Zum Tempo der Orgelwerke am Beispiel Albert Schweitzers

(erschienen in „Forum Kirchenmusik“ 03/2010)

„Erste und letzte Forderung bleiben Klarheit und Plastik“:

Nochmals „Wider den eiligen Geist“ und für „Slow-Food statt Formel 1

Die beiden Artikel von Armin Schoof („Wider den eiligen Geist“, Forum Kirchenmusik, 3/2009, S. 15 ff) und von Herfried Mencke („Slow-Food statt Formel I…“, Forum Kirchenmusik, 6/2009, S. 20 ff) veranlassen mich, zu diesem Thema, mit dem ich mich (auch mit anderen) schon ein Leben lang auseinandersetze, ebenfalls einiges beizutragen. Um es gleich zu sagen: zustimmend und vor allem ergänzend.

Die Klage über falsche (überwiegend zu schnelle) Tempi in der Musik ist fast so alt wie die Klage über die Verderbtheit der Jugend. Tadel und Warnungen finden sich von dem bei Schoof erwähnten Schütz über C. Ph. Emanuel Bach, Quantz, Mozart, Beethoven, Schumann, Reger (diesen siehe auch Schoof) bis in die heutige Zeit (um nur einige namentlich anzuführen). Auch das Tempo folgt interpretatorischen „Moden“, das Pendel schlägt auch hier nach beiden Seiten aus. „Zum Tempo der Orgelwerke am Beispiel Albert Schweitzers“ weiterlesen

Das missverstandene Orgelideal Albert Schweitzers

Eine Begegnung in der Marktkirche in Halle im Jahre 1928 von Rainer Noll

(erschienen in „Albert Schweitzer heute – Beiträge zur Albert-Schweitzer-Forschung“ Bd. 1, Tübingen 1990)

Am 25. November, dem Totensonntag des Jahres 1928, spielte Albert Schweitzer ein Orgelkonzert in der Marktkirche Unserer Lieben Frauen in Halle an der Saale. Auf dem für Schweitzer typischen Programm standen
— von Johann Sebastian Bach: Präludium und Fuge h-moll (BWV 544),
die Choralvorspiele „Nun komm, der Heiden Heiland“ (BWV 599),
„Gelobet seist du, Jesu Christ“ (BWV 604), Fuge A-Dur (BWV 536),
die letzte Variation der Partita „Sei gegrüßet, Jesu gütig“ (BWV 768),
das Choralvorspiel „Schmücke dich, o liebe Seele“ (BWV 654),
und die Fuge F-Dur (BWV 540):
— von César Franck: Choral Nr. 1 E-Dur 1.

Der Stadtsingechor unter der Leitung von Karl Klanert sang zu den Choralvorspielen die zugehörigen Choräle im Bachschen Tonsatz, wie Schweitzer es immer, wenn möglich, für seine „musikalischen Andachtsstunden“ wünschte.

Der seinerzeit in der liturgischen und in der Orgel- und Singebewegung aktive Schweizer Kirchenmusiker Walter Tappolet studierte in den Jahren 1928-30 bei Günther Ramin in Leipzig. Ramin und Tappolet waren nach Halle gereist, um jenes Orgelkonzert des damals schon berühmten „Urwalddoktors“ zu hören. Walter Tappolet verdanken wir einen Bericht über diese Begegnung mit Schweitzer:

