Orgelstudienfahrt nach Paris

11. bis 14. Oktober 1980
(erschienen in „Dienst der Kirche“ 4/1980)
„Wenn es wahr ist, daß wir im Zeichen des Verkehrs stehen, so muß doch auch zugestanden werden, daß er nicht allen Gebieten der Kunst in gleicher Weise zugute gekommen ist. Daß die künstlerischen Grenzwälle trotz der Zeichen des Verkehrs existieren, mehr als man meinen sollte, wird mir jedes Mal klar, wenn ich mit einem französischen Organisten von deutschen Orgeln und deutscher Orgelkunst, mit einem deutschen von französischen Orgeln und französischer Orgelkunst rede.“

So leitete Albert Schweitzer 1906 seine Schrift „Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst“ ein, mit der er den Dialog zwischen den beiden Orgelwelten anregen wollte. Heute, fast am Ende des Jahrhunderts angelangt, stehen wir noch immer mitten in diesem Dialog, der noch lange nicht zu Ende geführt ist. Allerdings: Das gegenseitige Interesse ist heute größer denn je. Die Internationale Orgeltagung der GdO 1977 in Paris war überlaufen.

In St. Joseph in Bonn-Beuel ist derzeit eine neue Orgel in der Planung, die im Mai/Juni 1981 durch eine Reihe von Konzerten mit Pariser Organisten der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll. Das dreimanualige Werk wird nach Grundsätzen Cavaillé-Coll’s disponiert.

Kein Wunder, daß der Organist an St. Joseph in Bonn-Beuel und Organiste honoraire de St. Joseph à Paris, Hans Peter Reiners, eine Orgelstudienreise nach Paris vom 11. bis 14. Oktober 1980 organisierte, die auf lebhaftestes Interesse stieß.
Die Organisation möchte ich vorbildlich nennen. Jeder Teilnehmer erhielt rechtzeitig zum Studium die Schrift „Orgeln in Paris“ von Hermann. J. Busch, den Sonderdruck aus ISO-Information „Die französische Orgel“ von Georges Lhôte sowie einen Stadtplan von Paris, in dem die zu besichtigenden Kirchen verzeichnet waren. Während der Busfahrt bekam noch zusätzlich jeder Teilnehmer die Schrift „Überlegungen zur Restaurierung von Cavaillé-Coll-Orgeln“ von Daniel Roth, Organist an Sacré-Coeur, übersetzt von Brigitte Strüder, die auch während der Studienreise als ausgezeichnete Dolmetscherin mit Orgelfachkenntnissen zur Verfügung stand. Drei weitere Artikel zum Thema der Reise wurden im Bus herumgereicht. Ein detailliertes Programmheft und eine Teilnehmerliste ergänzten den guten Informationsservice. Auch die Unterkunft im Hotel Ajiel war angenehm.

Gleich nach der Ankunft erwartete uns die Orgelvorführung in St. Augustin, die wegen Erkrankung von Hausorganistin Suzanne Chaisemartin von der Studentin Kimberley Marshall vorgenommen wurde, was wir nicht zu bedauern brauchten (ein Talent, von dem die Musikwelt noch hören wird). Besonders bemerkenswert die Schönheit der überblasenden Flöten in Widors Andante sostenuto aus der Symphonie Gothique und die Klarheit in einem Trio über „Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr“ von J. S. Bach. Hier zeigten sich bereits zwei Dinge, die wir dann in den folgenden Tagen voll bestätigt fanden:

 

  1. Der romantische französische Orgelbau integrierte sehr stark Elemente des klassischen französischen Orgelbaus und bedeutet keinen Bruch mit der Tradition, sondern ist deren erweiterte Fortführung.
  2. Den legendären Überhall der großen französischen Kirchenräume suchten wir vergebens. Selbst in den größten Räumen waren wir überrascht von der Klarheit, mit der die Klänge den Hörer erreichten. Eine Tatsache, die für die hohe Mensurations- und Intonationskunst der französischen Orgelbauer spricht. Das (leider wenig befriedigende) Orgelkonzert von Ulrich Stuers (Krefeld) in Notre Dame hörten wir allerdings auf den für den Publikumsverkehr sonst nicht zugänglichen Seitenemporen und bei vollbesetzter Kirche (ca. 5000 Hörer!).

Noch am Ankunftstag spielte Altmeister Jean Langlais für uns César Francks Fantasie in A-dur und eine eigene Improvisation. Trotz zweier Umbauten ist die Schönheit des Instrumentes von Cavaillé-Coll in St. Clotilde immer noch überwältigend.

Der Anreisetag wurde abgeschlossen von einem Orgelkonzert in Notre-Dame-de-Lorette, das Denise Launay, die frühere Hausorganistin dieser Kirche, für uns gab. Hier hörten wir die erste von Aristide Cavaillé-Coll noch ganz im klassischen Stil erbaute Orgel (leider auch durch zahlreiche Umbauten verändert). Das Programm des Orgelvortrags erhielt dementsprechend hauptsächlich Werke älterer französischer Meister.

