Johann Sebastian Bach: Leben, Schaffen und Ende in Leipzig

BachVortrag mit Musikbeispielen am 31. Oktober 2000 (Reformationstag) in der Evangelischen Kirche zu Wiesbaden-Nordenstadt von Rainer Noll

Bachdenkmal Leipzig

Bach, Leipzig und die Reformation

Ganz bewusst haben wir den Reformationstag ausgewählt, um im Bach-Jahr 2000 über Johann Sebastian Bach in Leipzig zu sprechen. Dafür gibt es gute Gründe.

Zum einen: „Schule und Kirchenmusik haben die frühe Ausbildung Bachs im christlichen Glauben lutherischer Konfession nachhaltig geprägt. In der deutschen und in der Lateinschule Eisenachs bestimmten neben Gesangbuch und Bibel vor allem der lutherische Katechismus den Unterricht.“ 1)Karl Dienst: „»NB. Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart«: Johann Sebastian Bach als Prediger“ in „Gedenkschrift für Werner Felix“, Berlin 2000, S. 8 Zeitlebens blieb Bach in der späten lutherischen Orthodoxie verankert. Er war in den Schriften Luthers zu Hause und besaß nicht weniger als 21 Folianten mit Werken des Reformators, die er 1733 und 1742 noch erweiterte. Der Theologe und Bach-Forscher Jürgen Christian Mahrenholz (Sohn des berühmten Christhardt Mahrenholz, der in diesem Jahre hundert Jahre alt würde) schreibt in der soeben erschienen Gedenkschrift für Werner Felix (1927 – 1998), den Gründer und Generaldirektor der „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten Johann Sebastian Bach“ in Leipzig, aus der ich eben schon zitierte: „… ohne einen D. Martin Luther wäre ein Johann Sebastian Bach, einer der größten Geister, den unser Volk hervorgebracht hat, undenkbar gewesen.“ 2)J. Chr. Mahrenholz: „Johann Sebastian Bachs Messe h-Moll BWV 232 – Wege zu einer theologischen und anthropologischen Heuristik“ in „Gedenkschrift Werner Felix“, Berlin 2000, S. 35

Zum anderen war Leipzig, die Stadt, in der Bach die längste Zeit seines Lebens verbrachte (27 Jahre), ein Hort des Luthertums. Hier fand 1519 die berühmte theologische Disputation zwischen Martin Luther, Andreas Karlstadt und Johann Eck statt, die mit der zwölfstimmigen Missa de Sanctu Spiritu des damaligen Thomaskantors Georg Rhau in der Thomaskirche eröffnet wurde. Rhau wurde dann wegen seines Wechsels zur lutherischen Religion entlassen und machte als einflussreicher Herausgeber und Verleger lutherischen Musikgutes in Wittenberg Karriere. 1539 trat die Stadt Leipzig schließlich offiziell zum lutherischen Bekenntnis über, und dieses Ereignis wurde am Pfingstsonntag dieses Jahres mit einer Predigt Luthers in der Thomaskirche gefeiert.

Über das Leipzig der Bach-Zeit schreibt der Bach-Forscher Arnold Schering: „Es gab damals in Deutschland keinen Ort, wenn nicht Hamburg, wo das moderne Leben nach allen Richtungen hin glänzender und eindrucksvoller in Erscheinung getreten wäre.“ 3)Schering, „Musikgeschichte Leipzigs von 1723 -1800″, Leipzig 1941, S. 6 Man nannte die um 1700 ca. 30 000 Einwohner zählende Messe- und Universitätsstadt „Klein-Paris“.

Bereits im Dezember 1717 war Bach in Leipzig, um die neue Orgel von Johann Scheibe in der gotischen Paulinerkirche abzunehmen (zugleich Universitätskirche und Aula – 1968 ließ Walter Ulbricht sie sprengen, nachdem sie unbeschadet den 2. Weltkrieg überstanden hatte!). Ihr Orgelprospekt diente als Vorlage bei der Gestaltung der neuen Bach-Orgel in der Thomaskirche, die Gerald Woehl in diesem Jahr erbaut hat.

Die Wahl zum Thomaskantor

Damals war Johann Kuhnau Kantor an St. Thomas. Er starb am 5. Juli 1722. Bis 14. Juli hatten sich schon sechs Bewerber für die Nachfolge gemeldet, darunter Johann Friedrich Fasch aus Zerbst und Georg Philipp Telemann, der in Hamburg Stadtmusikdirektor war. Der Rat der Stadt Leipzig wollte um jeden Preis einen „berühmten Mann“, und Telemann war der berühmteste von allen. Zudem war er den Leipzigern noch gut bekannt aus seiner Zeit als Jura-Student von 1701 – 1705. Er hatte hier das studentische Collegium Musicum gegründet, das später Bach ab 1729 für zehn Jahre leiten sollte, und er wurde 1704 zum Organisten und Musikdirektor der Neukirche ernannt. Und ganz Leipzig wusste, dass die meisten so erfolgreichen Opern, die im von 1693 bis 1720 bestehenden Opernhause auf dem Brühl aufgeführt worden waren, aus seiner Feder stammten. Am 9. und 10. August 1722 legte er seine Kantatenprobe ab und wurde am folgenden Tag zum Thomaskantor gewählt. Ihm hatte man sogar das an das Amt gebundene Unterrichten (Lateinstunden) erlassen, da er sich weigerte zu „informieren“.

Mit dieser Wahl in der Tasche übte nun Telemann kräftigen und auch erfolgreichen Druck auf den Hamburger Rat wegen einer Gehaltserhöhung aus. Statt in Leipzig abzusagen, tauchte er dort Ende September wieder auf, um auch hier eine Gehaltserhöhung zu erpressen. Nun überbot der ungeduldig gewordene Hamburger Rat nochmals das Leipziger Angebot, worauf Telemann erst im November sein Verbleiben in Hamburg nach Leipzig melden ließ. Telemann hatte mit diesem unfeinen Spiel Erfolg, und verdrossen musste der Leipziger Rat erneut zur Wahl schreiten.

