Brief Albert Schweitzers an die Stadt Kelsterbach 1956 – Transkription

An den Herrn Bürgermeister
der Stadt Kelsterbach am Main,
Herrn Scherer

Dr. Albert Schweitzer
Lambarene. Gabun
Franz. Aequatorial[a]frika
Juni 1956

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,

Sie und der Magistrat der Stadt tun mir die Ehre an, eine Strasse im neuen Umlegungsgebiet nach mir zu benennen zu wollen [sic!]. Ich danke Ihnen dafür und gebe Ihnen gerne meine Einwilligung. Ich finde es schön, dass die Strasse der Kirchen nach mir heißt. Wenn man fern in der Welt lebt, wo keine Kirchen sind, dann weiss man es zu schätzen, dass in der europäischen Heimat, die Häuser sich um die Kirche schaaren [sic!] und am Sonntag die Glocken zum Kirchgang einladen. Mögen die Kirchen dem neuerstehenden Stadtteil zum Segen gereichen.

Ich schreibe in der Nacht nach einem schweren Tag. Wollen Sie, bitte, den Herren des Stadtrats, den Herren der Geistlichkeit und der Einwohnerschaft meine besten Grüsse ausrichten. Nun hab ich den grossen Atlas vom Schaft gelangt und auf den ersten Blick Kelsterbach gefunden. Die Strecke Frankfurt Mainz habe ich so manchesmal zurück gelegt, als ich noch Zeit hatte zu reisen. Die liebliche Landschaft ist mir in Erinnerung geblieben. Lassen Sie mich, bitte wissen, wann die Strasse eingeweiht wird, damit ich in der Ferne in Gedanken dabei bin. Mit besten Gedanken, gestern hier angekommen:

Ihr ergebener Albert Schweitzer „Brief Albert Schweitzers an die Stadt Kelsterbach 1956 – Transkription“ weiterlesen

Der Orgelfachmann und Bach-Interpret Albert Schweitzer und mein Weg zur Orgel (II)

(erschienen im 49. „Rundbrief für alle Freunde von Albert Schweitzer“, Mai 1980)

Dem Andenken von Prof. Dr. Erwin R. Jacobi (1909-79) gewidmet
(Die Kerngedanken dieses Aufsatzes veröffentlichte Rainer Noll erstmals im „Schweizerischen Reformierten Volksblatt“ Nr. 17, 107. Jahrgang; Basel, 8. November 1973)

Teil II: DER BACH-INTERPRET – VERSUCH EINER DEUTUNG

„Der Orgelfachmann und Bach-Interpret Albert Schweitzer und mein Weg zur Orgel (II)“ weiterlesen

Der Orgelfachmann und Bach-Interpret Albert Schweitzer und mein Weg zur Orgel (I)

(erschienen im 48. „Rundbrief für alle Freunde von Albert Schweitzer“, November 1979)

Dem Andenken von Prof. Dr. Erwin R. Jacobi (1909-79) gewidmet
(Die Kerngedanken dieses Aufsatzes veröffentlichte Rainer Noll erstmals im „Schweizerischen Reformierten Volksblatt“ Nr. 17, 107. Jahrgang; Basel, 8. November 1973)

Teil I: DER ORGELFACHMANN – EINE DOKUMENTATION

„Der Orgelfachmann und Bach-Interpret Albert Schweitzer und mein Weg zur Orgel (I)“ weiterlesen

Im Geiste Silbermanns

Einige Thesen zum Thema

Albert Schweitzer und die Silbermann-Orgel

(für „organ“ 2/98)

1) Die Begegnung mit einigen älteren Orgeln, die Albert Schweitzer im Elsaß in seiner Jugend kennengelernt hatte, nährten seine Zweifel in Bezug auf den Orgelbau seiner Zeit. Zu nennen sind hier u. a. die Walcker-Orgeln in St. Stephan zu Mülhausen (1866) und in der Ev. Kirche zu Münster (1873). Dieser Anstoß führte schließlich zur „Elsässischen Orgelreform“, die nach dem Ersten Weltkrieg in der „Orgelbewegung“ weitergeführt wurde (jedoch mit veränderter Zielsetzung).

2) Einige dieser alten Orgeln waren ursprünglich im 18. Jahrhundert von der im Elsaß wirkenden Orgelbauerfamilie Silbermann erbaut worden (z. B. in St. Matthäus zu Colmar und in St. Thomas, St. Aurelien, St. Wilhelm und St. Nikolaus zu Straßburg). Zu Schweitzers Zeit befand sich keine dieser Orgeln mehr im Originalzustand. Sie hatten z. T. erhebliche Änderungen und Erweiterungen im Sinne des 19. Jahrhunderts erfahren (z. B. Vermehrung der 8′-Register, erweiterter Ausbau des Pedals, Ersetzung des Echo-Werks durch ein vollständiges III. Klavier oder ein Schwellwerk, Wegfall des Rückpositivs). „Im Geiste Silbermanns“ weiterlesen

Albert Schweitzer: unzeitgemäß aktuell

(Vortrag von Rainer Noll, 25.9.2010, Ev. Barockkirche Wiesbaden-Auringen, 17 Uhr)

Ich beginne mit Präludium d-moll BWV 539 auf der Raßmann-Orgel von 1889 (manualiter wegen nachoperativer Fußerkrankung) – Dann Hörbeispiel: Albert Schweitzer spielt Präludium C-dur BWV 545 auf der Orgel in All Hallows by the Tower, Barking Essex /London (Aufnahme: 16.-18.12.1935).

Große Ähnlichkeit des Klangbildes und der Spielweise.

Vor 45 Jahren, am 4. September 1965, starb Albert Schweitzer in seinem Urwaldhospital Lambarene in Afrika im 91. Lebensjahr. Als Motto zum heutigen Thema möchte ich ein Wort Albert Schweitzers voranstellen: „Die Wahrheit hat keine Stunde. Ihre Zeit ist immer und gerade dann, wenn sie am unzeitgemäßesten erscheint.“ Unzeitgemäß ist Schweitzer ganz gewiss, aber deshalb (oder gerade deshalb) nicht weniger aktuell. Man denkt an André Gides Feststellung, dass das Denken nur so weit Gültigkeit bewahrt, als es inaktuell ist. Lassen Sie mich versuchen, Ihnen einen Albert Schweitzer vorzustellen, wie Sie ihn bisher wohl noch nicht gekannt haben, ja vielleicht nicht für möglich hielten.

Sie werden kaum erraten, von wem ich aber zunächst spreche: Er gehört in eine Reihe mit Hitler, Stalin oder Pol Pot und ist einer der vergessenen Massenmörder des 19. und 20. Jahrhunderts. Von diesen unterscheidet ihn allerdings, dass er, um sich persönlich zu bereichern, und zwar um 231 000 000 € nach heutigem Wert, den Tod von mindestens 10 000 000 Männern, Frauen (ohne Rücksicht auf Schwangere) und Kindern in Kauf nahm (Schätzungen gehen teils auf mehr als das Doppelte). Und ausgerechnet dieser Mann schmückte sich mit humanitären Parolen und verkündete 1876 bei der von ihm einberufenen Konferenz der „amis de l’humanité“ (also „Freunde der Menschlichkeit“): „Der Zivilisation den einzigen Erdteil zugänglich zu machen, in den sie noch nicht vorgedrungen ist, und die Finsternis zu durchdringen, die noch ganze Völker umhüllt, dies ist ein Kreuzzug, der unseres Jahrhunderts des Fortschritts würdig ist.“ [armer Mann, in welcher Finsternis lebtest Du eigentlich selbst?] Bei dieser Konferenz hob man die „Association Internationale Africaine“, die Internationale Afrika-Vereinigung, aus der Taufe und erkor ausgerechnet diesen Mann zu deren Präsidenten. Diese Vereinigung sollte künftig Unternehmungen zur „wissenschaftlichen Erforschung der unbekannten Teile Afrikas“, zur „Zivilisierung des inneren Afrika“ und zur „Unterdrückung des Sklavenhandels“ koordinieren. Unter diesem Deckmantel riss er sich das Kongo-Becken als privaten Besitz von 1885 bis 1908 unter den Nagel und beutete das Land schonungslos aus, vor allem wegen des Kautschuks, den Dunlop und Goodyear für die aufkommende Reifenproduktion benötigten (die Schiffe fuhren beladen mit Kautschuk, Gold und Elfenbein nach Europa und kehrten mit Waffen beladen zurück nach Afrika). Wer von den Eingeborenen das Soll nicht erfüllte, wurde kurzerhand erschossen. Den Offizieren musste von jedem Erschossenen eine abgehackte Hand als Beweis für den zweckmäßigen Gebrauch der teuren Munition vorgelegt werden. Jagd auf Tiere war den Soldaten deshalb verboten, und wer es doch tat, hackte einfach lebenden Menschen für jede verschossene Kugel die geforderten Hände ab. Manchmal „erlegten“ sie auch einfach zum Zeitvertreib die Einheimischen. Offiziere schmückten ihre Gartenzäune mit Köpfen von Erlegten. Dies alles nur die Spitze des Berges der Gräueltaten, von denen wir u. a. aus Tagebüchern des schwedischen Geistlichen Sjöblom und auch durch den Schriftsteller Joseph Conrad („Heart of Darkness“, 1899) wissen!

