Albert Schweitzers Orgelspiel hilft einen Mord aufklären

Schweitzer während der Orgelaufnahmen 1952 in Günsbach

Die Orgel bringt es an den Tag – wie das Orgelspiel Albert Schweitzers einen Mord aufklären half

Eine Spurensuche von Rainer Noll

Die Kriminalgeschichte „Im Regen“ von Herbert Rosendorfer handelt von einem sehr wohlhabenden kinderlosen alten Herrn, mehrfacher Millionär, der sich seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigte. Er lebt angeblich zurückgezogen in seiner Villa am Schliersee, wo er eine Hausorgel besitzt. Nur sein Orgelspiel ist fast täglich zu hören, auch Bachs C-Dur-Toccata BWV 564. Nun wird ein Anwalt von einer entfernten Verwandten in den USA beauftragt, eine Erbsache zu klären. Dieser quartiert sich umgehend zu Recherchen in dem kleinen Ort ein, wo die Villa, eher ein Schloss, steht (der Ortsname Gläsen scheint frei erfunden). Das fürstliche Honorar der Dame ermöglichte ihm dies. Unter falschen Angaben macht er sich an den ebenfalls alten Butler oder Hausmeister der Villa heran, wird aber von diesem nicht ins Haus vorgelassen.

C-Dur-Toccata nährt Mordverdacht

Natürlich hört er draußen auch das recht gute Orgelspiel: meist Bachs C-Dur-Toccata, offenbar das Lieblingsstück des Hausherrn. Er erinnert sich plötzlich an eine LP, auf der Albert Schweitzer diese C-Dur-Toccata spielt. Und unser Anwalt besorgt sich nun erneut diese LP und sogar die Noten, die er beim Anhören verfolgt (früher einmal war er selbst bei seinen Orgelversuchen an diesem Stück gescheitert). Da entdeckt er einen Fehler in Schweitzers Interpretation, den er genau beschreibt: „Zum Schluss der Pedalsequenz findet sich eine rasende Triolenbewegung abwärts, die in einer zweimaligen punktierten Figur endet. Offenbar im Schwung der Bewegung – ohne es zu merken? – spielte Schweitzer (…) diese Figur nicht zwei-, sondern dreimal. Im eher rezitativischen Tongeschehen dieser Stelle vor dem erneuten Einsetzen des vollen Werkes merkt man kaum, dass Schweitzer da Bach statt eines Vierviertel-Taktes einen quasi Fünf-Viertel-Takt unterschob.“ (S. 82) Es handelt sich eindeutig um Takt 30/31 am Schluss des Pedalsolos. Zu seiner Überraschung hört er an mehreren Tagen immer wieder genau diesen Fehler im Orgelspiel des alten Herrn.

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Albert Schweitzer – Leben und Denken

Rainer Noll beim Vortrag

Dem Andenken an Dekan Hans Keller (1900 – 1986), der uns im Geiste der Freiheit in Nordenstadt zur Konfirmation führte

Albert Schweitzer – Leben und Denken

Vortrag von Rainer Noll zum 35. Todestag von Albert Schweitzer am 3. September 2000 in der Ev. Kirche Wiesbaden-Nordenstadt

Es war vor genau 35 Jahren in den letzten Augusttagen, als die Meldung von Albert Schweitzers zunehmendem Erschöpfungszustand um die Welt ging. Damals war ich tagtäglich bereits seit Jahren mit Schweitzers Gedankengut beschäftigt. Sein Bach-Buch und die Kulturphilosophie hatte ich längst studiert. Ich sammelte gerade alle von Schweitzer eingespielten Schallplatten, von denen selbst damals nur noch wenige im Handel zu haben waren.

Die Zeitungsnachrichten berührten mich, als ginge es um einen nahen Verwandten. Und ein solcher war mir Schweitzer geistig auch und ist es bei aller kritischen Distanz bis heute. „Albert Schweitzer – Leben und Denken“ weiterlesen

Albert Schweitzer: unzeitgemäß aktuell

Neufassung für Lions-Club Mainz:

(Vortrag von Rainer Noll, Dienstag, 9. Dezember 2014, 19:30 Uhr,  für Lions-Club Mainz, Atrium-Hotel Mainz-Finthen)

I.

