(erschienen in „Forum Kirchenmusik“ 03/2010)
„Erste und letzte Forderung bleiben Klarheit und Plastik“:
Nochmals „Wider den eiligen Geist“ und für „Slow-Food statt Formel 1“
Die beiden Artikel von Armin Schoof („Wider den eiligen Geist“, Forum Kirchenmusik, 3/2009, S. 15 ff) und von Herfried Mencke („Slow-Food statt Formel I…“, Forum Kirchenmusik, 6/2009, S. 20 ff) veranlassen mich, zu diesem Thema, mit dem ich mich (auch mit anderen) schon ein Leben lang auseinandersetze, ebenfalls einiges beizutragen. Um es gleich zu sagen: zustimmend und vor allem ergänzend.
Die Klage über falsche (überwiegend zu schnelle) Tempi in der Musik ist fast so alt wie die Klage über die Verderbtheit der Jugend. Tadel und Warnungen finden sich von dem bei Schoof erwähnten Schütz über C. Ph. Emanuel Bach, Quantz, Mozart, Beethoven, Schumann, Reger (diesen siehe auch Schoof) bis in die heutige Zeit (um nur einige namentlich anzuführen). Auch das Tempo folgt interpretatorischen „Moden“, das Pendel schlägt auch hier nach beiden Seiten aus.
Den bei Mencke genannten Zeitzeugen zu Mendelssohns schnellen Tempi möchte ich als weiteren Zeugen Richard Wagner hinzufügen: „Persönlich äußerte er [Mendelssohn] mir einige Male im Betreff des Dirigierens, daß das zu langsame Tempo am meisten schade und er dagegen empfehle, etwas lieber zu schnell zu nehmen; ein wahrhaft guter Vortrag sei doch zu jeder Zeit etwas Seltenes; man könne aber darüber täuschen, wenn man nur mache, daß nicht viel davon bemerkt werde, und dies geschehe am besten dadurch, daß man sich nicht lange dabei aufhalte, sondern rasch darüber hinwegginge.“1)„Über das Dirigieren“, geschrieben 1869, Insel-Bücherei Nr. 109, Leipzig, o. J., S. 22 f Wagner spricht von der Mendelssohnschen „Maxime des flotten Darüberhinweggehens“, die von den nachfolgenden Dirigenten zu „einem wirklichen Dogma“ erhoben worden sei.2)a. a. O., S. 33
Dort finden wir auch schon Schoofs Rat „Wer ein Instrument spielt, entferne sich nicht allzu sehr vom vokalen Impuls“ vorweggenommen in der Feststellung, „daß unsere Dirigenten vom richtigen Tempo aus dem Grunde nichts wissen, weil sie nichts vom Gesange verstehen“3)a. a. O., S. 19 Und ebenda in diesem Sinne: „Nur die richtige Erfassung des Melos gibt aber auch das richtige Zeitmaß an.“
Bemerkenswert finde ich die Erwähnung Albert Schweitzers bei Armin Schoof (S. 16). Gerade momentan erlebt Schweitzer einen erneuten Boom in allen Medien4)Auch eine neue Ausgabe seiner Orgelaufnahmen mit Begleitbuch (Hrsg. Dr. Wolf Kalipp) soll bei Schott 2010 erscheinen., und so will ich diesem Hinweis nachgehen. Schoof spricht hier den Dokumentarfilm „Albert Schweitzer“ an5)1957, Texte von ihm selbst verfasst und gesprochen,http://video.google.com/videoplay?docid=933526863039676302. Gegen Ende spielt Schweitzer darin das Präludium D-dur BWV 532 von Joh. Seb. Bach (schlecht synchronisiert), das er in Günsbach/Elsass 1952 mit weiteren Werken von Bach, Mendelssohn und Widor für Columbia eingespielt hatte (im 78. Lebensjahr!). Dieses als „virtuos“ geltende Werk interpretiert Schweitzer laut Schoof „langsam, würdevoll und gravitätisch“ (ein Wesensmerkmal seiner Spielweise!), und Schoof fragt sich, wieso die Wirkung für ihn dennoch so „beredt“ und „geradezu faszinierend“ sein konnte. Mir selbst erging es ähnlich, als ich das D-dur-Präludium von Schweitzer gespielt hörte, und genau deshalb studierte ich eigenmächtig gegen den Willen meines Lehrers bereits mit 13 Jahren dieses Präludium als mein erstes großes Bachwerk.