(Quelle auch Adam Hochschild, „King Leopold’s Ghost“, 1998)

Was sich hier auch zeigt: manche Länder der so genannten 3. Welt sind keineswegs arm von Natur aus, sondern reich an Bodenschätzen und Handelsgütern – und deshalb ausgebeutet und arm gemacht für unseren Wohlstand.

 

Wer war nun dieser Mann, der dies alles als Landesherr des „Kongo-Freistaates“ zumindest duldete um seines Profites willen und mit hohen Bestechungsgeldern die öffentliche Meinung zum Schweigen brachte (was ihm zum Glück nicht vollkommen gelang)? Es war der sich verlogen christlich-humanitär gebende König der Belgier, Leopold II. aus dem Haus Sachsen-Coburg und Gotha (1835-1909), der heute noch in seinem Land in Ehren steht (z. B. Straßen und Plätze tragen noch seinen Namen). Ein Zeichen für intaktes Volksempfinden mag sein, dass die Bevölkerung buhte, als sich der Trauerzug mit seinem Leichnam durch die Straßen bewegte (was, dies ahnend, gegen seinen Wunsch geschah).

 

Ebenfalls in Zentralafrika, nur durch Französisch Kongo (heute Republik Kongo) von Belgisch Kongo (heute Demokratische Republik Kongo) getrennt, liegt die ehemalige französische Kolonie Gabun (alle seit 1960 unabhängig). Hier gründete Albert Schweitzer 1913, also nur vier Jahre nach Leopolds Tod, sein Urwaldspital Lambarene. [Als Goebbels einen Brief an Schweitzer „mit deutschem Gruß“ unterzeichnete, antwortete dieser „mit zentralafrikanischem Gruß“]

Einen anderen Geist der Wahrhaftigkeit, völlig konträr zu der Doppelzüngigkeit Leopolds, bezeugen die Worte Schweitzers: „Zuletzt ist alles, was wir den Völkern der Kolonien Gutes erweisen, nicht Wohltat, sondern Sühne für das viele Leid, das wir Weiße von dem Tage an, da unsere Schiffe den Weg zu ihren Gestaden fanden, über sie gebracht haben.“ (AS, „Wir Epigonen“, München 2005, S. 338) „Draußen in den Kolonien geht es trostlos zu. Wir – die christlichen Nationen – schicken den Abschaum unserer Gesellschaft hin; wir denken nur daran, wie wir aus den dortigen Menschen viel herausziehen … kurz, was draußen vorgeht, ist ein Hohn auf Menschlichkeit und Christentum. Soll die Schuld einigermaßen gesühnt werden, so müssen wir Menschen hinausschicken, die im Namen Jesu Gutes tun, nicht ,bekehrende Missionare‘, sondern Menschen, die das an den Armen tun, was man tun muss, wenn die Bergpredigt und die Worte Jesu zu Recht bestehen. Bringt das Christentum das nicht fertig, so ist es gerichtet.“ (zitiert nach Peter Münster, „Albert Schweitzer“, München 2010, S. 27f)

Wozu diese Einleitung? Bei der Gegenüberstellung Leopold II. – Albert Schweitzer lässt der Blick in Leopolds Schatten uns Schweitzer in gleißendem Licht erscheinen, nicht im Strahlenkranz des Heiligenscheins, eher in dem durchdringenden von Röntgenstrahlen. Auf der einen Seite ein „christlicher“ König mit Phrasen der Humanität auf den Lippen, die ihm als Tarnung dienen, während er in Wahrheit vom Schreibtisch aus zum brutalen Massenmörder aus Profitgier wird, der sich nie selbst in den Kongo (und damit in Gefahr) begeben hat. Auf der anderen Seite Schweitzer, der seinen zwei Doktortiteln (in Philosophie und Theologie) einen dritten in Medizin hinzufügt und auf eine gesicherte Existenz und Karriere als Hochschullehrer für Neues Testament und als gefragter Organist verzichtet, um vor Ort im mörderischen Klima Afrikas als Arzt die physische Not der Eingeborenen zu lindern, dabei Gesundheit und Leben riskierend. Auf seiten Leopolds neben der Inhumanität auch noch himmelschreiende Unwahrhaftigkeit und Verlogenheit – auf Schweitzers Seite die Verkörperung von Humanität in Wort und Tat, also höchste Wahrhaftigkeit und Authentizität, deren Fehlen noch heute mancher öffentlichen Persönlichkeit in Politik und Kirche gleichermaßen die Glaubwürdigkeit kostet und zu der vielbeklagten Verdrossenheit führt.

Es bleibt bei Schweitzer eben nicht bei Worten. Er hat zwar den Mut, die Missstände beim Namen zu nennen, aber er klagt nicht nur an und fordert andere zum Handeln auf, sondern er selbst tut, was ihm möglich ist, auch wenn dies vielleicht nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein ist. Er tut dies, einfach weil es getan werden muss, aus innerer Notwendigkeit in der Haltung eines Idealismus, der seinen Lohn in sich selbst trägt und nicht von äußerer Beachtung und Anerkennung abhängt. Dies mag ein Grund sein, dass ihm später diese Anerkennung im Übermaß zuteil wurde, gerade, weil er sie nicht gesucht hat – dann allerdings mit der Verklärung zur Legende und zum Heiligen, der er nicht war (seine Tochter Rhena sagte das immer wieder). Die Kraft seiner Persönlichkeit liegt in der Kongruenz von Denken und Leben, von Wollen und Tun – und dies beeindruckt bis auf den heutigen Tag, sofern noch ein Gespür dafür vorhanden ist. Denn zu leicht gewöhnt man sich resignierend auch an das Gegenteil, wenn man einfach der normativen Kraft der Wirklichkeit erliegt statt selbst auf diese zurückzuwirken. Der andere große Albert, Einstein, meinte deshalb zuversichtlich: „Am Ende muss doch ein unzerstörbarer guter Kern in vielen sein, sonst hätten sie nie seine schlichte Größe erkannt.“ (zitiert nach Friedrich Schorlemmer, „Albert Schweitzer – Genie der Menschlichkeit“, Berlin 2009, S. 243) Für die Nachkriegszeit mit ihrem Hunger nach Idealen mag das gelten. Es ist zumindest fragwürdig, ob dies heute noch, über ein halbes Jahrhundert später, zutrifft.

 

Vor diesem Hintergrund dürfte auch überdeutlich werden, wie verfehlt es ist, Schweitzer als Kolonialisten oder gar Rassisten zu interpretieren, nur weil er sein Spital mit der Autorität eines Patriarchen führte und auch gelegentlich eine Ohrfeige verteilte. Oder auch, weil er dem Sprachgebrauch der Zeit folgend noch von „Negern“ und „primitiven Völkern“ sprach. Er sah sich selbstbewusst als der ältere Bruder der Eingeborenen – aber eben doch als Bruder und nicht als Besitzer und Ausbeuter. Als solcher war er als Herr zugleich ihr erster Diener, der keinerlei Profit aus den Menschen zog – ganz im Gegenteil! Dem Geist nach war ihm die Würde des Afrikaners, wie die jedes Menschen, unantastbar.