Inzwischen waren noch zwei Bewerber hinzugekommen. Einer war Georg Friedrich Kaufmann aus Merseburg. Und im Dezember hörte man von der Bewerbung des Darmstadter Hofkapellmeisters Christoph Graupner und – nebenbei – Johann Sebastian Bachs, seit fast sechs Jahren „hochfürstlicher“ Hofkapellmeister in Köthen. Rasch muss Bach Wind vom Scheitern der Wahl Telemanns bekommen haben, denn er eilte sofort nach Leipzig, um am 29. November, dem ersten Advent des Jahres 1722, mit seiner bereits 1714 komponierten Kantate „Nun komm, der Heiden Heiland“ BWV 61 bei der Sonntagsmusik auszuhelfen, die keinen besonderen Eindruck zu hinterlassen haben scheint.

Nun war auch plötzlich das Unterrichten in der Thomasschule wieder wichtig, weswegen Fasch ausschied – er hatte sich wie Telemann geweigert zu „informieren“!

Nach seinen Probemusiken am ersten Weihnachtstag 1722 und am 17. Januar 1723 ersuchte der Rat um Entlassung Graupners beim hessischen Landgrafen. Dieser lehnte ab und erhöhte das Gehalt seines Hofkapellmeisters. Erst am 23. März traf Graupners Absage ein, nachdem inzwischen die Kandidaten Rolle, Schott, Kaufmann und am 7. Februar als letzter auch Bach (mit der Kantate „Jesus nahm zu sich die Zwölfe“ BWV 22) ihre Probe abgelegt hatten. Die Wahl Bachs zum Thomaskantor fand am 22. April 1723 statt. In dieser Ratssitzung fiel auch das denkwürdige Wort des Dr. Platz: „Da man die besten nicht bekommen konnte, müsse man den mittleren nehmen.“ Allein der regierende Bürgermeister Dr. Lange hatte den weiteren Blick: „Wenn Bach erwehlet würde, so könne man Telemann (…) vergessen.“

Arnold Schering schreibt zu dieser Wahl: „Auch wenn Telemann oder Graupner gewählt worden wäre, hätte der Rat keinen schlechten Geschmack bewiesen. Nur, dass man jetzt eins der größten Genies der musikalischen Weltgeschichte für sich eingefangen hatte, vermutete niemand. Nicht Kennerschaft freilich und reifem Kunsturteil verdankte man das, sondern einem ungeheuren blinden Zufall.“ 4)Schering, a.a.O., S. 16

Am 5. Mai wurde Bach das Ergebnis offiziell mitgeteilt. Insgeheim muss aber Bachs Wahl längst festgestanden haben, denn bereits am 26. März hatte er in Leipzig seine in aller Eile fertiggestellte Johannespassion aufgeführt. Auch am Pfingstsonntag, dem 16. Mai, leitete Bach die Musik im Universitätsgottesdienst in der Paulinerkirche, vermutlich dirigierte er die Kantate „Wer mich liebet, der wird mein Wort halten“ BWV 59.

Am 22. Mai 1723, dem Samstag vor Trinitatis, zog Bach mit seiner zweiten Frau Anna Magdalena, fünf Kindern (vier Kinder aus der ersten Ehe mit der 1720 verstorbenen Maria Barbara und das erste Kind Anna Magdalenas) sowie der Schwägerin Friedelena Bach, die seit fünfzehn Jahren im Bachschen Haushalt lebte, von Köthen nach Leipzig um. Die Familie bezog die renovierte Kantorenwohnung im Südflügel der Thomasschule. Diese Wohnung erstreckte sich über drei Stockwerke und war somit groß genug, die „4. Wagen mit Haus-Raht“ aufzunehmen, mit denen Bach eintraf. Erst 1902 wurde die Thomasschule abgerissen.

Offiziell trat Bach sein Amt als Director musices, als der er für die Musik in den vier Leipziger Hauptkirchen St. Thomas, St. Nicolai, der Neuen Kirche und der Peterskirche verantwortlich war, am 1. Sonntag nach Trinitatis, dem 30. Mai 1723, in der Nicolaikirche an (die Neue Kirche wurde1876 in Matthäikirche umbenannt und im Zweiten Weltkrieg zerstört; die Peterskirche wurde 1886 abgerissen). Sicher wurde seine erste Kantatenaufführung als Amtsinhaber mit Spannung erwartet. Es handelte sich um die Kantate „Die Elenden sollen essen“ BWV 75, die Bach noch in Köthen geschrieben hatte. Aus ihr hören wir nun einige Teile in der Live-Aufnahme des Konzertes zu Bachs 250. Todestag am 30. Juli d. J. in der St. Martinskirche in Kelsterbach. Es singen und spielen die Idsteiner Vokalisten und das Heidelberger Kantatenorchester unter meiner Leitung:

BWV 75, 1+8+12-14 CD: 3+10+14-16

Chor „Die Elenden sollen essen“, BWV 75-01

Sinfonia, BWV 75-08

Arie „Mein Herze glaubt und liebt“, BWV 75-12

Rezitativ „O Armut, der kein Reichtum gleicht“, BWV 75-12

Chor „Was Gott tut, das ist wohlgetan“, BWV 75-14

Die „Acta Lipsiensium academica“, die Chronik der Universität, berichtet unter den Ereignissen vom Mai 1723 über die Aufführung: „Den 30. dito als am 1. Sonnt. nach Trinit. führte der neue Cantor u. Collegii Musici Direct. Hr. Joh. Sebastian Bach, so von dem Fürstl. Hofe zu Cöthen hieher kommen, mit guten applausu seine erste Music auf.“ – „ »Mit guten applausu« (in übertragener Bedeutung; geklatscht wurde selbstverständlich nicht) klingt nicht gerade überschwenglich.“ (Alfred Dürr, „Die Kantaten von Joh. Seb. Bach“, Kassel – Basel – London 1981, S. 326) Aber man war mit ihm zufrieden – fürs erste jedenfalls. „Daß Bach seine Antrittskantate BWV 75 »mit gutem applausu« aufgeführt habe (…) oder daß eine seiner Ratswechselkantaten als eine »so künstlich [kunstvoll] als angenehme Music« empfunden wurde, bleiben die einzigen öffentlichen Reaktionen auf ein musikalisches Repertoire, das seinesgleichen nicht kannte.“ 5)Christoph Wolff in „Die Welt der Bach-Kantaten“, Bd. 3, Stuttgart und Kassel 1999, S. 35