„Wir waren … beide gleicherweise von dem Spiel beeindruckt: sehr genau, sauber (wie seine Ausgabe der Orgelwerke von Bach bei Schirmer in New York) und gediegen, allerdings keineswegs hinreißend, dafür aber einnehmend durch große Objektivität aufgrund der Ehrfurcht vor der Bedeutsamkeit dieser Musik. Aber alles andere als das Spiel eines ,Dilettanten‘, oder doch eines solchen, der seit Jahrzehnten den Schwerpunkt seines Einsatzes nicht mehr bei der Musik und beim Orgelspiel hatte.“2
Bei der Zusammenkunft nach dem Konzert hielt Albert Schweitzer eine kurze Ansprache. Walter Tappolet erinnert sich: „Im Gedächtnis geblieben ist mir als einem überzeugten Verfechter der Anfangszeiten der Orgelbewegung sein Rühmen der wirklich ziemlich schlechten Orgel, für die ein Neubauprojekt bestand, aber noch nicht ganz gesichert war! Albert Schweitzer mußte gehört haben von diesen Plänen. Er griff sie heftig an: Das erübrigte sich, da es sich ja um eine gute Orgel handle; sie sollten von einem Neubau absehen und den beträchtlichen Betrag lieber ihm geben für sein Urwaldspital! Man wird verstehen, daß wir dies mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis nahmen. Es ist darum erstaunlich, weil seinerzeit Albert Schweitzer es war, der den allerersten Anstoß zur Orgelbewegung gegeben hat… Genau dem seinem richtigen Urteil erwachsenen Impuls am Kongreß 1909 in Wien3 gemäß wollte also auch Halle … seine dickflüssige, vom 8′-Ton bestimmte ‚Orchesterorgel‘ durch ein gediegenes, wesensgerechtes Instrument ersetzen. Diese überraschende Stellungnahme, bei der Albert Schweitzer seiner früheren Initiative untreu geworden ist, kann nur von daher verstanden werden, daß damals der Auf- und Ausbau des Urwaldspitals in Lambarene das Ein und Alles seiner Intentionen und seines bewunderungswürdigen Einsatzes war.“4

Auf die Behauptung, er habe sich schon lange vor seiner Abreise nach Afrika (1913) von dem Eintreten für die gute Orgel zurückgezogen, entgegnete Albert Schweitzer bereits im Jahre 1914: „Von dem Kampfe für die gute Orgel werde ich mich überhaupt nie zurückziehen.“5 Sollte er nun aber doch bis zum Jahre 1928 „seiner früheren Initiative untreu geworden“ sein, wie Tappolet Schweitzers Äußerung in Halle deutet? Lassen wir zunächst die Fakten sprechen.

Das Instrument, auf dem Schweitzer in Halle spielte, war 1896/97 von der Firma Wilhelm Rühlmann aus Zörbig hinter dem Barockprospekt von Christoph Cuncius (Halberstadt) aus dem Jahre 1716 mit pneumatischer Traktur erbaut worden; es wies die folgende Disposition auf:

I.

Flûte harmonique
Gedackt
Gemshorn
Hohlflöte
Gambe
Prinzipal
Rohrflöte
Gemshorn
Oktave
Nasat
Quinte
Oktave
Prinzipal
Bordun
Cornett
Mixtur
Trompete
Trompete
8′
8′
8′
8′
8′
8′
4′
4′
4′
5 1/3′
2 2/3′
2′
16′
16′
3f.
4f.
8′
16′
II.

Dolce
Rohrflöte
Doppelflöte
Salicional
Geigenprinzipal
Gedackt
Gedackt
Prinzipal
Quinte
Waldflöte
Scharf
Klarinette
Fugara
Flûte harmonique
8′
8′
8′
8′
8′
4′
16′
4′
2 2/3′
2′
4f.
8′
16′
4′
III.

Gedackt
Flauto traverso
Viola
Viola d’amore
Vox coelestis
Prinzipal
Flauto dolce
Fugara
Harmonia aetherea
Flautino
Rauschquinte Gedackt
Oboe
8′
8′
16′
8′
8′
8′
4′
4′
3f.
2f.
16′
8′
Pedal

Gedacktbaß
Subbaß
Violon
Prinzipal
Flötenbaß
Cello
Quintatön
Prinzipalbaß
Oktave
Cornett
Quinte
Untersatz
Fagott
Posaune
Trompete
Dulciana
16′
16′
16′
16′
8′
8′
8′
8′
4′
3f.
10 2/3′
32′
16′
32′
8′
8′