Auch Schweitzers Christentum, das völlig mit seiner Humanität verschmilzt, wird gegenüber dem Leopolds mehr als deutlich. Da umhüllt sich ein König mit dem Mantel der Frömmigkeit, um die Bestie dahinter zu verbergen (und er ist nicht der einzige in der Geschichte!). Schweitzer dagegen antwortet auf Jesu Ruf „Du aber folge mir nach“ schlicht mit „Herr, hier bin ich“ und nimmt ohne viele Worte sein Kreuz des Dienens mit allen Konsequenzen auf sich – wahre Demut. Auch hier wieder verfehlte Interpretationen: in manchen Kreisen wollte und will man Schweitzer absprechen, dass er noch Christ sei. Dies liegt an seiner Theologie, die in der Tat liberaler ist als manche ahnen, selbst Verehrer. Das heißt im Klartext, wie er selten gesprochen wird: Jungfrauengeburt und Gottessohnschaft, Sündenvergebung durch Jesu Kreuzestod und deren Vergegenwärtigung im Abendmahl, Trinität und selbst Auferstehung sind für ihn keine Themen. Daher auch seine Nähe zum Bund für freies Christentum, dessen erster Ehrenpräsident er wurde, und zu den Unitariern, dessen Ehrenmitglied er war (wie der Name schon sagt, lehnen diese auch die Trinitätslehre ab – siehe hierzu: Werner Zager, „Albert Schweitzer als liberaler Theologe“, Berlin 2009, S. 176 ff). Er ist sich durchaus bewusst, dass manche seine Auffassung nur für Atheismus halten können (siehe z. B. Brief von Silvester 1905 an Helene Bresslau, AS+HB, S. 125). Er lässt aber aus Ehrfurcht jedem seinen Glauben und spricht sich deshalb nie herablassend über andere Auffassungen aus.
So verwundert es auch nicht, dass die Pariser Missionsgesellschaft ihn zunächst als Missionar ablehnte, da er zwar „die rechte christliche Liebe, aber nicht den rechten Glauben“ habe, worauf er Medizin studierte, um „stumm wie ein Karpfen“ in Afrika wirken zu können.

Diese aufgeklärte Liberalität als Erbe des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts lässt meist übersehen, dass er in der Nachfolge radikaler ist als die meisten, die ihm das Christsein streitig machen wollen. Und diese Nachfolge ohne Wenn und Aber ist das Einzige, worauf es ihm ankommt. Wenn manche ihn also nicht als „Christ“ gelten lassen wollen, müssten sie ihn streng genommen als „Jesuaner“ umso ernster nehmen. Als Jesus an seine Jünger herantrat und sie zur Nachfolge aufrief, hielt er auch nicht erst eine dogmatische Glaubensprüfung zur Zulassung ab. Was zählte, war die unbedingte Nachfolge, ja bis hin zum harten Wort „lass die Toten ihre Toten begraben“, das ein Nachfolgewilliger zu hören bekam, der aber erst noch seinen Vater begraben wollte (Mtth. 8, 21+22). Als das große Geheimnis erfährt Schweitzer, was es heißt, sein Leben zu gewinnen, das er in der Nachfolge Christi aufgegeben zu haben meinte. In dem Satz „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mtth. 25, 40) gipfelt für ihn sein Christsein. Daneben sind ihm alle theologischen Spitzfindigkeiten zweitrangig. Er warnt sogar vor denen, die von Gott reden, „als hätten sie mit ihm gefrühstückt“: „Bruder Mensch: Aus Frömmigkeit nicht von Gott reden.“ (K III 1+2, S. 441)

 

Hörbeispiel: Albert Schweitzer spielt „Christum wir sollen loben schon“ BWV 611 an der Silbermann-Orgel in St. Aurelien in Straßburg (Aufnahme: 20.-29.10.1936).

Als Theologe ist er ein Verfechter der so genannten konsequenten Eschatologie, wenn nicht sogar ihr Begründer. D. h. er versteht Jesus (wie auch Paulus) ganz aus der Weltanschauung der spätjüdischen Apokalyptik heraus. Diese erwartete das Anbrechen des Reiches Gottes in allernächster Zukunft dadurch, dass Gott selbst das apokalyptische Ende der Welt herbeiführen und seine ewige Herrschaft errichten würde. Jesus meinte, dies noch in seiner Generation zu erleben (deshalb so radikale „Interimsethik“, die sich nicht mit den bald überwunden geglaubten gesellschaftlichen Verhältnissen, überhaupt mit der Welt und deren Zukunft abgab!). Hierin hat Jesus sich, so Schweitzer, geirrt („Parusieverzögerung“!) – für manchen Strenggläubigen eine ungeheure Ketzerei!

Für Schweitzer ist diese eschatologische Weltanschauung, der Jesus verhaftet war und die uns seine Botschaft manchmal so befremdlich erscheinen lässt, überholtes Gedankengut des Spätjudentums, das wir ohne Herumdeuteln als zeitbedingt so stehen lassen müssen. Was bleibt, ist Jesu Liebesgebot, seine Ethik der Nächstenliebe, mit der er uns gebietet: Du aber folge mir nach. Wer diesem Ruf folgt, wie er es selbst getan hat, der ist für Schweitzer Christ, unabhängig von allen dogmatischen Bekenntnissen. „Wir lassen es uns nicht nehmen, dass der rechte Glaube an das Evangelium sich in der Betätigung desselben zu erweisen habe.“ (RGCh, S. 358) Schlicht als Jünger Jesu am Reiche Gottes mitzuarbeiten, ist ihm mehr als genug.

In Vorfreude auf sein zukünftiges unmittelbares menschliches Dienen hatte er am 1.5.1904 an Helene Bresslau, seine zukünftige Frau, geschrieben: „Und dann das Recht haben, ein Ketzer zu sein! Nur Jesus von Nazareth kennen; die Fortführung seines Werkes als einzige Religion haben, nicht mehr ertragen zu müssen, was das Christentum an Plebejischem, an Vulgärem an sich hat. Nicht mehr die Angst vor der Hölle kennen, nicht mehr nach den Freuden des Himmels trachten, nicht mehr diese falsche Furcht haben, nicht diese falsche Unterwürfigkeit, die ein wesentlicher Bestandteil der Religion ist – und doch wissen, daß man Ihn, den einen Großen, versteht und daß man sein Jünger ist. Gestern las ich das 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums, weil ich so sehr den Vers liebe: «Was ihr getan habt einem dieser Geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan.» Aber wo beim Jüngsten Gericht von der Scheidung der «Schafe und der Böcke» die Rede ist, da lächelte ich: Ich will nicht zu den Schafen und im Himmel treffe ich sicher eine ganze Gesellschaft, die ich nicht mag: St. Loyola, St. Hieronymus, und ein paar preußische Oberkirchenräte – und mit diesen allen freundlich tun und den Bruderkuss austauschen? Nein, ich verzichte, lieber in die Hölle, dort ist die Gesellschaft weniger gemischt. Mit Julian Apostata, Caesar, Sokrates, Platon und Heraklit läßt sich schon ein anständiges Gespräch führen.“ (AS+HB, S. 68) So offen hat er natürlich in seinen Predigten und Büchern nie gesprochen, um nicht zu irritieren und zu verletzen.

 

Sein Verhältnis zu Jesus ist ein unmittelbares von Wille zu Wille: „Keine Persönlichkeit der Vergangenheit kann durch geschichtliche Betrachtung oder durch Erwägungen über ihre autoritative Bedeutung lebendig in die Gegenwart hineingestellt werden. Eine Beziehung zu ihr gewinnen wir erst, wenn wir in der Erkenntnis eines gemeinsamen Wollens mit ihr zusammengeführt werden, eine Klärung, Bereicherung und Belebung unseres Willens in dem ihrigen erfahren und uns selbst in ihr wiederfinden.“ (GW 3, S. 886) „…alles, was man Wirkliches über Erlösung aussagen kann, geht zuletzt darauf zurück, dass wir in der Willensgemeinschaft mit Jesus von der Welt und uns selbst frei werden und Kraft und Frieden und Mut zum Leben finden.“ (GW 3, S. 885) „Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist…“ (GW 3, S. 887) Für ihn ist Jesus der „Herr“ und nicht der „Bruder“, wie es heute so oft zu hören ist.