Vor 49 Jahren, am 4. September 1965, starb Albert Schweitzer in seinem Urwaldhospital Lambarene in Afrika im 91. Lebensjahr. Als Motto zum heutigen Thema möchte ich folgendes Wort von ihm voranstellen: „Die Wahrheit hat keine Stunde. Ihre Zeit ist immer und gerade dann, wenn sie am unzeitgemäßesten erscheint.“ (WU, S. 150) Weiter bekennt er: „Mit dem Geist der Zeit befinde ich mich in vollständigem Widerspruch, weil er von Mißachtung des Denkens erfüllt ist.“  (LD, S. 181) Unzeitgemäß war und ist Schweitzer ganz gewiss, aber deshalb (oder gerade deshalb) nicht weniger aktuell. Man denkt an André Gides Feststellung, dass das Denken nur so weit Gültigkeit bewahrt, wie es unzeitgemäß ist.

Lassen Sie mich versuchen, Ihnen einen Albert Schweitzer vorzustellen, wie Sie ihn bisher wohl noch nicht gekannt haben, ja vielleicht nicht für möglich hielten. Es ist aber ganz unmöglich, einer so vielseitigen Persönlichkeit in der Kürze eines Vortrages gerecht zu werden. Die Musik klammere ich heute schon ganz aus – allein die nötigen Hörbeispiele würden den Rahmen sprengen und erforderten einen eigenen Vortrag. So seien meine Worte quasi ein geistiges Amuse-Gueule, das Sie hungrig auf Schweitzers Botschaft machen soll.

 

II.

Sie werden kaum erraten, von wem ich aber zunächst spreche (rufen Sie dazwischen, sobald Sie ahnen, wen ich meine): Er gehört in eine Reihe mit Hitler, Stalin oder Pol Pot und ist einer der vergessenen Massenmörder des 19. und 20. Jahrhunderts, aber heute noch in seiner europäischen Heimat allgegenwärtig. Von diesen Genannten unterscheidet ihn allerdings, dass er sich persönlich  bereichern wollte, und zwar um 231 000 000 € nach heutigem Wert. Dafür nahm er in Afrika den Tod von mindestens 10 000 000 Männern, Frauen (ohne Rücksicht auf Schwangere) und Kindern in Kauf (Schätzungen gehen teils auf mehr als das Doppelte). Und ausgerechnet dieser Mann schmückte sich mit humanitären Parolen und verkündete 1876 bei der von ihm einberufenen Konferenz der „amis de l’humanité“ (also „Freunde der Menschlichkeit“): „Der Zivilisation den einzigen Erdteil zugänglich zu machen, in den sie noch nicht vorgedrungen ist, und die Finsternis zu durchdringen, die noch ganze Völker umhüllt, dies ist ein Kreuzzug, der unseres Jahrhunderts des Fortschritts würdig ist.“ [armer Mann, in welcher Finsternis lebtest Du eigentlich selbst?] Bei dieser Konferenz hob man die „Association Internationale Africaine“, die Internationale Afrika-Vereinigung, aus der Taufe und erkor ausgerechnet diesen Mann zu deren Präsidenten. Diese Vereinigung sollte künftig Unternehmungen zur „wissenschaftlichen Erforschung der unbekannten Teile Afrikas“, zur „Zivilisierung des inneren Afrika“ und zur „Unterdrückung des Sklavenhandels“ koordinieren. Unter diesem Deckmantel riss er sich das Kongo-Becken als privaten Besitz von 1885 bis 1908 unter den Nagel und beutete das Land schonungslos aus, vor allem wegen des Kautschuks, den Dunlop [1888 Patent auf Gummireifen] und Goodyear für die aufkommende Reifenproduktion benötigten. Die Schiffe fuhren beladen mit Kautschuk, Gold und Elfenbein nach Europa und kehrten mit Waffen beladen zurück nach Afrika. Wer von den Eingeborenen das Soll nicht erfüllte, wurde kurzerhand erschossen. Den Offizieren musste von jedem Erschossenen eine abgehackte Hand als Beweis für den zweckmäßigen Gebrauch der teuren Munition vorgelegt werden. Jagd auf Tiere war den Soldaten deshalb verboten, und wer es doch tat, hackte einfach lebenden Menschen für jede verschossene Kugel die geforderten Hände ab – Körbe voll Hände trafen bei der Verwaltung ein. Manchmal „erlegten“ sie auch einfach zum Zeitvertreib die Einheimischen. Offiziere schmückten ihre Gartenzäune mit Köpfen von Erlegten. Dies alles nur die Spitze des Berges der Gräueltaten, von denen wir u. a. aus Tagebüchern des schwedischen Geistlichen Sjöblom und auch durch den Schriftsteller Joseph Conrad („Heart of Darkness“, 1899) wissen! (Quelle auch Adam Hochschild, „King Leopold’s Ghost“, 1998) Eine angekündigte Fernsehdokumentation darüber wurde dreimal verhindert, bis sie doch gesendet werden konnte.