Obwohl diese Disposition erst aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stammt, entspricht sie doch denjenigen der nach Albert Schweitzer „besten Orgeln“, die etwa zwischen 1850 und 1880 erbaut wurden6. Nehmen wir noch an, daß das III. Klavier als Schwellwerk gebaut war (was ich nicht ermitteln konnte), so finden wir in dieser Disposition Schweitzers eigene Dispositionsprinzipien so weitgehend verwirklicht, daß sich gar ein Einfluß der Elsässischen Reformbewegung vermuten ließe, wäre diese nicht erst Jahre später zur Wirkung gekommen.
Auch die pneumatische Traktur widerspricht dem nicht: Schweitzer, zwar verbal ein Verfechter der mechanischen Traktur und der Schleiflade, ließ noch 1932 die Günsbacher Orgel mit Pneumatik und Kegelladen versehen, da der Orgelbau noch nicht wieder in der Lage gewesen sei, eine ordentliche Mechanik zu bauen. Erst 1961 erhielt diese Orgel mechanische Schleifladen, wobei sich auch in diesem vorgerückten Jahr Schweitzer persönlich von Lambarene aus um alle Einzelheiten des Orgelneubaues kümmerte (also noch in seinem 87. Lebensjahr kein Rückzug!). Was den Klang der Günsbacher Orgel von 1932 betrifft, so erinnere ich mich gut an ebensolches enttäuschtes Erstaunen in damals noch ungebrochen orgelbewegten organistischen Kreisen der 60er Jahre, wie Tappolet und Ramin es schon 1928 in Halle erlebten. Daß Schweitzer für seine Orgeleinspielungen im Jahre 1952 die Orgel in Günsbach wählte, wurde nie als sein Bekenntnis zu dieser Orgel für möglich gehalten; man bedauerte vielmehr diesen „Fehlgriff“ Schweitzers und hatte dafür alle möglichen Entschuldigungen bereit, wie: Schweitzer habe sich in seinem Alter nicht mehr auf eine andere Orgel umstellen wollen, viel lieber hätte gerade er auf einer Barockorgel gespielt usw.