 

Schweitzer ist erfüllt von Hoffen und Sehnen nach der Verwirklichung des Reiches Gottes, der zentrale Begriff seiner Theologie. Reich Gottes als ethische Größe, als Ernstmachen mit wahrer Humanität, ist der Motor für all sein Tun auf allen Gebieten. Die Bitte „Dein Reich komme“ im Vaterunser, das er als eigentliches Glaubensbekenntnis und als den „Polarstern des christlichen Glaubens“ bezeichnet (RGCh, S. 351 ff.), ist für ihn nicht mehr die Bitte um Gottes Handeln in einer apokalyptisch hereinbrechenden Umgestaltung der Welt wie in der spätjüdischen Eschatologie. Bereit sein für das Reich Gottes heißt für ihn, bereit sein, hier und jetzt selber Hand anzulegen und Erlösung von Leid zu bringen, wo immer es möglich ist. Reich Gottes ist für ihn nichts zu Erwartendes, sondern etwas zu Verwirklichendes, nicht Endlösung, sondern ständige Aufgabe. – Konkretes Beispiel: Eine oft zu hörende Bitte „Herr, mache Frieden in der Welt“ würde er als Missbrauch Gottes als Weltpolizisten verstehen, ja als Abwälzen der Verantwortung, es nicht selbst zu tun, angefangen vom Frieden in unseren Herzen bis hin zum Weltfrieden. Es ist unsere, nicht Gottes Schuld, wenn kein Friede in der Welt ist.

 

Hier setzt auch seine Kritik an der „Amtskirche“ jeglicher Form ein. 1948 schreibt er: „Die Kirche muss sich bewusst bleiben, ständig in Gefahr zu sein, an die Stelle des Reiches Gottes treten zu wollen, statt ihm zu dienen.“ (RGCh, S. 391) Bereits in seiner letzten Vorlesung als Privatdozent an der Universität Straßburg am 29. Februar 1912 sagte Schweitzer dazu: „Wer das sieht, kann darauf, dass die Kirche Selbstzweck geworden ist, nur mit Hass blicken. Keiner liebt das Christentum, der nicht diesen Hass erlebt hat; aber er liebt es zugleich mit wissendem Hass, da ihm klar ist, dass das Gute, das dort gebunden ist und fast als negative Gewalt wirkt, nicht frei wird dadurch, dass die Zertrümmerung mit blinder Gewalt geschieht (…) Das Böse überwinden mit Gutem! (…) Hassend muss man wissen, dass nur der religiöse Geist hassen darf, weil er nicht das Religiöse an sich hasst, sondern nur seine Gebundenheit, in der es dort hemmend wirkt.“ (StrV, S. 718f)

Die Lebendigkeit der Kirche hängt für Schweitzer nicht an einer äußerlichen Rechtgläubigkeit, an verbalen Bekenntnissen oder etwa an Bemühungen um liturgische Umgestaltung der Gottesdienste in modernere Formen, noch erwartet er sie davon. Einzig, wie viel gemeinschaftsstiftendes Sehnen nach der Verwirklichung des Reiches Gottes in ihr glüht, ist für ihn der Maßstab, wie lebendig oder tot Kirche ist. –

Erlauben Sie mir, hier darauf hinzuweisen, dass die Kirche gerade in ihrer heutigen relativen Unabhängigkeit in unserem Land eine Institution ist, die ein großes Angebot zu machen hat, ohne etwas verkaufen zu wollen (ganz anders erlebte ich die Situation z. B. in den USA). Da gibt es also etwas „gratis“ = umsonst, und das hängt schon etymologisch mit lat. „gratia“ = Gnade, Dank, Wohlgefälligkeit zusammen und erinnert an den reformatorischen Grundsatz „sola gratia“ (allein durch Gnade). Sie hat nicht nötig, irgendjemandem nach dem Mund zu reden – wenn sie dem, was ankommt, hinterherjagt statt dem, worauf es ankommt, verliert sie sich selbst. Sie hat die ungeheure Chance, Salz der Erde und Sauerteig der Gesellschaft zu sein – aber die will auch genutzt sein. Der Inhalt ihres Angebotes macht ihre Attraktivität aus, nicht die Verpackung – bedenklich wird es, wenn die Verpackung attraktiver als der Inhalt wird.

Denken Sie nur einmal darüber nach, warum die Zehn Gebote nicht Verbote heißen: sie sind ein Angebot, das Leben in Gemeinschaft zu meistern – eine Zusage: statt „du sollst“ wäre besser zu übersetzen „du wirst“ im Sinne eines Zutrauens von „du wirst das schon schaffen…“.

 

Von nichts und niemandem lässt Schweitzer sich das Recht streitig machen, selbst schöpferisch zu denken. Auch Religion ist für ihn nicht etwas, das das Denken ersetzt, sondern das es voraussetzt (K III 1+2, S. 468, K III 3+4, S. 383). „Das verlorene Schaf ist heute der Mensch, der das Bedürfnis des Denkens hat. Aber die Kirche sendet nach diesem verlorenen Schaf keinen Hirten aus…“ (RGCh, S. 391) Selbständig Denkende sind nicht nur kirchlichen Organisationen suspekt. Die Zukunft des Christentums hängt für Schweitzer mit davon ab, „ob es denkenden Menschen das sein wird, was es ihnen sein kann und sein soll, oder ob es sich ganz auf nichtdenkende einstellen will.“ (RGCh, S. 344) Die Kirche blockiert nach Schweitzer gerade den Denkenden den Zugang zur Ethik, indem sie sie nur in Verbindung mit überholten dogmatischen Vorstellungen gelten lassen will (StrV, S. 718). So macht ihm die Religion heute „den gleichen Eindruck wie ein afrikanischer Fluss in der Trockenzeit – ein großes Flussbett, Sandbänke und dazwischen ein schmaler Wasserlauf, der sich seinen Weg sucht.“ (bei Seaver, S. 362)

Die Idee des Reiches Gottes ist bei Schweitzer das Bindeglied zwischen seiner Theologie und seiner Kulturphilosophie: in ihr ist die Einheit seines Denkens verankert. „Einzig durch die Reichgottesidee gelangt die Religion in Verbindung mit der Kultur.“ (bei Seaver, S. 364) Seine Bemühungen um das Reich Gottes und seine Bemühungen um die Kultur, d. h. „Reich Gottes“ und „Kulturstaat“, sind bei ihm identisch. Mit seinem Spitaldorf Lambarene als einem „Dorf des Reiches Jesu“ (Spear, S. 75) wollte er dazu praktisch die Keimzelle legen, und theoretisch blieb er mit beiden beschäftigt bis in seine letzten theologischen wie philosophischen Schriften. So bleibt er als Theologe Kulturphilosoph und als Kulturphilosoph Theologe und als beides immer er selbst. Der so genannte Kulturprotestantismus, von manchen Kreisen belächelt, wird von ihm hoch geschätzt (RGCh, S. 354 ff). Für ihn ist der Protestantismus geradezu kulturtragend, weil für ihn zu seinem Wesen gehört, „dass er eine Kirche ist, die nicht kirchgläubig, sondern christgläubig ist. Dadurch ist ihm verliehen und aufgegeben, durchaus wahrhaftig zu sein. Hört er auf, unerschrockenes Wahrheitsbedürfnis zu besitzen, ist er nur noch ein Schatten seiner selbst und damit untauglich, der christlichen Religion und der Welt das zu sein, wozu er berufen ist.“ (GW 3, S. 36) Wahrhaftigkeit sich selbst und anderen gegenüber ist für Schweitzer das zentrale Fundament allen geistigen Lebens überhaupt.

 

Kommen wir nun zu Schweitzers Philosophie:

Vom Denken verlangt Schweitzer, dass es „elementar“ sei, d. h. dass es ausgeht von den Grundfragen, die uns entweder bedrängen, oder die wir verdrängen, die uns aber immer umgeben. Was ist der Sinn meines Daseins und welchen Inhalt soll mein Leben haben? „Was bedeuten die Gesellschaft, in der ich lebe, und ich selber in der Welt? Was wollen wir in ihr? Was erhoffen wir von ihr?“ (K I, S 63) Fragen, auf die sowohl Religion wie Philosophie eine Art Antwortversuch darstellen.