Dagegen wurde Schweitzers Spiel in den letzten Jahrzehnten in allen Fachkreisen, mit denen ich in Berührung kam, als dilettantisch beurteilt und oft mitleidig wegen des langsamen Tempos belächelt. Bereits 1954 war anlässlich des letzten öffentlichen Konzertes von Schweitzer, das er – wie immer, wenn er in Europa war – in der Thomaskirche in Straßburg zu Bachs Todestag gab, in den „Dernières Nouvelles d’Alsace“ (30. Juli 1954) zu lesen: „Albert Schweitzers Orgelspiel ist (…), mit den neuesten Bestrebungen des Orgelspiels und Orgelbaus verglichen, inaktuell.“ Ins Positive gewendet heißt es aber dort weiter: „Man denkt an André Gides Feststellung, daß das Denken nur so weit Gültigkeit bewahrt, als es inaktuell ist …“
Als ich jenes D-dur-Präludium von Schweitzers Schallplatte 1971 vor Mitstudenten in einem Raum der Hamburger Musikhochschule abspielte, öffnete sich plötzlich kurz die Tür, und der Hymnologe Prof. Dr. Otto Brodde, der auf dem Flur die Musik gehört hatte und alles andere als ein „Virtuose“ war6)Brodde: „Für die F-dur-Toccata müsste man mich ein halbes Jahr beurlauben.“ Er war neben seiner Hochschultätigkeit mit Hingabe nebenamtlicher Organist und Kantor an den Alsterdorfer Anstalten in Hamburg., rief höhnisch grinsend herein: „So kann selbst ich das noch spielen!“
Schon in der Hochschule spottete ein Professor, dem mein durch Schweitzer inspiriertes Spiel zu „würdig“ statt wie erwartet „fetzig“ war: „Diese Interpretation überlassen Sie besser den Betschwestern am Harmonium!“ Es hat mich wenig beeindruckt.
Stellvertretend für viele soll die Äußerung eines prominenten Orgelvirtuosen von internationalem Ruf stehen, der Schweitzer noch persönlich begegnet war, dieser habe den Bach ja nur deshalb so langsam gespielt, weil er ihn nicht schneller spielen konnte, und er sei ein großer Dilettant ohne jede Technik gewesen, dem lediglich das Wort zu Gebote stand. Dies wird dem Organisten Schweitzer bei aller möglichen Kritik sicher nicht gerecht.
Mag das ruhige Tempo auch manchmal technisch bedingt sein: Schweitzer vermag es immer zu erfüllen und den Fluss und die Spannung zu wahren (wenn es sich auch nicht um dramatische Hochspannung handelt: „Man suche die Belebtheit der Werke des Altmeisters [Bach] nicht durch das Kleinlich-Temperamentvolle, auf das die Menschen des Zeitalters der Unruhe verfallen, zur Geltung zu bringen. Das Temperament, das Bach voraussetzt, ist etwas Schlichteres und Größeres.“7)Albert Schweitzer – „Vorworte zu den ,Sämtlichen Orgelwerken‘ J. S. Bachs“, Hildesheim, 1995, S. [6]). Sein Ziel ist, „lebendige Bewegung, Ruhe und Erhabenheit in eins“ zu vereinigen8)a. a. O.. Immer ist sein Spiel auch Meditation und Kontemplation, er versteht Bach als „einen der größten Mystiker, die je unter Menschen aufgestanden sind“9)„Einführung in das Schaffen Bachs (1929)“, in „A. Schweitzer – Aufsätze zur Musik“, Kassel, 1988, S. 95. Nervenkitzel und Sensation sind bei ihm nicht zu finden. Im Nachtrag zu einer Konzertkritik über Schweitzer heißt es am 7. Juli 1932 in einer Heidelberger Zeitung: „Er reißt die Menschen nicht fort, weiß Gott, wohin man überall in gewissen Solistenkonzerten ,gerissen‘ werden soll, – er erhebt sie ,nur‘. Er verblüfft auch nicht; mancher kommt da mit riesengroßen Erwartungen hineingelaufen, – er soll ja der größte Orgelspieler der Welt sein. Und nun will er sie beten lernen [sic], statt ihnen ihre Sensation zu geben.“ Schweitzer nimmt sich immer die Zeit, „ausdrückend“, „sprechend“, „deklamierend“, eben „beredt“ zu spielen, dabei nie jene häufig anzutreffende motorisch auf den Hörer niederprasselnde musikalische Geschwätzigkeit!