Bachs vielfältige und verwickelte Verpflichtungen im Leipziger Amt lassen sich hier nur andeuten. So wird es unvermeidlich sein, dass der Kenner der Materie jeweils ihm Wichtiges in meinen Ausführungen vermissen wird. Für einen besseren Überblick habe ich Ihnen die chronologischen Daten in die Hand gegeben. Dieses Datengerippe mit ein wenig anschaulichem Leben zu füllen, will ich hier versuchen – ein Leben, wie wir es uns heute kaum noch vorstellen können.

Der Schuldienst

In der Hierarchie des Lehrerkollegiums der Thomasschule stand Bach nach dem Rektor und Konrektor an dritter Stelle. Das bei der Bewerbung so wichtig gewesene Unterrichten hatte Bach einem Kollegen, einem Philologen, überlassen, den er allerdings selbst bezahlen musste. Es handelte sich hierbei um Lateinstunden. Somit war Bach der erste in der Reihe von neun Vorgängern seit der Reformationszeit, der sich ausschließlich mit der musikalischen Ausbildung der oberen Klassen, Quarta bis Prima, befasste.

Natürlich war Bach durch seine schulische Bildung in Lateinschulen des Lateinischen mächtig. Am 8. Mai 1723 musste er sich sogar einer theologischen Prüfung in lateinischer Sprache unterziehen; dies gehörte zum „Ritual“ seines Amtsantritts. Aber mit den Schülern lateinische Grammatik zu pauken, dies hielt er wohl für lästige Zeitverschwendung.

„Der regelmäßige Stundenplan der Thomasschule sah Klassenunterricht an allen Wochentagen von 7 bis 10 Uhr morgens und von 12 bis 3 Uhr nachmittags vor. Die verbleibenden, nicht festgelegten Stunden waren Aufgaben und Selbststudium vorbehalten; die Alumni arbeiteten in ihren Studierzellen, die Externi zu Hause. Der Kantor hielt seine »musikalischen Übungen für alle Klassen« (…) in der Aula der Schule ab: montags, dienstags und mittwochs um 9 und um 12 Uhr sowie freitags um 12 Uhr, also sieben Stunden in der Woche; für Donnerstag und Samstag waren keine festen Stunden angesetzt. Diese Übungsstunden waren für alle Internats- und Tagesschüler Pflicht, insgesamt also für rund einhundertfünfzig Jungen. Dabei wurde Bach von vier Chorpräfekten unterstützt, die er aus den älteren und musikalisch erfahrensten Schülern auswählte.“ 6)Christoph Wolff, „Johann Sebastian Bach“, Frankfurt am Main 2000, S. 271 Darüber hinaus verwandte Bach mehr Zeit auf privaten Gesangs- und Instrumentalunterricht, Korrepetition und Proben als alle seine Vorgänger. Er wusste, dass seine Werke „ohngleichen schwerer und intricater [verwickelter]“ waren, wie er in der Eingabe an den Rat der Stadt vom 15. August 1736 schreibt. Er verlangte sich und seinen Musikern das Äußerste ab, und dies gleich von Anfang an, wie wir in seinen ersten Kantaten hören können.

„Empfindliche Geldstrafen drohten den Schülern, wenn sie die Aufführungen störten: für einen auffälligen Fehler zahlten sie einen Groschen, für einen absichtlichen und boshaft herbeigeführten Fehler drei Groschen (für einen Groschen bekam man ungefähr zwei Liter Bier). Diese Summen wurden dem betreffenden Schüler von seinen Nebeneinkünften aus Beerdigungs- und anderen Gottesdiensten abgezogen (…).“ 7)Wolff, JSB, S. 273

Natürlich waren nicht alle Schüler musikalisch gleich begabt. Für die vier Hauptkirchen wurden sie nach ihrem Können gestaffelt in vier Chöre aufgeteilt. Bach selbst beschrieb das so: „In den 3 Kirchen, als zu S. Thomae, S. Nicolai und der Neuen Kirche müßen die Schüler alle musicalisch seyn. In die Peters-Kirche kömmt der Ausschuß, nemlich die, so keine Music verstehen, sondern nur nothdörfftig einen Choral singen können.“ Den ersten Chor erzog sich Bach zur Elite-Kantorei, die anderen wurden von den Präfekten geleitet. Mit diesem ersten Chor trat Bach nach einem festgelegten Wechselschema in St. Thomas und St. Nicolai auf. 12-16 Sänger bildeten einen solchen Chor.

Ferien oder Urlaub im heutigen Sinne gab es nicht. Der Unterricht fiel nur an kirchlichen Festtagen und in den drei Messewochen zur Neujahrs-, Jubilate- und Michaelismesse aus, wobei hier allerdings zusätzliche musikalische Verpflichtungen anfielen. Die regelmäßige Sonntagsmusik in den Gottesdiensten pausierte nur in den Fastenzeiten, in der Passionszeit also und im Advent. In dieser Zeit mussten aber schon die großen Festtagsmusiken für Karfreitag und Ostern und Weihnachten komponiert und vorbereitet werden. Hören wir nochmals Arnold Schering: „Auf der einen Seite standen gewisse bestimmte, ein für allemal festgelegte und regelmäßig wiederkehrende Obliegenheiten (Singen im Gottesdienst, in Betstunden usw.), auf der anderen Seite wechselnde Aufgaben wie Leichen-, Hochzeits-, Kurrendesingen und dgl. [Zwischenbemerkung: es fielen jährlich allein weit über 1000 Beerdigungen an, die auch für Bach eine wichtige Geldquelle waren!] (…) sie dienten ein und dem selben hohen Zwecke: der Mitwelt aus dem Grau des Alltags und der Tagessorgen durch Musik zur Andacht, Freude und Erhebung zu verhelfen. In unaufhörlichem Wechsel (…) reihte sich Wochendienst an Wochendienst. Wie ein Wunder will es uns Zurückblickenden erscheinen, dass daneben noch das wissenschaftliche Pensum einer humanistischen Lehranstalt bewältigt werden konnte.“ 8)Schering, a. a. O., S. 41f