Wie die Rühlmann-Orgel in Halle tatsächlich geklungen hat, läßt sich anhand der Disposition leider nicht verlebendigen. Wie Albert Schweitzer aber diesen Klang beurteilte, das läßt sich authentisch belegen. Er schrieb an die Orgelbaufirma Rühlmann: „Schon lange wollte ich Ihnen schreiben, um Ihnen meine lebhafte Anerkennung für die Restauration der Orgel in der Liebfrauenkirche zu Halle a. S. auszusprechen. Ich habe das Instrument am zweiten Adventssonntage 1927 auf der Heimkehr von einer Konzertreise in Schweden gespielt und war von dem Klange entzückt.“7
Mit „Restauration“ meint Schweitzer wohl den Orgelneubau in dem Barockgehäuse von Cuncius. Sein Restaurationsbegriff hatte noch nichts zu tun mit historisierenden Tendenzen, forderte er doch z.B. bei der Restaurierung zweier bedeutender Barockorgeln (in Harlem, St. Bavo, und in Hamburg, St. Jakobi) den Einbau eines Schwellkastens (in Hamburg sogar mit Erfolg!). So bleibt uns nichts anderes übrig als anzuerkennen, daß Schweitzer tatsächlich von der nach Tappolets und Ramins Urteil „wirklich ziemlich schlechten, dickflüssigen, vom 8′-Ton bestimmten ,Orchesterorgel'“ der Marktkirche in Halle, die er gleich durch zweimalige Begegnung kannte, aufrichtig begeistert war – unabhängig von seinem Einsatz für das Spital in Lambarene.
Worin liegt nun der Grund für Tappolets Enttäuschung über Schweitzers Ansprache in Halle? In einem Missverständnis. In der unreflektierten Annahme nämlich, daß sein klangästhetischer Wertmaßstab mit dem des früheren Schweitzer identisch sei, so wie er Schweitzer bisher jedenfalls verstanden hat. Durch Schweitzers Äußerung nach jenem Konzert, also angesichts des gerade eben vernommenen konkreten Klangerlebnisses, wird unausweichlich klar, daß Schweitzers ästhetische Klangbeurteilung eben eine ganz andere ist. Um das eigene, sicher geglaubte Urteil nicht in Frage gestellt zu sehen, muß Tappolet annehmen, Schweitzer sei inzwischen seiner ursprünglichen Initiative als Orgelbaureformer wegen anderer Prioritäten untreu geworden.
Wie kommt es zu einem solchen Missverständnis? In erster Linie wohl durch verbal bedingte Fehlinterpretationen, die sich meist nur am erlebten Klang selbst aufklären lassen. Tappolet kannte bis zum Besuch jenes Orgelkonzertes in Halle Schweitzers Ansichten offensichtlich nur durch verbale Vermittlung (und auch so wahrscheinlich nur recht unvollständig). Erst durch den Klang der Rühlmann-Orgel und dessen unterschiedliche Beurteilung wird die unerwartete Differenz der beiden Standpunkte schlagartig deutlich (die erneute Fehlinterpretation Tappolets verhindert hier jedoch seine Aufklärung). Schweitzer selbst sagt hierzu ein erhellendes Wort: „Sooft ich über Orgelbau schreibe, habe ich das Empfinden, daß es sehr schwer ist, sich darüber auf dem Papier zu erklären und zu verständigen. Das, um was es sich handelt, ist etwas Klingendes und muß als solches von denen, die sich mit stummen Worten auseinandersetzen, hinzugedacht werden. Und jeder denkt sich unter denselben Bedingungen und Worten etwas anderes.“8
Unter anderem waren es diese rein verbalen Missverständlichkeiten, die halfen, das Bewusstwerden der Radikalität des geistigen Umbruches nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber dem Ansatz der Elsässischen Reform, die Wolfgang Metzler „als den letzten Höhepunkt des romantischen Orgelbaues“ bezeichnet9, zu verschleiern. Nicht Schweitzer war inzwischen seiner früheren Initiative untreu geworden – genau das Gegenteil war der Fall! -, sondern man huldigte bereits in den Anfangszeiten der Orgelbewegung der 20er Jahre, deren „überzeugter Verfechter“ sich Walter Tappolet nennt, einem ganz anderen Orgelideal als dem von Albert Schweitzer vertretenen, wobei man sich paradoxerweise meist noch als konsequenter Vollstrecker und Vollender der Schweitzerschen Maximen fühlte. Wer so fühlte, mußte fast zwangsläufig bei einer so enthüllenden Begegnung wie der in Halle enttäuscht sein und Schweitzer der Untreue gegenüber seiner früheren Initiative verdächtigen, wie Tappolet es tat.