Schweitzer zitiert am 21. 10. 1908 im Hause der katalanischen Musik in Barcelona zustimmend einen Freund: „Wer Bach spielen kann, der darf es langsam tun; wer ihn nicht spielen kann, der muß es schnell tun, sonst wird er leicht langweilig.“10)„Von Bachs Persönlichkeit und Kunst (1908)“, in „A. Schweitzer – Aufsätze zur Musik“, Kassel, 1988, S. 31 Schon Mozart schrieb: „übrigens ist es auch viell leichter eine sache geschwind, als langsam zu spielln.“11)Brief an seinen Vater vom 17.1.1778, zitiert nach Grete Wehmeyer, „prestißißimo“, Hamburg, 1989, S. 32 Um die Schwierigkeiten eines langsamen Tempos weiß auch Herbert Briefs: „Hier beginnt (…) die Spreu vom Weizen sich zu trennen: Welcher Spieler ist ehrlich genug, sich zuzutrauen, auch bei einem durch die Hörsamkeit erzwungenen langsameren Spiel die innere Lebendigkeit und die Steigerung bis zum Schluß zu halten?“12)H. Briefs, „Die Orgelschallplatte als Orgelporträt“, Ars Organi, Heft 60, Sept. 1979, S. 562. Die Zusammenfassung der Ergebnisse eines Kolloquiums über Bach-Interpretation in Brandenburg/Havel (27.-29. 8. 1978) in „Der Kirchenmusiker“ (6/78) sei wieder ins Gedächtnis gerufen: „Das Tempo muß bei der Wiedergabe der Orgelwerke im allgemeinen zurückgenommen werden, weil viele der musikalischen und rhetorischen Figuren sonst am Hörer ,vorbeirauschen‘ (…).“
Der über alle Zweifel an seinem Virtuosentum erhabene Fernando Germani, an dessen Orgelklasse ich 1967 in Siena teilnahm, warnte, sich an Bach zu vergreifen, wenn man „virtuos“ spielen wolle, dafür gäbe es geeignetere Literatur, z. B. bei den Franzosen.
Und wieder zu Schweitzer: „Wenn so viele Organisten sich im Zeitmaß vergreifen und das Hasten und die Unruhe nicht aus ihrem Spiel bannen können, liegt die Schuld nicht so sehr an mangelnder künstlerischer Einsicht, sondern daran, dass sie es nicht zur tiefen inneren Sammlung gebracht haben und in der Welt der Erhabenheit, der die Fugen und Praeludien angehören, Fremdlinge geblieben sind.“13)wie Fußnote 7
Hierbei kann sich Schweitzer auf den ersten Bach-Biographen Johann Nikolaus Forkel berufen, der noch direkte Informationen durch die Bach-Söhne C. Ph. Emanuel und Wilhelm Friedemann hatte: Bachs Orgelwerke seien „voll von Andacht, Feyerlichkeit und Würde“, im Gegensatz zu den Klavierwerken sollen sie „groß und feyerlich“ klingen14)Joh. N. Forkel, „Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke“, Leipzig, 1802, S. 41. Forkels viel zitierter Satz „Bei der Ausführung seiner eigenen Stücke nahm er [Bach] das Tempo gewöhnlich sehr lebhaft.“15)a. a. O., S. 40 wird fehlinterpretiert, dehnt man ihn auf alle Werke aus. Ausdrücklich bezieht Forkel ihn nur auf die Klavierwerke und fordert im überlieferten Geiste Bachs einen unterschiedlichen „Styl und Behandlungsart beyder Instrumente“: „Der große Ton der Orgel ist seiner Natur nach nicht dazu geeignet, in geschwinden Sätzen gebraucht zu werden; er erfordert Zeit, in dem weiten und freyen Raum einer Kirche verhallen zu können. Läßt man ihm diese Zeit nicht, so verwirren sich die Töne, und das Orgelspiel wird undeutlich und unverständlich. (…) höchstens kann beym Gebrauch einzelner Register, etwa in einem Trio etc. eine Ausnahme von dieser Regel gemacht werden.“16)a. a. O., S. 42