Längere Mußezeiten ergaben sich nur, wenn Landestrauer angeordnet war. Dann war jegliches Musizieren untersagt. Dies war in Bachs Amtszeit zweimal der Fall: ein halbes Jahr lang nach dem Tod der Königin Christiane Eberhardine vom September 1727 an, und ein Jahr lang nach dem Tod ihres Gemahls, Augusts I., des Starken, ab Februar 1733 (in beiden Fällen wurde die Trauerzeit allerdings stark verkürzt, da viele Musikanten in Existenznot gerieten). Diese Gelegenheiten nutze Bach für größere Projekte, im zweiten Fall z. B. für Kyrie und Gloria der h-moll-Messe.

Normalerweise war Bachs Terminplan dicht gedrängt. Er brauchte sogar einen Sekretär, der ihm zur Seite stand. Dies war z. B. von 1737 – 42 sein Vetter Johann Elias Bach (1705 – 1755), der mit im Haushalt lebte, die Kinder unterrichtete und Theologie studierte.

Der Gottesdienst

Eine der Hauptaufgaben Bachs war das Liefern und Aufführen der sonntäglichen Kantate für den Hauptgottesdienst. Alles musste oft in größter Eile mit der Hand geschrieben und abgeschrieben werden, auch die Einzelstimmen für Solisten, Chor und Orchester. Die ganze Familie sowie die Privatschüler, die damals üblicherweise mit im Hause des Meisters lebten, wurden dafür eingespannt. Und dies alles inmitten eines Haushaltes, in dem zu den fünf Kindern, die es beim Einzug waren, noch zwölf dazukamen, von denen aber sechs vor Bachs Tod wieder starben!

Laut Nekrolog soll Bach fünf Kantaten-Jahrgänge verfasst haben. Heute müssen davon gut zwei Fünftel als verloren gelten.

Die normale Woche im damaligen Leipzig stellt sich als dichte Folge von Gottesdiensten oder gottesdienstähnlichen Veranstaltungen dar. Von Montag bis Freitag um 6 Uhr Frühgottesdienst bzw. Frühmesse abwechselnd in St. Thomas und St. Nicolai. Montags 13:30 Uhr Kleine Betstunde in St. Thomas, dienstags 14 Uhr Große Betstunde in St. Nicolai, mittwochs in St. Thomas und donnerstags in St. Nicolai um 14 Uhr Kleine Betstunde, freitags Große Betstunde in St. Thomas, samstags 13:30 Uhr Vesper in beiden Kirchen, sonntags 7 Uhr Hauptgottesdienst in allen Kirchen, 11:30 Uhr Mittagspredigt abwechselnd in beiden Hauptkirchen, 13:30 Uhr Vesper in allen Kirchen. Diese Gottesdienste sollen einem echten Bedarf entsprochen haben und waren nicht bloß hohle Tradition vor leeren Kirchenbänken.

Der am Sonntag um 7 Uhr in der Frühe beginnende Hauptgottesdienst dauerte 3-4 Stunden (je nach Jahreszeit in der stets unbeheizten Kirche! Nach der Jahreszeit richtete sich deshalb auch die Länge der Kantaten). Die Predigt hatte vorgeschriebenermaßen genau eine Stunde (von 8-9 Uhr) zu dauern. Die Kantate erklang unmittelbar nach der Evangelienlesung vor der Predigt als musikalische Antwort auf das Evangelium. War sie zweiteilig, wurde Teil II nach der Predigt direkt nach den Einsetzungsworten im Abendmahlsteil musiziert. Bemerkenswert ist, dass die wichtigsten Teile des Gottesdienstes insbesondere an den hohen Festtagen (einschließlich der Grußworte, Kollektengebete und Segenssprüche) noch immer in lateinischer Sprache gehalten wurden, wobei die Geistlichen festliche Messgewänder trugen.

Als eine Kuriosität mutet uns an, dass die Kantate von einem „pro organo pleno“ (mit voller Orgel) zu spielenden Präludium eingeleitet wurde, das einzig dem Zwecke diente, im Schutze dieses Orgelgebrauses die Orchesterinstrumente einzustimmen.

Wenn wir heute Musik im Gottesdienst aufführen, und seien es auch Bach-Kantaten, so ist dies in der Regel von geringer gesellschaftlicher Relevanz und kaum von öffentlichem Interesse. Für uns ganz unvorstellbar anders war dies zur Bach-Zeit. Der sonntägliche Hauptgottesdienst war ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges. Er diente der Stadt und ihren Bürgen als einziger Ort großer Repräsentation, wobei natürlich hier auch die neueste Garderobe zu Schau getragen wurde (besonders, wenn man zum Abendmahl schritt). In einem Zeitalter der noch fehlenden Medien war der Gottesdienst zudem eine Hauptinformationsquelle. Abkündigungen, Fürbitten und großes Kirchengebet dauerten im Hauptgottesdienst bis zu 45 Minuten. Themen waren da nicht nur Geburt, Taufe, Aufgebot, Trauung, Tod und Beerdigung, sondern auch Landes- und Weltereignisse; kurfürstliche Dekrete wurden hier ebenso verlesen wie Warnungen vor herumstreunenden Diebesbanden.