Der Verzicht auf das Denken, eigenes Denken, gilt ihm als Hauptursache des Niederganges der Kultur. Dem lockeren Spruch des Physikers und Kabarettisten Vince Ebert (übrigens 1968 geboren in Miltenberg, wo wir am 4.9. bei der Orgelfahrt waren) hätte Schweitzer sicher zugestimmt: „Denken Sie selbst – sonst tun’s andere für Sie!“ Mit „Denken“ meint er kein auf mathematisch-logische und abstrakt-funktionale Kausalität reduziertes Denken, das den Denkenden selbst ausschließt, so, als ob dieser betrachtend neben sich und der Welt als Objekt stünde, statt sich als Subjekt in ihr zu erleben – eigenes Denken muss also für Schweitzer subjektiv-verbindlich sein (siehe K III 1+2, S. 455: „Die Angst vor dem Subjektivismus! (…) Der tiefe Subjektivismus hat den Wert des Objektiven, hat objektive Geltung.“). Denn Denken ist für ihn die Auseinandersetzung all dessen, was sich in mir an Wollen, d. h. auch an Gefühlen, überhaupt regt, mit all dem,  was ich außerhalb von mir von der Welt erkenne. Sein Denken ist im wahrsten Sinne des Wortes ganzheitlich, zugespitzt: er denkt mit Hirn, Herz und Hand. In mir erkenne ich als Elementarstes den Willen zum Leben. Auch außerhalb von mir treffe ich überall auf diesen (Über-)Lebenswillen. Also lautet nach Schweitzer der elementarste Satz meines Bewusstseins: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Da ich nicht anders kann, als diesem geheimnisvollen, weiter nicht zu ergründenden Lebenswillen in mir Ehrfurcht entgegen zu bringen, muss ich aus innerer Notwendigkeit allem anderen Willen zum Leben außerhalb von mir ebenso begegnen und ihm die selbe Ehrfurcht erweisen als Tat der Wahrhaftigkeit. Schweitzer spricht von „mystischer Ethik“ und „ethischer Mystik“ und bezeichnet sich als „Mystiker der Tat“, denn er wird eins mit diesem unergründlichen Willen in ihm, indem er ihn tätig auf seinen höchsten Wert bringt. So gelangt er zu seiner berühmten „Ehrfurcht vor dem Leben“, die er für das Grundprinzip aller Ethik und sogar für das ins Universelle erweiterte Liebesgebot Jesu hält. Von hier aus erhält sein Handeln einen sittlichen Wert: Gut ist, Leben zu erhalten und zu fördern und auf seinen höchsten Wert zu bringen – böse ist, Leben zu vernichten und es in seiner Entwicklung zu hemmen und zu schädigen. Damit ist Welt- und Lebensbejahung gegeben als Basis für einen Optimismus, der für Schweitzer keine Erkenntniskategorie, sondern eine Kategorie des auf Veränderung der Welt gerichteten Wollens ist. Er bezeichnete sich selbst als Pessimisten des Erkennens, aber als Optimisten des Wollens. –  Aber auch Lebensverneinung ist darin enthalten, denn um anderem Leben seinen Entfaltungsraum zu lassen, muss ich mich freiwillig selbst in gewissen Grenzen zurücknehmen, d. h. ich hindere bewusst meinen Willen zum Leben am zügellosen egoistischen Sichausleben um des anderen willen. Andererseits beinhaltet diese Ethik die Forderung nach Verinnerlichung, Sammlung und Selbstvervollkommnung. Hier muss auch die Musik genannt werden, die für den Organisten Schweitzer Meditation im Geiste war und die leider in meinen heutigen Ausführungen zu kurz kommt. Zur Selbstvervollkommnung gehört gerade, dass ich auch mein eigenes Leben auf den höchsten Wert bringen soll. Bildung ist in diesem Sinne auch immer Selbstbildung und Selbstzweck.

Etwas salopp könnte man heute als Forderung erweitern: Bildung statt nur Ausbildung, d. h. Erkenntnisse, die man nur selbst gewinnen kann, statt nur testbare Kenntnisse – Kenntnisse erhalte ich passiv durch die Einbahnstraße des Informationsflusses, mit Erkenntnis antworte ich aktiv darauf durch eigenes Denken. Eine Anhäufung von Fakten und Fertigkeiten, die mir völlig gleichgültig sind, kann nützlich sein, ist aber keine Bildung, wie umgekehrt Bildung ohne Wissen unmöglich ist. Da fällt mir ein Wort von Karl Kraus ein: „Es passt viel Wissen in einen hohlen Kopf.“ Jochen Krautz sagt in seinem lesenswerten Buch „Ware Bildung – Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie“ (Kreuzlingen/München 2007, S. 17): „Bildend wirkt Wissen, für das man sich begeistert, das einem etwas bedeutet, über das man nachdenkt, das man kritisch befragt, über das man streitet, das man immer wieder im Geiste hin und her wendet.“ Ist dies nicht der Fall, dann kann Wissen zum Ballast werden, den man nach der Prüfung getrost abwerfen kann. Deshalb eine weitere Forderung: nicht „Jobs“ zum bloßen Geldverdienen, sondern Berufe, zu denen man sich „berufen“ fühlt, bei denen das Dienen für ein sinngebendes Ziel statt des Verdienens im Vordergrund steht. Klar ist, dass Schweitzer unter Bildung etwas anderes versteht, als das bei PISA Getestete. Kaum einer fragt übrigens, wer oder was diese OECD ist, die die PISA-Studie durchführt: Organisation for Economic Co-operation and Development – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Dies spricht für sich: Ihr Ideal ist nicht die selbstständig denkende, unabhängige und kritische Persönlichkeit im Sinne Schweitzers, die für Werte wie Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit einsteht. Ihr Ziel ist eher der gut ausgebildete, flexible, angepasste und stromlinienförmige Mitläufer, der im globalen Wirtschaftsprozess reibungslos und damit effektiv funktioniert – der Schüler bzw. Student als von der Wirtschaft bestellte Ware und sofort verwendbares Endprodukt (Humboldt nannte die noch unumwunden „nützliche Idioten“ – hoch ausgebildet, aber nicht gebildet). „Ethik“ dient hier allenfalls als werbewirksames Et(h)ikett.

Dazu nochmals Jochen Krautz: „Leistung wird heute als maximale Verwertbarkeit verstanden. Leistung ist dann gleichgesetzt mit wirtschaftlicher Effizienz: Es soll möglichst viel für geringe Kosten dabei herauskommen.“ (a.a.O., S. 27) Leistung in diesem Sinne bewegt sich nur zwischen den Polen „Erfolg und Effizienz – Misserfolg und Versagen“ (statt in Spannung zu den Polen „Sinnerfüllung – Verzweiflung und Leere“, die quer zu den ersteren liegen). In der Schule fängt dies ja meist schon an: man lernt für Punkte oder den Numerus clausus, Inhalte sind dabei oft nur das Vehikel, aber nicht Gegenstand des Interesses. „Brauchbarkeit“ entscheidet. Der ganze Unterschied zu Schweitzer wird deutlich, wenn ich seinen Satz „Gut ist, Leben zu erhalten und zu fördern und auf seinen höchsten Wert zu bringen“ nur etwas abwandle im Sinne dieser Ökonomisierung der Verhältnisse: „Gut ist, Leben zu erhalten und zu fördern und auf seine höchste Verwertbarkeit zu bringen.“ Und schon ist das Leben statt Subjekt nur noch nützliches Objekt, statt Zweck nur noch verwertbares Mittel!

 

Damit zurück zu Schweitzer:

Seine Ethik umschließt bereits bekannte Grundsätze, von der Volksweisheit „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu“ bis hin zu „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Sie greift Volksweisheit und gesunden Menschenverstand auf, aber vertieft sie und führt sie weiter. Denn noch etwas folgt darüber hinaus aus Schweitzers Grundprinzip: Diese Ethik hat es nicht nur, wie die meiste bisherige Ethik, mit dem Verhalten von Mensch zu Mensch allein zu tun, sondern mit dem Verhältnis zu allem Lebendigen, ja sogar allem, was dem Leben dient (K III 1+2, S. 463). Man denke hier nur an die Umweltproblematik, um zu erkennen, dass in dieser Ethik ein ungeheures Potential für unsere Zeit schlummert, auch wenn Schweitzer von der philosophischen Fachzunft bisher ignoriert wurde und in kaum einer Philosophiegeschichte erwähnt wird. Heute kommt zur Frage, wozu wir leben, bedrohlich die Frage, wovon wir in Zukunft leben hinzu. Erhellend ist hier folgendes Wortspiel: Wenn die Schöpfung nur noch der Abschöpfung um rein wirtschaftlicher Wertschöpfung willen dient, führt dies unweigerlich zur Erschöpfung der Ressourcen.