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Vom Schwimmbad zur Ethik Albert Schweitzers

Einladung zum Nachdenken über den Sinn des Lebens

von Rainer Noll

„Vor langer Zeit schon waren es die hyperintelligenten, pandimensionalen Wesen leid, ständig über den Sinn des Lebens nachgrübeln zu müssen. Warum werden Menschen geboren? Warum müssen sie sterben? Macht es, kosmisch betrachtet, wirklich etwas aus, wenn ich heute Morgen nicht aufstehe und zur Arbeit gehe? Um endlich eine Antwort darauf zu bekommen, wurde der leistungsstärkste Computer des Universums gebaut: Deep Thought. Die Programmierer Lunkwill und Fook knipsten ihn an und stellten ihm die Frage nach ,dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest‘. Dagegen protestierten die Philosophen Magikweis und Vrumfondel als Vertreter ihrer Gewerkschaft, aber sie konnten sich nicht durchsetzen. Deep Thought versprach, die Frage zu beantworten, bat jedoch um siebeneinhalb Millionen Jahre Bedenkzeit. Als die Frist abgelaufen war, saßen die Programmierer Luunquoal und Phouchg vor dem Computer. Alles wartete gespannt auf die Antwort. Sie lautete: 42. Zweiundvierzig? Aber was war noch einmal die Frage? Die kannte auch Deep Thought nicht. Sein Daseinszweck war es, einen noch größeren Computer zu entwickeln, der sie formulieren würde. So entstand die Erde. Das Projekt sollte noch einmal zehn Millionen Jahre dauern. Fünf Minuten vor dem Ablauf dieser Zeitspanne zerstörten jedoch die Vogonen die Erde.“ (http://www.dieterwunderlich.de/Adams_anhalter_galaxis.htm)

I.

Dies die Inhaltsangabe der entscheidenden Stelle in dem Science-Fiction-Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams. „Deep Thought“, der größte je gebaute Computer, beantwortet  nach 7 1/2 Millionen Jahren „Bedenkzeit“ die Frage nach dem Sinn: „42“. Sonst nichts. Das zeigt, wie „menschlich“ diese Frage ist. Eine Maschine kann damit nichts anfangen.

All dies wusste ich aber nicht, als ich jemandem, der diesen Roman kannte, am vergangenen 13. Oktober nach meinem Schwimmen per SMS lediglich „42“ für meine 42 Bahnen im Schwimmbad mitgeteilt hatte. Bezug nehmend auf die „42“ des Romans simste er scherzhaft zurück: „Ist das der Sinn des Lebens?“ Ich aber, unwissend, nahm seine Frage ganz ernst.

Meine spontane Antwort: NEIN! Aber es erlöst vorübergehend vom Druck der ständigen Sinnsuche und täuscht über die Sinnlosigkeit hinweg. Dazu fühlt man sich 10 (was sage ich: 20!) Jahre jünger (nein: wie 20!), und das nährt die Illusion, man könnte die Zeit zurückdrehen. Und dieser scheinbare Triumph überschüttet mich bereits mit Glückshormonen … So funktioniert Leben!

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Albert Schweitzer kam bis Kelsterbach

Menschlichkeit oder Albert Schweitzer kam bis Kelsterbach

Betrachtung zum Brief Albert Schweitzers von 1956 an die Stadt Kelsterbach

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Am 9. Juni 1956 schrieb Albert Schweitzer einen Brief an die Stadt Kelsterbach anlässlich der Namensgebung der Albert-Schweitzer-Straße. Darin zeigt sie eine direkte Verbindung Schweitzers zu Kelsterbach und auch, dass er immerhin auf seinen Zugfahrten zwischen Frankfurt und Mainz durch Kelsterbach gekommen sein muss. Ein kleines Zeitdokument einer, wenn auch nur flüchtigen, Berührung des damals auf dem Höhepunkt seines Weltruhmes stehenden Humanisten mit Kelsterbach. „Albert Schweitzer kam bis Kelsterbach“ weiterlesen