Wenn also Bach sonntags seine Kantaten aufführte, so hatte er immer eine Zuhörerschaft von über 2000 (!) Menschen, darunter auch allgemein wie musikalisch hochgebildete Persönlichkeiten. Umso bewundernswerter, dass er sich nie verführen ließ, den Gechmack der Menge zu befriedigen und sein hohes Ideal durch billiges Anbiedern zu verraten! Er wäre sonst nicht der Bach gworden, den wir verehren. Er hätte damit seine eigene Zeit und die drei folgenden Jahrhunderte bis auf uns um das Beste betrogen, was er zu geben hatte.

Dennoch: Niemand wurde sich im damaligen Leipzig (und ebenso andernorts) bewusst, dass ihr Kantor, den man von amtswegen immer wieder „subalternieren“ zu müssen glaubte, unter oft verdrießlichen Umständen in stetigem, stillen Fleiß Werke von Weltrang schuf, für deren Überlieferung er selbst wenig tat. Statt dessen musste er sich noch von kleinkarierten Ratsherren, von denen nichts als ihre wichtigtuerische Bedeutungslosigkeit der Nachwelt zu berichten bleibt, vorwerfen lassen: „Nicht allein tue der Kantor nichts, sondern wolle sich auch diesfalls nicht erklären (…) es müsse doch einmal brechen.“ Man drohte ihm das Gehalt zu „verkümmern“, da er „incorrigibel“ (unverbesserlich) sei. Und 1730 hieß es im Rat bei der Wahl eines neuen Rektors für die Thomasschule, man möge hier besser fahren als mit der Wahl des Kantors. In einem Brief vom 28. Oktober 1730 schreibt Bach an seinen Jugendfreund Georg Erdmann, dass in Leipzig „eine wunderliche und der Music wenig ergebene Obrigkeit ist, mithin fast in stetem Verdruß, Neid und Verfolgung leben muß.“

Als Bach diese Zeilen schrieb, ahnte er noch nicht, dass ihm der ab Juli 1736 über fast zwei Jahre lang eskalierende, an Schärfe kaum zu überbietende „Präfekten-Streit“ mit dem 22 Jahre jüngeren Rektor der Thomasschule, Johann August Ernesti, der 1734 27jährig sein Amt angetreten hatte, das Leben noch weit mehr verbittern sollte. Dahinter stand ein Generationenkonflikt: Bach vertrat das traditionsreiche Musikinstitut, Ernesti wollte die fortschrittlich-aufgeklärte, weniger musisch orientierte Gelehrtenschule. Da Bach seit November 1736 den Titel eines „Königlich Polnischen und Kurfürstlich Sächsischen Hofcompositeurs“ trug, um den er mit Kyrie und Gloria der h-moll-Messe geworben hatte, durfte er sich erlauben, schließlich den König persönlich um Schlichtung anrufen (mit Erfolg!). So ist manchmal auch ein Ehrentitel von ganz praktischem Nutzen, und nicht zuletzt deshalb – und nicht aus Titelsucht – hatte Bach hartnäckig die Verleihung dieses Prädikats betrieben.

Hören wir nun Beispiele aus der Kantate „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ BWV 76, die Bach am zweiten Sonntag seines Wirkens in Leipzig, am 6. Juni 1723, in der Thomaskirche aufführte (wieder in der Aufnahme vom 30. Juli d. J. in St. Martin Kelsterbach):

BWV 76, 1+14 CD: 19+32

Chor „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“, BWV 76-01

Chor „Es danke, Gott, und lobe dich“, BWV 76-14

Weltliche Werke und „freies“ Schaffen

Nicht nur geistliche, sondern auch weltliche Werke hat Bach geschaffen. Von seinen weltlichen Kantaten, die überwiegend für Freiluftaufführungen gedacht waren, sind weit mehr verlorengegangen als von seinen geistlichen Werken. Etwa fünfzig Titel sind uns bekannt, von mehr als der Hälfte jedoch kennen wir nur die Texte und nicht die Musik. Es dürften jedoch mehr gewesen sein. Sie „zählen seit jeher unter die echten Stiefkinder der Bachschen Vokalmusik“ 9)so der Bach-Forscher Christoph Wolff in „Johann Sebastian Bachs weltliche Kantaten“, Stuttgart/Weimar/Kassel 1997, S. 8. Sie sind weit weniger bekannt und werden viel seltener aufgeführt als die geistlichen Kantaten. Man kennt einige Sätze von ihnen aus geistlichen Werken, in die sie Bach im Parodieverfahren mit neuem Text integriert hat (so z. B. einige Teile des „Weihnachtsoratoriums“). Am bekanntesten sind die Kaffee- und die Bauernkantate, die wir hier in Nordenstadt im vergangenen Jahr beim 10. Torhauskonzert hörten.

Diese weltlichen Kantaten führte er auf mit dem einst von Telemann gegründeten studentischen Collegium Musicum, das er vom Jahre 1729 an über zehn Jahre lang (mit Unterbrechung) in wöchentlichen Konzerten im Zimmermannschen Kaffeehaus in Leipzig leitete. Im Sommer musizierte man im Wirtsgarten. Im Kaffeehaus wurden auch sicher die Cembalo- und Violinkonzerte und die Ouvertüren dargeboten. Das musikalische Amüsement hatte damals noch höchstes künstlerisches Niveau!

Die Unterscheidung weltlich – geistlich in heutiger Form gab es für Bach allerdings gar nicht. Für ihn war jede Musik, sofern sie gute Musik war, Lobpreis Gottes – ganz im Sinne Luthers übrigens (dazu Karl Dienst, a.a.O., S. 11f.: „Nicht nur Musik, die den Text auslegt, sondern Musik generell kann Zeugnis Gottes sein, wenn sie sich durch höchste Kunstfertigkeit auszeichnet. Musik lässt sich für Luther nicht darauf einschränken, nur als textbezogene Vokalmusik des Evangeliums zu dienen. Das Verständnis von Musik als Kunst und nicht nur als Funktion ist lutherisch!“)

Man vermutet, dass die Bauernkantate BWV 212 die letzte Kantatenkomposition Bachs überhaupt ist. Sie wurde am 30. August 1742 uraufgeführt. Bach reduzierte in den 1740er Jahren seine offizielle Tätigkeit praktisch auf die Verwaltung des Kantorats. Außerdienstliche Projekte wie die Kunst der Fuge, das Musikalische Opfer – nach seinem Besuch am Potsdamer Hof bei Friedrich II., dem „alten Fritz“, 1747 entstanden – die Messe in h-moll, die Sammlung und Revision seiner Orgel- und Klavierwerke oder die „Canonischen Veränderungen über »Vom Himmel hoch, da komm ich her«“, die er zum Eintritt in die „Mizlersche Societät der Musicalischen Wissenschaften“ im Jahre 1747 einreichte, sind ihm persönlich sehr viel wichtiger.