Nach einer Stadtrundfahrt erlebten wir am Sonntagmorgen eine Messe in St. Sulpice und anschließend ein Orgelkonzert mit Werken von Widor, Dupré, Grunenwald, also alles Werke von St.-Sulpice-Organisten, gespielt vom derzeitigen Stelleninhaber, Maitre Jean-Jacques Grunenwald.

Die Orgel von St. Ignace, dieser so ganz hinter einer Kaufhäuserfassade versteckten Kirche, führte ein Mitglied unserer Reisegruppe vor: Michael Veltman, der gerade erst das Abitur hinter sich hat, bewies dabei ein so überdurchschnittliches Talent, daß es eigener Erwähnung verdient. Das Instrument ist eine gelungene Verbindung eines Cavaillé-Coll-Werkes mit einem neuen, mehr barock ausgerichteten, aber auf das Gesamtwerk hin mensurierten und intonierten Rückpositivs der Firma Haerpfer-Erman (Baulay/Lothringen).
Diejenigen, die den Weg zu dem schon erwähnten Orgelkonzert in Notre-Dame zu Fuß zurücklegten, konnten noch einen Blick in die Kirchen St. Germain-des-Prés und St. Severin werfen.

Hatten wir morgens Paris „zu Lande“ besichtigt, so bot der Sonntagabend Gelegenheit, auf dem zugigen Oberdeck eines Seine-Bootes Paris vom Wasser aus kennen zu lernen.

Die Orgelführung in St. Louis-des-Invalides, die ich mit Franck, Boëllmann und Bach vorzunehmen gedachte, mußte wegen eines Requiems für den gerade verstorbenen Minister und Schriftsteller Alexandre San Ginetti entfallen. Die Orgeln in St. Joseph und Notre-Dame-de-la-Croix stellte uns Michel Estellet-Brun mit Improvisationen vor. In St. Joseph war besonders schön zu hören, wie man auf einer französischen Orgel ohne Registranten bruchlos vom Piano zum Fortissimo und zurück gelangt: in die gekoppelte Grundstimmenklangmasse der drei Klaviere werden bei geschlossenem Schwellkasten Zungen und Mixturen des Schwellwerkes mittels eines Fußtrittes unmerklich eingeführt, der Schwellkasten wird langsam geöffnet, dann folgen Zungen und Mixturen des Positivs, zuletzt die des Hauptwerkes (alles mittels der sogenannten Appels).

In Notre-Dame-de-la-Croix erregte zunächst die Chororgel von Cavaillé-Coll unser Staunen: das Werk vermochte mit nur 10 Registern das riesige, fast 100 Meter lange Kirchenschiff zu füllen (allerdings mit einem Winddruck von 140 mm WS, dabei aber kein harter oder „brüllender“ Klang!). Die Hauptorgel – eine der wenigen unverändert erhaltenen Cavaillé-Coll-Orgeln, aber ein Stiefkind der Pariser Orgelpflege – fanden wir im Verfallzustand vor. Eine spontane Sammlung erbrachte ca. DM 1500,-. Während wir anschließend auf unseren Empfang im Pariser Rathaus warteten, gründeten wir einen „Freundeskreis der Cavaillé-Coll-Orgel von Notre-Dame-de-la-Croix“ mit dem Ziel, die Hälfte der Restaurierungskosten aufzubringen, damit die Stadt Paris die andere Hälfte dazu gibt. Noch einmal hörten wir Michel Estellet-Brun: mit einem leider durch den Zustand der Orgel beeinträchtigten Orgelkonzert auf der Cavaillé-Coll-Orgel der Abtei Royaumont außerhalb von Paris.

Der Abreisetag enthielt zwei Orgelvorführungen. Jean Ver Hasselt spielte in St. Gervais die Messe des Paroisses von Francois Couperin auf der Orgel, für die dieses Werk einst geschrieben wurde und die heute noch fast vollständig erhalten ist. Die Cavaillé-Coll-Orgel in St.-Bernard-de-la-Chapelle wurde von Jesse Eschbach mit Werken von Franck und Vierne vorgeführt – angesichts des auch nicht gerade erfreulichen Zustandes des Instrumentes, das zudem keine Barkermaschine besitzt, eine bravouröse Leistung.

Was sich auf dem Papier nicht wiedergeben läßt, war das Erlebnis der durchaus unverwechselbaren Atmosphäre der Pariser Orgelwelt, das Erlebnis der majestätischen Würde, Feierlichkeit und Wärme des Klanges der französischen Orgel. Hans Peter Reiners zitierte in einem Anschreiben an die Teilnehmer der Fahrt das Wort Walter Suppers: „Wer alles mitmacht, ist selber schuld.“ Es muß nachträglich aber gesagt werden: „Wer nicht alles mitmachte, war auch selber schuld!“ Und wer in Paris nicht unbedingt ausschlafen wollte, fand spät abends noch Zeit, nach so vielen Kirchenbesuchen ein wenig Profan-Atmosphäre zu schnuppern. Wen wundert es, daß die zweite von Hans Peter Reiners geplante Orgelstudienreise nach Paris vom 26.2. bis 3.3.1981 (über Faschingssonntag!) bereits jetzt ausgebucht ist?!

Rainer Noll

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