Es muß klar angesprochen werden, daß Schweitzers Orgelideal wesentlich geprägt wurde durch die Orgel der Hochblüte des Orgelbaues gerade des 19. Jahrhunderts, das im Zuge der Orgelbewegung fast vergessen gemacht worden war. Seine Persönlichkeit wurzelt in diesem 19. Jahrhundert. Unmissverständlich äußerte er sich 1931 über sein Orgelideal: „Die besten Orgeln wurden etwa zwischen 1850 und 1880 erbaut, als Orgelbauer, die Künstler waren, sich die Errungenschaften der Technik zunutze machten, um das Orgelideal Silbermanns und der anderen großen Orgelbauer des 18. Jahrhunderts in höchstmöglicher Vollendung zu verwirklichen. Der bedeutendste von ihnen ist Aristide Cavaillé-Coll… Während mir die monumentale Orgel des 18. Jahrhunderts, wie sie später durch Cavaillé-Coll und andere ihre Vollendung erfuhr, in klanglicher Hinsicht als das Ideal gilt, wollen neuerdings Musikhistoriker in Deutschland auf die Orgel der Zeit von Bach zurückgehen. Diese ist aber nicht die wahre Orgel, sondern nur ihr Vorläufer. Es fehlt ihr das Majestätische, das zum Wesen der Orgel gehört.“10
Sosehr er es begrüßte, daß nach dem Ersten Weltkrieg die Orgel Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden war, sowenig war er mit der Idealisierung des barocken Orgelbaus dieser neuen Ära einverstanden: „Ich habe darunter gelitten, daß eine gewisse Richtung sich … auf einen historischen Orgeltypus, und gar noch auf einen vorbachischen, festlegte.“11 Gerade in Briefen äußert sich Schweitzer weit freimütiger als in seinen Schriften, so auch an den Architekten Leitolf in Aschaffenburg: „Günsbach, 7. Oct. 32 …Hören Sie nicht auf die Leute, die Ihnen eine ,Barock-Orgel‘ oder ,Praetorius-Orgel‘ aufschwätzen wollen. Das ist vorübergehende Mode.“12 Ebenso im Brief an Johannes Schäfer in Osterode: „Günsbach, 6. März 36 …arbeiten Sie für die wahre Orgel, die gleich weit entfernt ist von der heutigen Barock-Gebimbel-Orgel, wie von der früheren Orchester-Fabrikorgel!“13
Trotz solcher Äußerungen machte das Mißverständnis von Schweitzers Orgelideal seine Runde wie einmal in Umlauf gebrachtes Falschgeld – und nur wenige merkten, daß sie betrogene Betrüger waren. Walter Tappolet stehe in diesem Beitrag stellvertretend für viele Fachleute der fünf Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg.