Wieder geht hierin Schweitzer mit Forkel zusammen und empfiehlt darüber hinaus: „Man macht sich nicht klar, wie bedeutend die Verlangsamung ist, die durch das Kirchenschiff und seine sonore aber träge Akustik bedingt wird, und überlegt nicht, dass es weniger auf das wirkliche Tempo als auf den Eindruck, den es unter den obwaltenden Umständen bei dem Hörer hervorruft, ankommt. Kein Organist sollte versäumen, sich von Zeit zu Zeit Praeludien und Fugen, die in einem vorher metronomisch festgelegten Tempo gespielt werden, von unten anzuhören. Er wird über das Relative des Zeitmaßes erstaunt sein und davon abkommen, es allein danach zu wählen, wie es ihm an der Orgelbank richtig erscheint. Die Kontrolle vom Kirchenraum aus ist für die Wahl des Tempos unerlässlich.“17)wie Fußnote 7, S. [5]
So hat es Schweitzer stets bei seinen Orgelkonzerten gemacht, und so halte ich es auch aus Überzeugung – oft zum Ärger meiner gastgebenden Organisten, da ich ein Vielfaches der Zeit zum Einregistrieren eines Programmes brauche, verglichen mit manchen Kollegen, die kurz vor dem Konzert im Eiltempo einregistrieren, wenn sie dies nicht gar schon vorher anhand der Disposition rein den Registernamen nach getan haben (manchmal legt man mir dies sogar als Unfähigkeit aus, ebenso „fix“ zu sein wie andere!).
Bei der von Schoof als „Lautsprecherkultur“ bezeichneten Praxis spielen diese Aspekte allerdings weniger eine Rolle, und ich möchte ergänzen: noch weniger bei unserer „Mikrophonkultur“18)Bei einer Rundfunkaufnahme forderte ein Tonmeister von mir, eine Sängerin mit einem viel zu groben und lauten Principal zu begleiten; er erklärte: „Das machen wir dann schon hinterher.“ Dass dann in der Aufnahme zwar die Lautstärke, aber immer noch nicht die Klangfarbe stimmte, spielte keine Rolle..
Als ein Hauptziel betreffs der Tempowahl wird in allen Quellen die Deutlichkeit benannt. Auch dazu Schweitzer: „Erste und letzte Forderung bleiben Klarheit und Plastik. Kein Detail soll verwischt werden, nichts darf zu Boden fallen. Wird der Hörer in stand gesetzt, alle Noten wirklich aufzunehmen, so hat er den Eindruck des richtigen Zeitmaßes.“19)wie Fußnote 17
Fast autistisch mutet es an, wie manche Organisten in Kirchen mit großer Akustik sich über Raum und Zeit hinwegsetzen, nur auf ihr inneres Ohr hörend und ohne Rücksicht, wie die Klänge beim Hörer ankommen!
In einer süddeutschen Konzertkritik der letzten Jahre las ich: „Eigentlich gehört dieser Bericht in den Sportteil der Zeitung. (…) Derart mit Vollgas (…) ist kaum je ein Organist durch die F-Dur-Toccata gebrettert. (…) War da was? Bach bei der Formel 1! Nur ein sofortiges Fahrverbot hätte wirksam geholfen. (…) Vom Auditorium wurde die Präsentation mit Szenenapplaus belohnt. Sind die noch zu retten?“
Das Publikum applaudiert in der Regel am meisten nach dem „lautesten und schnellsten Stück“, wie Herfried Mencke richtig schreibt (S. 23). Und das verführt – auch, dass die Orgel wie kaum ein anderes Instrument nun mal auch eine „Maschine“ ist und deshalb leider als solche gehandhabt werden kann.
Das Problem ist, dass der Unterschied zwischen Kunst und Artistik immer undeutlicher wahrgenommen wird, sowohl beim Publikum als auch bei den Kritikern, ja selbst den Interpreten. Schnell = gut, schneller = besser – wie im Sport. Dazu kommt noch der größte Irrtum, „schnell“ mit „kraft- und spannungsvoll“ zu verwechseln. In der Musik ist es wie in der Physik: Spannung entsteht nur durch Kraft und Gegenkraft. Fehlt die Gegenkraft, dieser „gefühlte“ Widerstand, der innerlich selbst im schnellsten Tempo noch überwunden werden muss und „Gefasstheit“ bewirkt, so wird das Musizieren völlig eindimensional wie ein Vektor, der nur eine Richtung kennt: nach vorne. Dabei sollte die Musik doch mehrdimensionale Räume eröffnen, die in den seltenen Sternstunden schließlich an Transzendenz rühren.
