Schweitzer bei seinen letzten Platteneinspielungen 1951/52 in Günsbach nicht nur Werke von Bach, sondern auch die 4. und 6. Orgelsonate Mendelssohns, die drei „Choräle“ von César Franck sowie die 6. Orgelsymphonie von Widor eingespielt hat (Teile aus der 6. Orgelsonate Mendelssohns hatte er schon 1928, den Choral in E-Dur von Franck schon einmal 1936 eingespielt).
Obwohl Schweitzer nie ein Werk Max Regers (1873-1916) in seinen Konzerten spielte, erkannte er in geradezu prophetischer Weitsicht dessen Genius, während es bei der ersten Orgeltagung in Hamburg und Lübeck 1925 zu einer einseitigen Entscheidung für Bach und gegen den Spätromantiker Reger kam. 1947 schrieb Schweitzer anläßlich seiner Ernennung zum Ehrenmitglied des gerade gegründeten „Max-Reger-Institutes“ an Regers Frau Elsa: „(…) Das einzige Verdienst, das ich um Reger hatte, ist, daß ich ihn bewunderte als einen großen schöpferischen Künstler, und dies aussprach. (…) Seine gesamten Orgelwerke waren während meines ersten Afrikaaufenthaltes mit mir. Ich hatte sie mitgenommen, um mich in Ruhe in sie zu versenken. (…) Die Bedeutung von Regers Werk wird erst in einer kommenden Zeit gewürdigt werden. Das Ausland ist gar nicht recht mit ihm bekannt, geschweige vertraut, (…)“37)Im Brief an Elsa Reger vom Dez. 1947, mitgeteilt vom Max-Reger-Institut, Bonn.. „Reger ist ein Meister der Orgelkomposition. Zu bedauern ist, daß die Instrumente, die er zur Verfügung hatte und für die er schrieb, die Differenzierung der drei Klangpersönlichkeiten der Manuale [Hauptwerk, Rückpositiv, Schwellwerk] nicht voraussetzen, sondern nur durch die Klangstärke verschieden sind. Bedauerlich ist auch, daß er mit dem Rollschweller als dem gleichmäßig zunehmenden Crescendo rechnet. Aber er ist doch einer der großen schöpferischen Geister für die Orgel.“38)Siehe Anm. 14, S. 28 f. Diese zuletzt zitierte Briefstelle zeigt eine Wandlung Schweitzers in seinem Verhältnis zum Rollschweller (Register-Crescendo) nach dem Zweiten Weltkrieg an. So hieß es noch im „Internationalen Regulativ für Orgelbau (1909)“: „Der Registerschweller (Register-Crescendo) ist auf allen Orgeln – mit Ausnahme der ganz kleinen Instrumente – als Spielhülfe anzubringen.“ Die beiden von Schweitzer geplanten und von Haerpfer (Boulay) gebauten Orgeln in Mühlbach (1929; 15 klingende Stimmen, 2 Transmissionen) und Günsbach (1932; 20 klingende Stimmen, 2 Transmissionen) wurden mit Rollschweller und pneumatischen Kegelladen versehen (die Mühlbacher Orgel ist nur wenig verändert erhalten, auf derjenigen in Günsbach spielte Schweitzer 1951/52 die letzten Plattenaufnahmen ein)! Erst 1961 ließ Schweitzer die Orgel in Günsbach mit mechanischen Schleifladen und ohne Rollschweller durch Alfred Kern neu bauen.
Schweitzer hat sich nie auf Modetorheiten des Zeitgeistes eingelassen, weder auf geistigem noch auf künstlerischem Gebiet. Sein Blick war auf Wahrheit und Ewigkeit gerichtet: „Denn wer sich mit der Orgel beschäftigt, wird über alles Menschliche und Allzumenschliche hinausgetragen und zur reinen Freude an der Wahrheit geläutert und verehrte Orgel und Orgelklang als die großen seelischen Erzieher zum Erleben der Ewigkeitsgesinnung.“39)In Schweitzers Brief zur Orgeltagung in Freiburg/Breisgau 1926, zitiert nach Joseph Müller-Blattau: „Albert Schweitzers Weg zur Bach-Orgel und zu einer neuen Bach-Auffassung“ in „A. Schweitzer – sein Denken und sein Weg“, Tübingen 1962, S. 255.. Sein großes Verdienst ist die Wahrung des geschichtlichen Kontinuums in der schöpferischen Evolution des Orgelbaus. Was ihn gestern noch zum Anachronisten werden ließ, macht ihn heute wieder aktuell, nachdem eine einseitige Mode sich ausgetobt hat40)Über Schweitzers Position in der Entwicklungspolitik kommt Bernd Otto in seiner Dissertation „Albert Schweitzers Beitrag zur Friedenspolitik“ (Hamburg 1974) zu ähnlichem Urteil!. Schweitzer war sich dessen gewiß, noch bevor dies eingetreten war. Nicht: zurück zur Orgel der Bachzeit, lautete seine Devise, sondern: die Weiterentwicklung wieder da anknüpfen, wo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Faden der künstlerischen Tradition des Orgelbaus gerissen war und der Verfall durch Industrialisierung und den Sieg des Kaufmännischen über das Künstlerische begonnen hatte! Und da haben wir einen aktuellen Ansatz zum Nachdenken über den heutigen und zukünftigen Orgelbau.
Fußnoten [ + ]