In dem Aufsatz „Zur Reform des Orgelbaus“14 muß sich Schweitzer bereits gegen eine falsche Inanspruchnahme seines Namens in einem Artikel von Peter Epstein (Breslau) in derselben Zeitschrift wehren: „Etwas irreführend in seiner [Epsteins] Darstellung ist, daß er mich die Forderung aufstellen läßt, für die Wiedergabe der Orgelwerke Bachs sollten wir zur Orgel des achtzehnten Jahrhunderts zurückkehren… Weder in meiner Schrift über deutsche und französische Orgelbaukunst (1906), noch in meinem Buche über Bach (1906) [sic!], noch bei den Verhandlungen über Orgelbau auf dem Kongreß der ‚Internationalen Musikgesellschaft zu Wien‘ (1909), die zur Aufstellung des ‚Internationalen Regulativs für Orgelbau‘ (Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1909) führten, noch in der amerikanischen Ausgabe der Orgelwerke Bachs (Schirmer, New York, 1913) habe ich archaistische Ansichten vertreten… Die in meiner Schrift von 1906 ausgegebene Losung lautet: Zurück von der dröhnenden Fabrikorgel zur tonreichen und tonschönen Orgel der Orgelbaumeister.“ Immer wieder muß Schweitzer Mißverständnisse klarstellen: „Mancherorts ist die Losung ‚Zurück zur alten tonschönen Orgel‘ so mißverstanden worden, als sollte die Orgel des achtzehnten Jahrhunderts zum Ideal erhoben werden. Dies ist nicht der Fall.“15
Zu Mißverständnissen Anlaß gab auch Schweitzers Forderung nach zahlreichen und weichen Mixturen. Bereits der Begriff stiftet Verwirrung: Aus Schweitzers Äußerungen geht hervor, daß er unter „Mixturen“ auch Einzelaliquotregister versteht. Die bisweilen scharfen Mixturen des norddeutschen Barock waren nie sein Fall. Dieser Ruf nach Mixturen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schweitzer den größten Wert auf tragfähige, verschmelzungsfähige Grundstimmen verschiedener Bauart legte (sogar auf Kosten der Klangkrone im I. und des Prinzipalaufbaues im II. Manual). Die 8′-Register sind für ihn das Fundament, auf dem die ganze Schönheit einer Orgel beruht. Flöte 8′, Bordun 8′ und Salicional 8′ braucht er besonders für den runden Flötenton, gegen den sich die Solostimme in Bachs Choralvorspielen besonders gut abhebt16. Gerade den lange Zeit mißbilligten streichenden Stimmen galt seine besondere Aufmerksamkeit: „Die Ablehnung streichender Stimmen (Salicional 8′, Gambe 8′, Cello 8′, Violonbaß 16′) habe ich nicht begreifen können und daher nie mitgemacht. Bach hat sie nie abgelehnt. Er hatte Violonbaß 16′ in den Pedalen von Orgeln, die er spielte. Beim Umbau der Mühlhauser Kirche fordert er die Einsetzung einer Gamba 8′, die er mit Salicet 4′ verbinden will… Aber diese Stimmen dürfen nicht schneidend und scharf sein wie so um 1900 herum, sondern milde und edel. Ein Violon 8′ (Cello) gut und mild intoniert im Pedal halte ich auch in einer Orgel von 20 Stimmen erfordert, um den Baß im Piano aufhellen zu können.“17 Der ehemalige Organist der New Yorker Philharmoniker, Edouard Nies-Berger, langjähriger Freund und Mitarbeiter Schweitzers, erzählte mir, mit welchem Stolz Schweitzer immer von „seinem“ Violoncello 8′ der Orgel in Günsbach sprach: „Ein solches Cello findest du in ganz Paris nicht!“
Eine der problematischsten Äußerungen Schweitzers, die manche Fehlinterpretation verursacht hat, lautet: „Maßstab einer jeglichen Orgel, bester und alleiniger Maßstab, ist die Bachsche Orgelmusik.“18 Dieser Satz muß als Schnittpunkt zwischen Schweitzers orgelbaulichen Ansichten und seiner Bachinterpretation19 verstanden werden. Der wahre Sinn dieses Leitwortes bleibt nämlich unverständlich, wenn man nicht berücksichtigt, wie Schweitzer Bach begreift: nicht als historische, sondern als ihn unmittelbar betreffende ästhetisch-ethische Größe! „Es ist an der Zeit, daß die Ästhetik an die Stelle der Geschichte trete und das Wesen der Bachschen Kunst in seiner ganzen Tiefe und seiner reichen Mannigfaltigkeit zu erfassen suche“, sagt er im Bach-Buch20. Mag Schweitzer auch seine philosophisch-ästhetischen Studien unabhängig von seinen ethischen Intentionen betrieben haben (wie ja auch z.B. ein Medizinstudium an sich und unabhängig von dem später damit beabsichtigten ethischen Wirken absolviert werden muß): Seine Bach-Interpretation wie auch sein damit verknüpftes Orgelideal, die praktischen Seiten seiner Ästhetik sozusagen, leben nicht aus einer historischen Sicht, sondern letztlich aus einer erzieherisch-ethisch-religiösen Absicht heraus. Am Schluß seines Vortrags zum 1. Westfälischen Bach-Fest in Dortmund im Jahre 1909 sagt Schweitzer: „In dem Thomaskantor redet einer der größten Mystiker, die es je gegeben hat, zu den Menschen und führt sie aus dem Lärm zur Stille. Er gehört zu denen, welchen es verliehen ward, an der Erlösung der Menschheit mitzuhelfen… Möge uns verliehen sein, was er zu sagen hat, in der rechten Sammlung zu vernehmen und Stunden zu feiern, aus denen wir innerlich stärker und besser, reicher an dem was die Welt nicht geben kann, wieder in das Leben und die Arbeit hinaustreten.“21 An Willibald Gurlitt schreibt er am 23.2.1926: „Wer sich mit Orgel beschäftigt, wird über alles Menschliche und Allzumenschliche hinausgetragen und zur reinen Freude an der Wahrheit geläutert und verehrt Orgel und Orgelklang als die großen seelischen Erzieher zum Erleben der Ewigkeitsgesinnung.“22 Es mag damit hinreichend deutlich geworden sein, daß die Orgeln der Bachzeit dem Maßstab Bachscher Orgelmusik im Sinne Schweitzers nicht genügen.

