Zum Albert-Schweitzer-Boom

Bemerkungen von Rainer Noll zu dem derzeitigen „Albert-Schweitzer-Boom“ in Film, Sendemedien, einigen Buchpublikationen und Diskussionen (21.1.2010):

In „Verfall und Wiederaufbau der Kultur“ (München, 1960, S. 25) schreibt Albert Schweitzer bereits 1923 harte Worte: „Zeitschriften und Zeitungen haben sich in steigendem Maße in die Tatsache zu finden, daß sie alles nur in der leichtestfaßlichen Form an den Leser heranbringen dürfen. […] Einmal mit dem Geiste der Oberflächlichkeit erfüllt, üben diese Organe, die das geistige Leben unterhalten sollten, ihrerseits eine Rückwirkung auf die Gesellschaft aus, die sie in diesen Zustand brachte, und drängen ihr die Geistlosigkeit auf.“ Und in „Aus meinem Leben und Denken“ (=LD, Siebenstern-TB, München und Hamburg, 1965, S. 183) lesen wir bei ihm: „Wie durch die Lichtreklamen, die in den Straßen der Großstadt aufflammen, eine Gesellschaft, die kapitalkräftig genug ist, um sich durchzusetzen, auf Schritt und Tritt Zwang auf ihn [den heutigen Menschen]  ausübt, daß er sich für ihre Schuhwichse oder ihre Suppenwürfel entscheide, so werden ihm fort und fort Überzeugungen aufgedrängt.“

Bei Schweitzer sehe ich eine gewisse Gefahr, dass er selbst zu einem Artikel wird, der auf die von ihm kritisierte Weise an den Mann oder die Frau gebracht, „verkauft“ werden soll, und dies möglichst in „leichtestfaßlicher Form“, vermeintlich um auch z.B. „die Jugend“ anzusprechen (was „Jugend“ anspricht, ist immer eine Antwort auf den Anspruch, den man an sie heranträgt!). So wird Schweitzer selbst zum „Markenartikel“ gemacht, oder schlimmer noch: nur zum Etikett, das für die hohe Qualität der jeweiligen Sache, der es aufgeklebt wird, bürgen soll (so schon in der Vergangenheit vom Wahlplakat bis zum Senfglas, so bei seiner Vereinnahmung durch gegensätzliche politische oder weltanschauliche Lager usw.).

Fast überall spüre ich die Tendenz, dass Medienpräsenz und -wirksamkeit ein höherer Stellenwert zugedacht wird als Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Dies nimmt man in Kauf für das Ziel: Hauptsache, man spricht (wieder) darüber! So ist es dann nicht mehr ganz so wichtig, ob Handlung und Inhalt eines Spielfilms frei erfunden oder glaubwürdig biographisch orientiert sind. Oder ob sogar als „wissenschaftlich“ angekündigte Publikationen es mit Deutungen und selbst Fakten nicht so genau nehmen – egal, Hauptsache, sie lesen sich gut und werden gelesen. Dies alles sei dem veränderten Zeitgeist geschuldet, argumentiert man.

Da stellt sich allerdings die Frage, wie weit hier Methode und Ziel inhaltlich in Widerspruch geraten (ähnlich wie bei dem ambivalenten Slogan „Mit Waffen Frieden schaffen“). Schweitzer, ein Eiferer für Wahrheit und Wahrhaftigkeit, stand zeitlebens im Widerspruch zum Zeitgeist („Mit dem Geist der Zeit befinde ich mich in vollständigem Widerspruch, weil er von Mißachtung des Denkens erfüllt ist.“ – LD, S. 181). Gerade auch in seiner Bach-Interpretation lag er quer zum Üblichen, Gängigen, was in keiner einzigen der neuen Publikationen überhaupt erfasst, geschweige denn angemessen gewürdigt wird (siehe dazu meine Arbeit „Der Bach-Interpret und Orgelfachmann AS“). Gerade in diesem Widerstehen gegen Moden und Zeitströmungen (indem er authentisch, einfach er selbst blieb) kann er heute Vorbild sein in einer Zeit, die wieder zunehmend stromlinienförmige Angepasstheit fordert und fördert. Schweitzer (LD, S. 185): „Wahrhaftigkeit ist das Fundament allen geistigen Lebens“, so wie Liebe als „Ehrfurcht vor dem Leben“ Basis allen zwischenkreatürlichen Lebens ist. „Handeln im Geiste von…“ (so bei Jesus, Bach, Silbermann im Orgelbau usw.) ist bei ihm ein zentraler Begriff, was bei ihm gerade nicht Kopieren und Nachbeten bedeutet (siehe dazu meine Artikel „Im Geiste Silbermanns“ und den „Exkurs“ in „Geistesgegenwart“).

Schweitzer war selbst nicht ungeschickt in PR-Sachen, doch wo dem allmächtigen, allgegenwärtigen medialen Zeitgeist wichtige Inhalte geopfert werden sollen und durch die Methode der Vermittlung auf der Strecke bleiben, da sehe ich die Gefahr der Überschreitung einer Grenze, an der der Geist Albert Schweitzers verlassen wird – und dies paradoxerweise mit seiner Flagge in der Hand und seinem Etikett auf dem Gepäck, das man erleichtern zu müssen glaubte.

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