 

Eine auf Ehrfurcht vor dem Leben gegründete Ethik führt unablässig in Konflikte: ich muss anderes Leben töten, um selbst zu überleben. Dies hat Schweitzer nicht übersehen („Selbstentzweiung des Willens zum Leben“). Im Gegenteil: gerade diese Konflikte fachen die Glut der Ethik an. Es ist eine ausgesprochene Gesinnungs- und Verantwortungsethik: nie darf der Einzelne aus der letzten Verantwortung für sein Tun entlassen werden, dessen Notwendigkeit in jedem einzelnen Fall und immer wieder neu nach bestem Wissen und Gewissen zu erwägen ist. Nie darf Töten (oder auch nur Schädigen) routinemäßig oder gedankenlos betrieben werden. Für seine Entscheidung steht jeder für sich in voller Verantwortung. Und wenn er doch töten muss, soll er wachsam, wo immer es möglich ist, Leid vermindern und Leben retten helfen als eine Art Sühne für die zwangsweise tragisch aufgeladene Schuld. Durch Hingabe wird er eins mit dem unendlichen Lebenswillen und damit zum „Mystiker der Tat“, indem er die Selbstentzweiung des Willens zum Leben, so weit ihm möglich ist, aufhebt. So trägt diese Ethik den Motor, Gutes zu tun, in sich selbst. Diese Ethik bietet also keine einfachen Patentlösungen, sondern hält das Gewissen ständig aufs Äußerste geschärft und sieht in Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit und Abstumpfung ihre größte Bedrohung. Also kein gutes Gewissen als Ruhekissen, denn für Schweitzer ist das gute Gewissen „eine Erfindung des Teufels“!

 

Soweit führte uns die Anschauung des Lebens, dessen Teil wir sind, die Lebensanschauung.

Und nun schauen wir uns die Welt außerhalb von uns an und kommen damit zur Weltanschauung. Dahinter steht wiederum das von der jeweiligen Naturwissenschaft gelieferte Weltbild.

Auch der Astrophysiker Stephen Hawking stellt in seinem soeben erschienenen Buch „Der große Entwurf – eine neue Erklärung des Universums“ (Hamburg, 2010, S. 11) folgende Fragen an den Anfang: „Wie können wir die Welt verstehen, in der wir leben? Wie verhält sich das Universum? Was ist das Wesen der Wirklichkeit? Woher kommt das alles? Braucht das Universum einen Schöpfer?“ Und er antwortet gleich: „Traditionell sind das Fragen für die Philosophie, doch die Philosophie ist tot. Sie hat mit der neueren Entwicklung in der Naturwissenschaft, vor allem in der Physik, nicht Schritt gehalten.“ Seine Fragen zielen auf etwas anderes als die genannten von Schweitzer: sie fragen mehr nach dem „Wie“  und dem „Warum“ als nach dem „Wozu“ und dem Sinn. Recht hat er, dass die Philosophie manchmal einen Nachholbedarf in Bezug auf Kenntnis der neuesten naturwissenschaftlichen Weltbilder hat, wie er in seinem Buch eines anbieten will – besonders bezüglich der Quantenphysik und der Gen- und Hirnforschung. Dies betrifft jedoch nur die Erkenntnistheorie, auf die Hawking Philosophie hier verengt, aber nicht die gesamte Philosophie als denkerische Auseinandersetzung. Natürlich muss das Weltbild auf dem neuesten Stand der Forschung sein, aber die daraus zu gewinnende Weltanschauung ist immer noch Sache des Denkens, vor allem, was die Sinnfrage betrifft. Naturwissenschaft bietet grandiose Antworten auf die Wie-Frage, beim Warum tut sie sich schon schwerer, aber bei der Sinnfrage muss sie passen (der durchs Fernsehen bekannte Astrophysiker Harald Lesch betont dies immer wieder).

Auch hier hat Schweitzer einen interessanten, bisher wenig beachteten Ansatz zu bieten.

 

Unbewusst oder bewusst besteht in uns ein Verlangen, das richtige, sinnvolle Handeln, also die Ethik und überhaupt den Sinn des Lebens, aus Welterkenntnis abzuleiten und es im Weltganzen als sinnvoll zu begreifen. Dies führte und führt oft dazu, dass auf dieses Weltganze ein Sinn projiziert wird, den uns eigentlich die Lebensanschauung eingeflüstert hat, und den wir nun, nach geglückter Selbsttäuschung, mit gewisser Genugtuung wieder aus unserer Erkenntnis der Welt herauszulesen meinen (so in manchen großen philosophischen Systemen, besonders des deutschen Idealismus – Hegel konnte, wenn seine Deutung nicht der Wirklichkeit zu entsprechen schien, noch sagen: „Um so schlimmer für die Wirklichkeit.“ – so auch in der oft konfliktreichen und kränkenden, weil die Eitelkeit verletzenden Ablösung des zunächst geozentrischen, dann heliozentrischen Weltbildes; nach dessen Unhaltbarkeit, und nachdem der Mensch aus dem Zentrum ins x einer Formel gerollt war [1], deuten viele heute die Feinabstimmung der Naturgesetze und -konstanten wieder anthropozentrisch, als hätte das ganze Universum nur ein Ziel: den Menschen hervorzubringen). Aus Wahrhaftigkeit, diesem Zentralbegriff in seinem Denken, will Schweitzer hier gründlich aufräumen. „Wenn das Denken sich auf den Weg macht, muss es auf alles gefasst sein, auch darauf, dass es beim Nichterkennen anlangt.“ (K I, S. 78 – anders K III 1+2, S. 284 und 300, und K III 3+4, S. 26!) Wahrhaftig denkend gelangt er zu einem radikal skeptischen und pessimistischen Ergebnis, indem er sich als Agnostiker in Bezug auf die Erkenntnis des Sinnes der Welt bekennt: „Die Aussichtslosigkeit des Unternehmens, den Sinn des Lebens in dem Sinn der Welt zu begreifen, ist zunächst damit gegeben, dass in dem Weltgeschehen keine Zweckmäßigkeit offenbar wird, in die das Wirken der Menschen und der Menschheit irgendwie eingreifen könnte. Auf einem der kleineren unter den Millionen von Gestirnen leben seit einer kurzen Spanne Zeit Menschenwesen. Auf wie lange? Irgendeine Herabsetzung oder Steigerung der Temperatur der Erde, eine Achsenschwankung des Gestirns, eine Hebung des Meeresspiegels oder eine Änderung in der Zusammensetzung der Atmosphäre kann ihrem Dasein ein Ende setzen. Oder die Erde selber fällt wie so manches andere Gestirn irgendeiner kosmischen Katastrophe zum Opfer. Was wir für die Erde bedeuten, wissen wir nicht. Wie viel weniger dürfen wir uns dann anmaßen, dem unendlichen Universum einen auf uns zielenden oder durch unsere Existenz erklärbaren Sinn beilegen zu wollen!“ (K II, S. 293, siehe auch K III 1+2, S. 167ff, 235ff und 307 ff) Mit diesem Eingeständnis glaubt Schweitzer so etwas wie eine kopernikanische Wende im abendländischen Denken herbeizuführen: „Ich glaube der erste im abendländischen Denken zu sein, der dieses niederschmetternde Ergebnis des Erkennens anzuerkennen wagt und in bezug auf unser Wissen von der Welt absolut skeptisch ist, ohne damit zugleich auf Welt- und Lebensbejahung und Ethik zu verzichten. Resignation in bezug auf das Erkennen der Welt ist für mich nicht der rettungslose Fall in einen Skeptizismus, der uns wie ein steuerloses Wrack in dem Leben dahintreiben lässt. Ich sehe darin die Wahrhaftigkeitsleistung, die wir wagen müssen, um von da aus zu der wertvollen Weltanschauung, die uns vorschwebt, zu gelangen. Alle Weltanschauung, die nicht von der Resignation des Erkennens ausgeht, ist gekünstelt und erdichtet, denn sie beruht auf einer unzulässigen Deutung der Welt.“ (K II, S.86/87) Deshalb fordert Schweitzer den Verzicht auf jederlei Bindung der Ethik an eine Deutung der Welt (religiös gesprochen heißt das bei ihm „anders sein als, bzw. frei sein von der Welt“). Allein aus der Lebensanschauung soll die Ethik ihre Kraft beziehen und  wahrhaftig, und damit freier und tüchtiger als zuvor für ihre Aufgabe werden, die Welt positiv zu verändern. So verzichtet er auf ein in sich geschlossenes, weil gekünsteltes philosophisches System: Er ergab sich aus Wahrhaftigkeit resignierend und zugleich innerlich triumphierend darein, den Dom unvollendet lassen zu müssen. Nur den Chor brachte er fertig. In diesem aber feierte er lebendigen und unaufhörlichen Gottesdienst (s. KII/335).