Gerade in dem Bemühen um die Vervollständigung der h-moll-Messe (im Nachlassverzeichnis als „große catholische Messe“ bezeichnet!) sehen manche Bachforscher ein ökumenisches Anliegen Bachs (auch wenn dieses Wort damals noch nicht gebraucht wurde). So auch der eingangs erwähnte Jürgen Christian Mahrenholz, der berichtet, dass Bach „»die königlichen Ohren« seines in Leipzig weilenden Landesherrn am Tage nach dem Michaelisfest 1736 in der katholischen Schlosskirche der Leipziger Festung Pleißenburg bei einem vom Apostolischen Nuntius des Papstes zelebrierten Messgottesdienstes, dem das Königspaar beiwohnte, »als ein virtuoser Organist (…) mit einer anmutig klingenden Musik ergötzte«. Bach wirkte folglich a k t i v bei einem römisch-katholischen Festgottesdienst in einer von Jesuiten (!) der Sächsischen Mission (!) betreuten Kirche mit (…).“ (Mahrenholz, a.a.O., S. 32) Dies bezeugt einen selbständigen und freien Geist Bachs, der seiner Zeit um einiges voraus war. Mancherorts scheint die Zeit in einigen Köpfen jedoch noch lange stehen geblieben zu sein, wenn man bedenkt, dass man dem evangelischen Organisten in Nordenstadt noch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts (!) mit Kündigung drohte, wenn er es nicht unterließe, ab und zu die Messe in der katholischen Kirche zu spielen (!).

Die kontrapunktische Kompositionstechnik galt den „fortschrittlichen“ seiner Zeitgenossen als längst veraltet, ja als „schwülstig und verworren“ (Johann Adolph Scheibes Kritik) – nicht nur für seinen jüngsten Sohn Johann Christian (den „Londoner Bach“) war er die „alte Perrücke“. Der alte Bach hatte sich selbst überlebt. Er komponierte sozusagen bewußt am herrschenden Musikbetrieb seiner Zeit vorbei. Dies befreite ihn von jeglicher Rücksicht auf bloße äußerliche Publikumswirksamkeit. In asketischer Konzentration auf das Wesentliche, fast zweckfrei, arbeitete er in der Abgeschiedenheit seiner „Componierstube“ an der höchsten Vollendung seiner Kunst, die ihn gerade deshalb unsterblich machte. Das meisterliche Spiel mit allen klanglichen Effekten und die unbekümmerte Entfaltung vitaler jugendlicher Kraft, denen wir in seinen Frühwerken begegnen, sind in seinem Spätwerk einer wohlkalkulierten Intensität und Abgeklärtheit gewichen.

Das Bachsche Ethos der „musikalischen Vollkommenheit“ und dessen Aktualität

Johann Nikolaus Forkel (1749 – 1818), Universitätsmusikdirektor in Göttingen, der noch mit den beiden Bach-Söhnen Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel in persönlichem Austausch stand, schrieb 1802 in der ersten Bach-Biographie: „(…) Beyfall der Menge suchte Bach nie. (…) Er arbeitete für sich, wie jedes wahre Kunstgenie; er erfüllte seinen eigenen Wunsch, befriedigte seinen eigenen Geschmack, wählte seine Gegenstände nach seiner eigenen Meinung, und war endlich auch mit seinem eigenen Beyfall am zufriedensten. Der Beyfall der Kenner konnte ihm sodann nicht entgehen, und ist ihm nie entgangen. Wie könnte auch auf andere Art ein wahres Kunstwerk zu Stande gebracht werden? Derjenige Künstler, welcher sich bey seinen Arbeiten darauf einläßt, sie so einzurichten, wie es diese oder jene Classe von Liebhabern wünscht, hat entweder kein Kunstgenie, oder er mißbraucht es. Sich nach dem herrschenden Geschmack der Menge zu richten, erfordert höchstens einige Gewandtheit in einer sehr einseitigen Behandlungsart der Töne. Künstler dieser Art sind dem Handwerksmanne zu vergleichen, der seine Arbeiten ebenfalls so einrichten muß, daß seine Kunden sie gebrauchen können. Bach ließ sich nie auf solche Bedingungen ein. Er meynte, der Künstler könne wohl das Publicum, aber das Publicum nicht den Künstler bilden.“ 10)J. N. Forkel, „Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke“, Leipzig 1802, S. 124f