Für Schweitzer waren Orgel und Orgelklang die großen seelischen Erzieher zur „Ewigkeitsgesinnung“20)so im Brief zur Orgeltagung in Freiburg/Brsg. 1926, zitiert nach Joseph Müller-Blattau, „A. Schweitzers Weg zur Bach-Orgel und zu einer neuen Bach-Auffassung“ in „A. Schweitzer – Sein Denken und sein Weg“, Tübingen 1962, S. 255, und er berichtet von Widor: „,Orgelspielen‘, sagte mir Widor einmal auf der Orgelbank zu Notre-Dame, als die Strahlen der untergehenden Sonne in verklärter Ruhe das dämmerige Schiff durchzogen, ,heißt einen mit dem Schauen der Ewigkeit erfüllten Willen manifestieren. Aller Orgelunterricht, der technische und der künstlerische, geht nur darauf aus, einen Menschen zu dieser höheren reinen Willensmanifestation zu erziehen.(…) Wer den großen konzentrierten Willen nicht in ein Bachsches Fugenthema hineinlegen kann (…): wer über diesen konzentrierten, mitteilungskräftigen, ruhigen Willen nicht verfügt, kann zwar dennoch ein großer Künstler sein, ist aber kein geborener Organist. Er hat sich eben im Instrument geirrt (…).‘ „21)A. Schweitzer, „Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst“, Leipzig 1906, S. 38
Dass Größe, Ruhe und Würde des Ausdrucks nicht allein von der Spielgeschwindigkeit abhängig sind, bezeugt beeindruckend Hans Klotz, der selbst durch Vermittlung Schweitzers 1933 Schüler von Widor wurde. Er weist auf den Unterschied zwischen calme und tranquille im Französischen hin: tranquille ist der Unerregbare, calme ist der, der trotz der Erregung die Ruhe wahrt, so Widor. „Das oft überraschend schnelle Zeitmaß, das er in gewissen Sätzen seiner Symphonien verlangte, löste sich unter seinen Händen völlig in die von ihm gepflegte Ruhe und Größe auf.“ – nicht durch langsameres Tempo, wie Prof. Klotz mir versicherte! – „Heute, nachdem ich C. G. Jung gelesen habe, kann ich in dessen Sprache formulieren: Widors Spiel war geradezu numinos, es strahlte Ewigkeit aus und machte diese zur Gegenwart.“22)Hans Klotz, „Erinnerungen an Charles-Marie Widor“ in Ars Organi, Heft 51, Okt. 1976.
Und gerade dieser in seinen Werken als „virtuos“ erscheinende Widor wehrt sich dagegen, als „Virtuose“ zu gelten, wie wieder Schweitzer überliefert: „Gibt es denn noch etwas, das höher ist als ein ,guter Organist‘ sein, ein solcher, der sich bewußt ist, nicht seinen Ruhm zu suchen, sondern hinter der Objektivität des heiligen Instrumentes zu verschwinden und es allein reden zu lassen, als redete es von sich selber, ad majorem Dei gloriam? ,Denken Sie sich‘, sagte mir einmal Widor, ,man hat mich beleidigt. Man hat mich in einer Zeitschrift einen Orgelvirtuosen genannt. Ich bin aber ein ehrlicher Organist. Ein Orgelvirtuose ist nur der Wildling des Organisten.'“23)wie Fußnote 21, S. 16 .
Was kann nun am Orgelspiel des Widor-Schülers Schweitzer faszinieren? Die Geschlossenheit, Größe, Ruhe, Schlichtheit und vor allem die Beseeltheit, Wärme, tiefe Innerlichkeit und Abgeklärtheit seines Spiels, kurz das für ihn Authentische. Helmut Walcha war bei einer Begegnung mit Schweitzer tief beeindruckt von dessen Warmherzigkeit, hielt ihn aber keineswegs für einen vorbildlichen Interpreten. Dennoch äußerte er in einem Rundfunkinterview in den 60ger Jahren, durch sein Spiel sei ihm aufgegangen: so einfach kann Bach also klingen, und es bleibt immer noch derselbe Bach!