 

Hörbeispiel: Beginn der Rede Albert Schweitzers zur Verleihung der Ehrenbürgerschaft im Frankfurter Goethe-Haus am 9. Oktober 1959.

 

Wahrhaft groß bleibt Schweitzer in seiner ethischen Haltung, d. h. darin, dass er sich die Fragen des Urgrundes seines Seins nicht nur stellte, sondern sich ihnen mit seiner ganzen Existenz zu stellen versuchte – unablässig bis zu seinem Tod im 91. Lebensjahr ringend.

Kraftvoll war Schweitzer auch, weil ihn eigentlich nur das wirklich interessierte, was ihn innerlich berührte und was ihm zur lebendigen Kraft werden konnte, was etwas in ihm auslöste. In seinem Leben und Denken spürt man in allem die persönliche Betroffenheit seiner Person und die völlige Unabhängigkeit vom Urteil anderer und des Zeitgeistes. In allem war er ganz er selbst, ein „Original“ im wahren Sinn des Wortes. Er selbst verkörperte geradezu die Wirkung von Wille zu Wille und verstärkte sie auf andere. Alles Epigonenhafte, bloß Nachahmende, archaistische Tendenzen und Historizismus lehnte er ab. Es ging ihm um die Schaffung neuer Ideale für seine Zeit, die er durch eigenschöpferisches Ringen aus der Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft gewinnen wollte. Persönlichkeiten der Vergangenheit dienten ihm allenfalls als Katalysatoren für eigene geistige Prozesse, nie als zu kopierende Vorbilder. Der Glaube an die Kraft des eigenen Geistes gab ihm den Mut, selbständig neben historische Größen zu treten und den Faden der Geschichte in der Gegenwart weiterzuspinnen, wie Paulus es in der Theologie tat, den er deshalb den „Schutzheiligen des Denkens“ nennt.

 

Mit dreißig Jahren, auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn, schrieb Schweitzer: „Ich erwarte etwas anderes, das mein Leben betrifft! Ich habe nicht mehr den Ehrgeiz, ein großer Gelehrter zu werden, sondern mehr – einfach ein Mensch. (AS+HB, S. 83) Kraftvollen Menschen, die nichts weiter wollten als wahrhaft Mensch sein, im tiefsten Sinne Mensch sein, wie etwa Jesus und Buddha, wurde oft das Schlimmste gerade von ihren Jüngern und Interpreten angetan: durch zunächst Legenden- und dann Dogmenbildung in von ihnen nie gewollten organisierten Glaubensgenossenschaften wurden sie zu Heiligen oder gar Göttern „befördert“. Vor dieser Gefahr durch seine Anhänger war auch ein Albert Schweitzer nicht ganz gefeit, der ebenfalls „nur“ einfach Mensch sein wollte. Deshalb teile ich nicht die Meinung des amerikanischen Journalisten Norman Cousins: „Wenn Albert Schweitzer ein Mythos ist, so ist der Mythos wesentlicher als die Wirklichkeit. Denn die Menschheit braucht solch ein Bild, um leben zu können.“ (Norman Cousins, „Albert Schweitzer und sein Lambarene“, Stuttgart 1961, S. 131)

So geschah es besonders in den USA der Nachkriegszeit: man jubelte ihn hoch mit allen nur erdenklichen Superlativen zum „Genie der Menschlichkeit“, zum „größten lebenden Bach-Interpreten“ usw., um ihn sofort fallen zu lassen, als der gute Alte von Lambarene aus seiner von den Medien für ihn maßgeschneiderten Heiligenrolle fiel und den Mund aufmachte, um wegen des atomaren Wettrüstens die Weltöffentlichkeit aufzurütteln. Dies tat er als Friedensnobelpreisträger in vier Reden, die Radio Oslo 1957 und 58 in alle Welt ausstrahlte. Für weitere geplante Reden verweigerte man ihm in Oslo das Mikrophon unter dem Druck der USA, wo die Regierung schon zuvor die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Princeton und eine Radiosendung verhindert hatte (siehe Schorlemmer, a.a.O., S. 215 und 226). Er galt plötzlich als „Pazifist“ (fast ein Schimpfwort!) und hatte gewagt, die USA öffentlich zu kritisieren, und wer dies tat, wurde des Kommunismus‘ verdächtigt und, wie im Fall Einstein, sogar vom FBI observiert (es existiert eine dicke Akte – ein typischer Fall der vermeintlichen Kommunistenjagd der Ära McCarthy).

 

Albert Schweitzer hat es am wenigsten nötig, ins Gigantische überzeichnet zu werden. Denn er ist innerhalb seiner menschlichen Grenzen gewaltig genug, um vor jeder Wahrhaftigkeit zu bestehen. An dem „unmenschlichen“ Halbgott, zu dem er oft hochstilisiert wurde, droht derjenige, den er in seinen Bann zieht, eher zu zerschellen, statt Aufwind zu bekommen. Der Legenden-Heilige und Alles-Könner befriedigt bequem und angenehm unsere Sensationslust und dient unserem eigenen schlechten Gewissen als willkommenes Alibi: um wie vieles besser kommen wir anderen und vor allem uns selbst vor, wenn wir uns wenigstens öffentlich einreihen in die Schar der Bewunderer dessen, was ein anderer – stellvertretend – an anerkannt Gutem getan hat!

Der konkrete endliche Mensch Albert Schweitzer dagegen in seiner widersprüchlichen Komplexität und seinem Ringen mit sich ist reicher und unbequemer, er fordert uns heraus, stellt uns vor Entscheidungen und bringt uns innerlich weiter.

So mag Schweitzer mithelfen, dass wir innerlich gesammeltere Menschen werden. In Anlehnung an Schweitzer könnte man sagen: Bruder Mensch, stärke dich an den geistigen Quellen der Vergangenheit, aber gehe weiter in deine eigene Zeit, um ihr selbst lebendige Quelle zu sein.

 

So muss jeder sein eigenes Lambarene finden. Ein Aufruf Albert Schweitzers dazu als Abschluss:

„Schafft euch ein Nebenamt (…), ein unscheinbares, vielleicht ein geheimes Nebenamt. Tut die Augen auf und suchet, wo ein Mensch oder ein Menschen gewidmetes Werk ein bisschen Zeit, ein bisschen Freundschaft, ein bisschen Teilnahme, ein bisschen Gesellschaft, ein bisschen Arbeit eines Menschen braucht. Vielleicht ist es ein Einsamer oder ein Verbitterter oder ein Kranker oder ein Ungeschickter, dem du etwas sein kannst. Vielleicht ist es ein Greis oder ein Kind. Oder ein gutes Werk braucht Freiwillige, die einen freien Abend opfern oder Gänge tun können. Wer kann die Verwendungen alle aufzählen, die das kostbare Betriebskapital, Mensch genannt, haben kann! An ihm fehlt es an allen Ecken und Enden! Darum suche, ob sich nicht eine Anlage für dein Menschentum findet. Lass dich nicht abschrecken, wenn du warten oder experimentieren musst. Auch auf Enttäuschungen sei gefasst. Aber lass dir ein Nebenamt, in dem du dich als Mensch an Menschen ausgibst, nicht entgehen. Es ist dir eines bestimmt, wenn du es nur richtig willst…“  (AS, Kultur und Ethik, Kapitel XXII. In: GW 2, S. 393 f)

 

Hörbeispiel: „Mein Wort an die Menschen“ von Albert Schweitzer, gesprochen 1964 in Lambarene (vollständig).