Für die Orgelmusik der französischen Romantiker stellt Schweitzer berechtigte Forderungen an die Disposition, die erst im Orgelbau unserer Tage wieder häufiger Beachtung finden: „An dem Grundsatz, daß das Schwellwerk das vollständigste sein müsse, ist unter allen Umständen festzuhalten… César Franck, Widor und die anderen romanischen Meister setzten voraus, daß das Schwellwerk mit einer intensiven Gambe, einer nicht minder intensiven und nicht zu engen Voix céleste, mit Oboe 8′ und Clairon 4′ ausgestattet ist. Klarinette 8′ erwarten sie auf dem Positiv. Finden sich diese Stimmen aus irgendeiner Willkür des Erbauers auf einer Orgel nicht an ihrem Platze, so muß für die Wiedergabe der Werke dieser Meister und aller von ihnen beeinflussten Komponisten die ganze Registrierung umgeworden werden.“23 Die volle Bedeutung dieser Äußerung wird erst klar, wenn man bedenkt, welch wesentliches kompositorisches Element die Klangfarbe für Orgelwerke des angesprochenen Stilkreises ist.
So, wie man sich vorher an herrlichen Instrumenten des 18. Jahrhunderts verging, so lud die Orgelbewegung eine Schuld gegenüber den Instrumenten des 19. Jahrhunderts auf sich. Von Anfang an, so bereits 1914, erhob Schweitzer warnend seine Stimme gegen die Anfänge dieses Trends. Er hat nicht nur das Verschwinden vieler Orgeln aus dem 18. Jahrhundert bedauert: „Auch der Verlust von Instrumenten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – genannt seien nur die Namen Ladegast und Walcker – wiegt schwer. Die Gefahr liegt nahe, daß ihrer über der Verherrlichung der Meister des 18. Jahrhunderts, deren würdige und verständnisvolle Erben sie waren, nicht genug gedacht werde“24. Daß aber Schweitzer trotz seiner Liebe und seines Kampfes für schöne alte Orgeln eigentlich mehr zukunftsweisend-modern als historisierend dachte, dokumentiert folgendes Zitat: „Sicherlich müssen wir die noch vorhandenen alten Orgeln des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts als historische Kleinodien erhalten und möglichst sachgemäß und pietätvoll restaurieren… Sicherlich müssen wir die Orgeln aus jener Zeit noch viel besser kennenlernen… Unser Ideal der Orgel ist aber auch durch die Errungenschaften der großen Orgelbaumeister der sieben ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts bestimmt. Weiter noch hat es den Forderungen Rechnung zu tragen, die die bedeutenden Orgelkomponisten – die César Franck, die Widor, die Reger und die anderen – in ihren Schöpfungen an die Orgel stellen.“25

Während sich in der Orgelbewegung das Ideal einer Orgel zunehmend zur Ideologie der „Barockorgel“ verengte und der Bruch mit der Tradition des 19. Jahrhunderts bewußt herbeigeführt wurde, wollte Schweitzer die Weiterentwicklung wieder da anknüpfen, wo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Faden der künstlerischen Tradition im Orgelbau gerissen war und der Verfall durch Industrialisierung und den Sieg des Kaufmännischen über das Künstlerische begonnen hatte. Je mehr die neobarocke Ära der Orgelbewegung nach vielen Jahrzehnten sich ihrem Ende zuneigte, desto aktueller wurde plötzlich der allzu früh überholt geglaubte Albert Schweitzer – und desto treffender wurde die Einschätzung und Würdigung seiner Leistung. Sein Anliegen und Verdienst war die Wahrung des geschichtlichen Kontinuums in der schöpferischen Evolution des Orgelbaus. Alles Epigonenhafte, archaistische Tendenzen und Historizismus lehnte er ab. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hielt er Namensgebungen wie „Elsässische Orgelreform“ für zu eng und deshalb nicht für angebracht für die Idee, um die es ging.26 Nicht um die Wiederbelebung oder gar Nachahmung eines historischen Ideals ging es ihm, sondern um die Schaffung eines künstlerisch wertvollen ästhetischen Orgelideals für seine Zeit durch eigenschöpferisches geistiges Ringen aus Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft gewonnen. Der Glaube an die schöpferische Kraft des eigenen Geistes war in Schweitzer unerschüttert lebendig geblieben.