Gerade heute, da vom Kirchenmusiker oft geradezu gefordert wird, dass er sich an der untersten, ja primitivsten Ebene des Geschmackes mancher Gemeindeglieder zu orientieren hätte, ist es wichtig, sich dieses hohen Bachschen Ethos‘ eines dienenden Anspruchs und eines anspruchsvollen Dienens zu erinnern, aus dem nämlich nur die Größe hervorgehen kann, die wir heute noch an Bachs Kunst bewundern. Wer meint, der Kirchenmusiker habe, entsprechend den heutigen Medien, sozusagen „auf Bestellung“, ausschließlich die primitivsten Erwartungen der Gemeinde zu erfüllen, nur weil diese ihn bezahlt und eventuell eine demokratische Mehrheit dies wünscht (Prinzip „Einschaltquoten“!), der betreibt den Ruin eines traditionsreichen, kulturell bedeutenden Berufsstandes und schadet damit letztlich nicht nur der eigenen Gemeinde und Kirche, sondern der gesamten Kultur. Die Standesvertretungen (wenn schon nicht die Kirchenleitungen selbst) müssten hier viel mutiger ihren Kantoren, die sich oft als Einzelkämpfer auf verlorenem Posten sogar die physische und psychische Gesundheit ruinieren, den Rücken gegen verletzende Übergriffe massiver Inkompetenz und Beschränktheit stärken, anstatt diesen noch wegen pseudodemokratisch falsch verstandener mehrheitlicher, aber meist völlig unqualifizierter Wünsche in den Rücken zu fallen. Sich bei möglichst vielen anzubiedern, um sie doch noch als Kirchensteuernzahler zu behalten, kommt mir so vor, als erklärte man die Wölfe mangels Schäflein zu den verlorenen Schafen. Dass dann oft die wenigen letzten (vielleicht wertvollsten) Schafe, sofern sie nicht mit den Wölfen heulen, von der Meute zerrissen werden, kümmert wenig, da statistisch kaum relevant. Der lebendige, meist vergeblich besungene „Geist der Wahrheit“ ist nie das Ergebnis von Mehrheitsbeschlüssen. Und wo eine einfache Stimmenmehrheit bei gewissen, mit Einfluss oder gar Macht ausgestatteten Ehrenpöstchen jegliche Qualifikation ersetzt, wie es früher Stand und Herkunft taten, spätestens dort führt sich auch das innerhalb bestimmter Grenzen optimale demokratische Prinzip selbst ad absurdum.

Bei einer von Bachschem Ethos erfüllten Haltung ist allerdings der Konflikt mit dem Mittelmaß meist vorprogrammiert. Dies war schon zur Bachzeit so, wie der Seitenhieb des zweiten Bürgermeisters Stieglitz auf den gerade Verstorbenen in der Ratssitzung direkt am Tag nach Bachs Tod (29. Juli 1750) beweist, man „brauche einen Cantorem und keinen CapellMeister“. Auf heutige Verhältnisse übertragen heißt das: einen „Gemeindemusiker“, aber bitte ohne künstlerische Ambitionen! Gerade diesen Konflikt gilt es auszutragen und notfalls auszuhalten um der musikalisch-künstlerischen Wahrheit willen. Niemand kann uns dabei mehr ermutigen als Bach.

Dies bezeugt auch Albert Schweitzer. Aus seiner Antwort von 1905 auf die Rundfrage der Zeitschrift „Die Musik“ „Was ist mir Johann Sebastian Bach und was bedeutet er für unsere Zeit?“ seien hier einige Sätze angefügt: „Was mir Bach ist? Ein Tröster. Er gibt mir den Glauben, dass in der Kunst wie im Leben das wahrhaft Wahre nicht ignoriert und nicht unterdrückt werden kann (…). Dieses Glaubens bedürfen wir, um zu leben. Er hatte ihn. (…) Um ihn zu verstehen, bedarf es keiner Bildung und keines Wissens, sondern nur des unverbildeten Sinnes für das Wahre; und wer von ihm ergriffen ist, kann in der Kunst nur noch das Wahre verstehen. Er wird hart und ungerecht gegen das, was nur schön ist, worin keine Kraft und Sammlung, kein großes Denken lebt. (…) Das ist das gewalttätig Ungerechte dieser einzig großen Geister, dass sie erbarmungslos, ohne es zu ahnen, das Kleine und mittelmäßig Gute zertrümmern und nur das Große bestehen lassen. Aber das ist die Gerechtigkeit des Lebens, des erbarmungslos wahren Lebens.“ 11)in Erwin R. Jacobi: „Albert Schweitzer und die Musik“, Wiesbaden 1975, S. 30ff

Krankheit und Tod

Soweit uns bekannt ist, war Bach nie ernsthaft krank gewesen. Anders wurde dies überraschend in seinem letzten Lebensjahr. In einem Brief vom 2. Juni 1749 an den Leipziger Bürgermeister Jacob Born schlägt der sächsische Premierminister Heinrich von Brühl den Direktor seiner Privatkapelle, Gottlob Harrer, als Nachfolger Bachs vor, da dessen Ableben ins Kalkül gezogen werden müsse. Der Rat folgte dieser „Weisung von oben“ untertänigst, jeglichen Anstand, Taktgefühl und Geschmack missachtend: bereits am 8. Juni fand Harrers Pro-forma-Probe im Konzertsaal zu den „Drei Schwanen“, gelegen Am Brühl, mit vorprogrammiertem Erfolg statt. Dies alles bei Lebzeiten des Amtsinhabers, der dabei noch völlig übergangen wurde! Alle späteren Bewerbungen nach Bachs Tod ließ man ebenfalls nur pro forma laufen.

Nach dieser Kantoratsprobe Harrers besserte sich Bachs Gesundheitszustand wieder. Es war die Rede von ständig zunehmender Schwäche seiner Augen bis hin zu einer schmerzhaften Augenkrankheit. Christoph Wolff schreibt dazu: „Rückblickend und auf der Basis so unzulänglicher Information lässt sich keine zuverlässige medizinische Diagnose stellen, doch die überzeugendste Hypothese lautet, dass eine Altersdiabetes Bachs Krankheit verursachte und ihren Verlauf mitbestimmte. Unbehandelter Diabetes kann zu Nervenleistungsverminderungen, Hirnleistungsveränderungen, Sehstörungen verbunden mit Retinopathie, Glaukom mit Augenschmerzen, grauem Star und schließlich zur Erblindung führen. Wechselnde Unterzuckerung, bei der charakteristischerweise Besserung und Verschlechterung der Symptome einander ablösen, könnte die berichteten zeitweiligen Verbesserungen in Bachs abnehmendem Sehvermögen erklären, ebenso die zu beobachtenden Veränderungen seiner Handschrift.“ 12)Wolff, JSB, S. 484f

Am 25. August 1749 führte Bach die anspruchsvolle, neu komponierte Ratswahlkantate „Wir danken dir Gott, wir danken dir“ BWV 29 auf. Dabei spielte er den virtuosen Orgelsolopart in der einleitenden Sinfonia vermutlich selbst, um allen anwesenden Ratsherren zu demonstrieren, dass mit ihm künstlerisch noch gerechnet werden müsste. Denn das charakterlose Vorgehen des Rates musste ihn tief gekränkt haben.