Links des Originaltons (2 Teile, mit Genehmigung des Herausgebers Herrn Dr. med. C. Staewen, der die Aufnahme gemacht hat):

Hier der gedruckte Text:

„Ich rufe die Menschheit auf zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Diese Ethik macht keinen Unterschied zwischen wertvollerem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben. Sie lehnt eine solche Unterscheidung ab. Denn der Versuch, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen anzunehmen, läuft im Grunde darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserem Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen. Das aber ist ein ganz subjektiver Maßstab. Wer von uns weiß denn, welche Bedeutung das andere Lebewesen an sich und im Weltganzen hat? Die Konsequenz dieser Unterscheidung ist dann die Ansicht, dass es wertloses Leben gebe, dessen Vernichtung oder Beeinträchtigung erlaubt sei. Je nach den Umständen werden dann unter wertlosem Leben Insekten oder primitive Völker verstanden.

Die unmittelbare Tatsache im Bewusstsein des Menschen lautet: ,Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‘ Diese allgemeine Bejahung des Lebens ist eine geistige Tat, in der der Mensch aufhört dahinzuleben, in der er vielmehr anfängt, sich seinem Leben mit Ehrfurcht hinzugeben, um ihm seinen wahren Wert zu geben. Der auf diese Weise denkend gewordene Mensch erlebt zugleich die Notwendigkeit, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. So erlebt er das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm alsdann: Leben zu erhalten und zu fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert zu bringen. Als böse gilt ihm nun: Leben schädigen oder vernichten, entwickelbares Leben in der Entwicklung hindern. Dies ist das absolute und denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen. Durch die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben kommen wir in ein geistiges Verhältnis zur Welt.

In meinem Leben habe ich immer versucht, in meinem Denken und Empfinden jugendlich zu bleiben, und habe stets von neuem mit den Tatsachen und meiner Erfahrung um den Glauben an das Gute und Wahre gerungen. In dieser Zeit, in der Gewalttätigkeit sich hinter der Lüge verbirgt und so unheimlich wie noch nie die Welt beherrscht, bleibe ich dennoch davon überzeugt, dass Wahrheit, Friedfertigkeit und Liebe, Sanftmut und Gütigkeit die Gewalt sind, die über aller Gewalt ist. Ihnen wird die Welt gehören, wenn nur genug Menschen die Gedanken der Liebe und der Wahrheit, der Sanftmut und der Friedfertigkeit rein und stetig genug denken und leben.

Alle gewöhnliche Gewalt in dieser Welt schafft sich selber eine Grenze, denn sie erzeugt eine Gegengewalt, die ihr früher oder später ebenbürtig oder überlegen sein wird. Die Gütigkeit aber wirkt einfach und stetig. Sie erzeugt keine Spannungen, durch die sie sich selbst aufhebt, sondern sie entspannt die bestehenden Spannungen, sie beseitigt Misstrauen und Missverständnisse. Indem sie Gütigkeit weckt, verstärkt sie sich selber. Deshalb ist sie die zweckmäßigste und intensivste Kraft. Was ein Mensch an Gütigkeit in die Welt hinausgibt, das arbeitet an den Herzen der Menschen und an ihrem Denken. Unsere törichte Schuld ist, dass wir nicht ernst zu machen wagen mit der Gütigkeit. Wir wollen immer wieder die große Last wälzen, ohne uns dieses Hebels zu bedienen, der unsere Kraft verhundertfachen kann. Eine unermesslich tiefe Wahrheit liegt in dem Worte Jesu: ,Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.‘

Die Ehrfurcht vor dem Leben gebietet uns, den hilfsbedürftigen Völkern in der Welt Hilfe zu bringen. Den Kampf gegen die Krankheiten, von denen diese Völker bedrängt sind, hat man fast überall zu spät begonnen. Letzten Endes ist alles, was wir den Völkern der früheren Kolonien Gutes erweisen, nicht Wohltat, sondern es ist unsere Sühne für das Leid, das wir Weißen von dem Tage an über sie gebracht haben, da unsere Schiffe den Weg zu ihren Gestaden fanden. Es muss dahin kommen, dass Weiß und Farbig sich in ethischem Geist begegnen. Dann erst wird eine echte Verständigung möglich sein. An der Schaffung dieses Geistes zu arbeiten, heißt zukunftsreiche Politik treiben.

Wer durch menschliche Hilfe aus schwerer Not oder Krankheit gerettet wurde, der soll mithelfen, dass die, die heute in Not sind, einen Helfer bekommen, wie er einen hatte. Dies ist die Bruderschaft der vom Schmerz Gezeichneten. Ihr obliegt das menschliche und ärztliche Humanitätswerk bei allen Völkern. Aus den Gaben der Dankbarkeit soll dieses Werk getan werden. Ich will glauben, dass sich genug Menschen finden werden, die sich zu Opfern der Dankbarkeit erbitten lassen werden für die, die jetzt in Not sind.

Die Not aber, in der wir bis heute leben, ist die Gefährdung des Friedens. Zurzeit haben wir die Wahl zwischen zwei Risiken. Das eine besteht in der Fortsetzung des unsinnigen Wettrüstens in Atomwaffen und der damit gegebenen Gefahr des Atomkrieges, das andere im Verzicht auf Atomwaffen und in dem Hoffen, dass Amerika, die Sowjetunion und die mit ihnen in Verbindung stehenden Völker es fertig bringen werden, in Verträglichkeit und Frieden nebeneinander zu leben. Das erste Risiko enthält keine Möglichkeit einer gedeihlichen Zukunft. Das zweite tut es. Wir müssen das zweite wagen. Die Theorie, man könnte den Frieden dadurch erhalten, dass man den Gegner durch atomare Aufrüstung abschreckt, kann für die heutige Zeit mit ihrer so gesteigerten Kriegsgefahr nicht mehr in Betracht gezogen werden. Das Ziel, auf das von jetzt bis in alle Zukunft der Blick gerichtet bleiben muss, ist, dass völkerentzweiende Fragen nicht mehr durch Kriege entschieden werden können. Die Entscheidung muss friedlich gefunden werden.

Ich bekenne mich zu der Überzeugung, dass wir das Problem des Friedens nur dann lösen werden, wenn wir den Krieg aus einem ethischen Grund verwerfen, nämlich weil er uns der Unmenschlichkeit schuldig werden lässt. Ich habe die Gewissheit, dass der Geist in unserer Zeit ethische Gesinnung zu schaffen vermag. Deshalb verkünde ich diese Wahrheit in der Hoffnung, dass sie nicht als eine Wahrheit beiseite gelegt werde, die sich in Worten gut ausnimmt, für die Wirklichkeit aber nicht in Betracht kommt.

Mögen die, welche die Geschicke der Völker in Händen haben, darauf bedacht sein, alles zu vermeiden, was die Lage, in der wir uns befinden, noch schwieriger und gefahrvoller gestalten könnte. Mögen sie das wunderbare Wort des Apostels Paulus beherzigen: Soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden! Es gilt nicht nur den einzelnen, sondern auch den Völkern. Mögen sie im Bemühen um die Erhaltung des Friedens miteinander bis an die äußerste Grenze des Möglichen gehen, damit dem Geiste der Menschlichkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben zum Erstarken und zum Wirken Zeit gegeben werde.“

 

Abkürzungen der Literaturangaben:

AS+HB = Albert Schweitzer – Helene Bresslau: Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902-1912 (München, 1992)

GW 2 = A. Schweitzer, Gesammelte Werke in 5 Bänden (München, 1974), Bd. 2

GW 3 = A. Schweitzer: Gesammelte Werke in 5 Bänden (München, 1974), Bd. 3, „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“

K I =  A. Schweitzer: Verfall und Wiederaufbau der Kultur (München, 1960)

K II = A. Schweitzer: Kultur und Ethik (München, 1960)

K III 1+2 = A. Schweitzer: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III, 2. + 3. Teil (München, 1999)

K III 3+4 = A. Schweitzer: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III, 3. + 4. Teil (München, 2000)

RGCh = A. Schweitzer: Reich Gottes und Christentum (München, 1995)

Seaver = A. Schweitzer: „Die Religion in der modernen Kultur“

in George Seaver: Albert Schweitzer als Mensch und Denker (Göttingen, 1959)

StrV = A. Schweitzer: Straßburger Vorlesungen (München, 1998)

Spear = Otto Spear: Albert Schweitzers Ethik (Hamburg, 1978)

[1]„Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts?“ Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral: Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?. Nietzsche-Werke Bd. 2, S. 893, C. Hanser Verlag – derselbe später im Nachlass, 1885/86: „Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins x.“