Von Anfang an erfasste ich, dass mir bei Schweitzer keine Artistennummern wie in einem Zirkus vorgesetzt wurden, hier ging es nicht um eine Zurschaustellung technischen Könnens. Wenn Schweitzer spielte, übertrug sich unmittelbar das Bewusstsein, hier spielt jemand, der es nicht nötig hat, hinter der Darstellung eines Werkes verborgen seiner Eitelkeit zu frönen. Er stand „denkbar hoch über allem Virtuos-Egozentrischen“, wie es in einer Zeitungsrezension anlässlich eines Konzertes in der Tübinger Stiftskirche am 3. Februar 1929 heißt. Da er einfach „jemand war“, hatte er es nicht nötig, sich als Virtuose bewundern zu lassen, sich zu beweisen oder gar zu rechtfertigen durch die Musik. Zwar höchst präsent in seinem Spiel, suchte er doch nicht sich selbst. Ohne alle Allüren, ohne den Zwang, jemandem um der Anerkennung willen musikalisch nach dem Munde reden zu müssen, konnte er den Menschen in der Musik geben, was er zu geben hatte. Er erlag nicht der Verlockung, die oberflächlichen Erwartungen der sensationslüsternen Menge zu erfüllen, um sich bestaunen zu lassen. Im tiefsten Sinn des Wortes war dadurch gerade Schweitzer aber doch ein „Virtuose“ (vom lat. virtus = Tugend), der die Tugend besaß, den äußerlichen Versuchungen zu widerstehen: Will (und soll!) der Hörer nur verblüfft (Bluff!) werden statt erhoben (Gegensatz: unter-halten), so wird ihm statt eines Blickes in den Himmel nur der in eine Zirkusmanege geboten (wem’s genügt!). Schweitzer aber wollte die Menschen anrühren und berühren und damit gegen die Zerstreuung durch den Geist der Zeit zur Verinnerlichung führen.
Ich habe Organisten erlebt, die, im Gegensatz zu Schweitzer, Bach in der Öffentlichkeit nicht so langsam zu spielen wagten, wie sie ihn empfanden. Andere weigern sich, in langsamen Stücken expressiv zu trillern und tun dies auch dort unangemessen „virtuos“ – alles aus Angst, bei Kollegen als „Dilettanten“ zu gelten!
Ganz besonders im positiven Sinn des Wortes war gerade Schweitzer auch ein Dilettant (vom ital. dilettare = erfreuen, ergötzen), der in seiner Musik Befriedigung, Sammlung, Stärkung und Freude fand und diese vermitteln wollte24)hierin im Bachschen Geiste stehend, für den Musik nur „zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüts“ bzw. „Recreation des Gemüths“ erklingen soll, wie es in seinen Generalbassregeln heißt., während „vermarktete“ Spitzenvirtuosen vielleicht manchmal nur noch in der Anerkennung ihrer immer höher geschraubten (meist maschinell perfektionierten) Leistung eine Art von Entschädigung finden. Sie haben die Stücke in der Tasche, nicht im Herzen, wie Arthur Rubinstein einmal sagte.
Sicher ist Schweitzers Interpretation im Konkreten heute überholt. Doch sich diesem aufrechten und zugleich demütigen Geist innerlicher Wahrhaftigkeit zu stellen, ist das eigentliche Problem für den heutigen Orgelvirtuosen, wenn er mit dem Organisten Albert Schweitzer konfrontiert wird, sogar (oder gerade!), wenn er eine hundertmal bessere Technik als Schweitzer hätte. Technik ist heute eine in hohem Maße gegebene conditio sine qua non, die leider allzu oft über künstlerische Unzulänglichkeiten hinwegtäuscht. Die Technik allein macht’s nicht, wie umgekehrt der Geist, der da lebendig macht, sich nur unvollkommen verwirklichen kann, kann er sich keiner soliden Technik bedienen. Ob jemand seine Technik der musikalischen Idee unterordnet und sie ganz in den Dienst der inneren Aussage stellt (Demut!) oder nur eine atemberaubende Akrobatennummer seiner Finger und Füße zum besten gibt, sich dazu der Musik nur als eines Vehikels bedienend, ist eine Frage der Persönlichkeit des Spielers. Hier ist Schweitzer im „Zeitalter der hirnlosen Tastenbeweger, der herzlosen Schnellspieler und der wichtigtuerischen Pseudohistoriker“25)Hemann J. Busch in der Besprechung der Einspielung der Bachschen „Orgelmesse“ durch Armin Schoof. in Ars Organi, Heft 56, Juni 78, S. 375 eine Herausforderung.
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