Ein Brief vom 11. Dezember 1749, den er von fremder Hand schreiben ließ, trägt die letzte Unterschrift von ihm, die uns bekannt ist – in mühsamer, ungelenker Schrift. Sein letztes Vokalwerk ist das „Et incarnatus est“ der h-moll-Messe, die letzten Instrumentalstücke aus seiner Hand Contrapunctus IV und die unvollendete Fuge der Kunst der Fuge, entstanden zwischen Herbst und Jahreswende 1749.

Ende März 1750 war der berühmte englische Augenarzt Sir John Taylor nach Leipzig gekommen, um an der Universität Vorlesungen zu halten. Er war keineswegs ein medizinischer Quacksalber oder Scharlatan. Zwischen dem 28. März und dem 1. April ließ Bach sich von ihm operieren. Der anfängliche Erfolg erwies sich als kurzlebig, doch Bach muss voller Hoffnung gewesen sein, denn noch am 4. Mai nahm er Johann Gottfried Müthel als Pensionsschüler in sein Haus auf. Eine zweite Augenoperation musste zwischen dem 5. und 8. Mai vorgenommen werden. Sie schlug vollends fehl. „Schädliche Medicamente und Nebendinge“ warfen nun seine Gesundheit gänzlich über den Haufen. Es folgten Entzündungen und ein physischer Zusammenbruch. Danach war er „fast immer kränklich“ und dazu erblindet.

Laut Nekrolog besserten sich seine Augen plötzlich zehn Tage vor seinem Tode, so dass er eines Morgens wieder ganz gut sehen konnte. Am 20. Juli jedoch erlitt er einen Schlaganfall. Zwei Tage darauf reichte ihm sein langjähriger Beichtvater Prof. D. Christoph Wolle, Archidiakon von St. Thomas, das Abendmahl am Krankenbett. In dieser Situation erinnerte er sich seiner Choralbearbeitung „Wenn wir in höchsten Nöten sein“ und ließ sie sich von einem Freunde auf dem Pedalcembalo vorspielen. Diesem diktierte er noch einige Verbesserungen. Dabei ließ er auch den Titel ändern in den des zur gleichen Melodie gesungenen Chorals „Vor deinen Thron tret ich hiermit“. Er fühlte das baldige Ende nahen und hatte die „höchsten Nöte“ wohl innerlich schon überwunden. Bis zum letzten Atemzug strebte er so nach musikalischer Vervollkommnung, um damit in Würde vor Gottes Thron treten zu können – Soli Deo Gloria (Gott allein zu Ehren), wie er unter alle seine Partituren geschrieben hatte. Für Gott war ihm das Beste, das er bei allem demütigen Wissen um die eigene Unvollkommenheit hervorbringen konnte, gerade gut genug. Damit setzte er auch für seine Mitmenschen höchste und vom jeweiligen „Gebrauch“ der Musik unabhängige Maßstäbe: „Dem Höchsten Gott allein zu Ehren, / Dem Nechsten, draus sich zu belehren.“, heißt es in seinem Vorwort zum „Orgelbüchlein“. Er schuf in seiner Zeit doch nicht nur für seine Zeit, sondern immer auch zugleich sub specie aeternitatis (im Hinblick auf die Ewigkeit). Nicht eitles Perfektionsstreben bestimmte sein Bemühen um musikalische Vollkommenheit: Wie lebendigstes Wasser aus reinster Quelle, so floss Bachs höchster künstlerischer Anspruch aus tiefster Religiosität.

„Ungeachtet aller möglichen Sorgfalt zweyer der geschicktesten Leipziger Aerzte“ starb er am Dienstag, dem 28. Juli des Jahres 1750, abends kurz nach Viertel nach acht.

Die Beerdigung fand am 31. Juli auf dem Johannisfriedhof statt. Vermutlich wurde dabei auf Bachs Wunsch die doppelchörige Mottete „Lieber Herre Gott, wecke uns auf“ von dem von ihm hochgeschätzten Johann Christoph Bach (1642 – 1703), dem Eisenacher Cousin seines Vaters, gesungen, die er noch eigenhändig unter großer Anstrengung zur Aufführung vorbereitet hatte.

Das Grab lag sechs Schritte vor der Südpforte der Johanniskirche, wie wir einzig und allein von den Thomanern wissen, die ihrem Kantor mehr als ein Jahrhundert lang jedes Jahr am 28. Juli an dieser Stelle die Ehre erwiesen (!). Im kleinen, privaten Zirkel einiger Kenner und Bewunderer war Bach nie ganz vergessen, doch nach seinem Tod sollte es fast hundert Jahre dauern, bis seine Größe in breiteren Kreisen erkannt zu werden begann.

Am 22. Oktober 1894 wurde ein Eichensarg mit den vermutlichen sterblichen Überresten Bachs exhumiert und in einem Steinsarkophag in der Gruft unter der Johanniskirche beigesetzt. Durch die ungefähre Ortsangabe des Grabes und die Tatsache, dass 1750 von 1400 verstorbenen Leipzigern nur zwölf in Eichensärgen beerdigt wurden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es sich tatsächlich um Bachs Gebeine handelt.

Die Johanniskirche und der sie umgebende Friedhof wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört, Bachs Sarkophag blieb jedoch verschont. Er wurde 1950, zu seinem 200. Todestag, in den Chorraum der Thomaskirche überführt. Eine im Boden eingelassene Grabplatte bezeichnet die Stelle.

Orgel: „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ BWV 668

(geschrieben vom 25. bis 30. Oktober 2000)

Fußnoten   [ + ]

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