Beenden wir unsere Überlegungen an dem Ort, von dem wir ausgingen: Dank seiner Autorität hatte Albert Schweitzer seinerzeit Erfolg mit seinem Plädoyer für die Rühlmann-Orgel der Marktkirche in Halle. Sie mußte keinem Neubau weichen. Mehr noch, sie gelangte zu ungeahnten neuen Ehren: Der langjährige Marktkirchenorganist Oscar Rebling kündete mit Berufung auf Schweitzer von dem Anspruch seiner Orgel, eine der besten Deutschlands zu sein.

Im Jahre 1967 wurde das Instrument das Opfer einer Explosion der Fernwärmezuleitung in die Kirche. Die Orgelbaufirma Schuke aus Potsdam erbaute 1984 ein neues Werk mit 56 Stimmen.27

 

 

Der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Hans Heinrich Eggebrecht () urteilte über diesen Beitrag während der Planungsphase von „Albert Schweitzer heute“ Bd. 1 im Brief vom 7. Nov. 1989 an Pastor Helmut Amelung (Osnabrück), dem Initiator der „Wissenschaftlichen Albert-Schweitzer-Gesellschaft“:

„Der Aufsatz von Herrn Noll paßt gut in den geplanten Band. Er ist stilistisch gut und wissenschaftlich einwandfrei geschrieben und sehr glaubhaft und interessant. Schweitzers Auffassung über das erstrebenswerte Instrument Orgel erscheint – dargestellt an einem konkreten Fall! – in einem in seiner Klarheit neuen Licht, wobei der Aufsatz von Herrn Noll den Grundtendenzen des Aufsatzes von Herrn Schützeichel nahesteht. Also: ein Gewinn für die geplante Publikation. Unbedingt aufnehmen!“

1 Harald Schützeichel: Die Konzerttätigkeit Albert Schweitzers (Stand: November 1986), 55.

2 Walter Tappolet: Erinnerungen an Albert Schweitzer, in: Musik und Gottesdienst 3, 1984, 104.

 

3 Gemeint ist das „Internationale Regulativ für Orgelbau“, das unter Schweitzers Federführung auf dem Kongreß der Internationalen Musikgesellschaft 1909 in Wien ausgearbeitet und veröffentlicht wurde.

4 Tappolet, 104.

5 Albert Schweitzer: Zur Diskussion über Orgelbau, in Erwin R. Jacobi: Musikwissenschaftliche Arbeiten, 1984, 376.

6 Albert Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken, 193 (GW 1, 89).

7 Albert Schweitzer weilte in Halle, in: Der neue Weg v. 18.1.1975 (mitgeteilt durch Rudolf Schweitzer, Ulberndorf).

8 Zur Diskussion über Orgelbau, 396.

9 Wolfgang Metzler: Romantischer Orgelbau in Deutschland, o.J., 70.

10 Aus meinem Leben und Denken (GW I, 89, 91).

11 Aus einem Brief Schweitzers an Rudolf Quoika vom 2.8.1954 (Rudolf Quoika: Ein Orgelkolleg mit Albert Schweitzer, 1970, 29.).

12 Albert-Schweitzer-Zentralarchiv, Günsbach (ZAG).

13 ZAG.

14 In: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 32, 1927, 148-154.

15 Albert Schweitzer: Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst (mit Nachwort über den gegenwärtigen Stand der Frage des Orgelbaus), 1927 (GW V, 453).

16 Siehe die Briefe an Orgelbaumeister Alfred Kern vom 6.6.1959 und 24.1.1960, gedruckt bei Bernhard Billeter: Albert Schweitzer und sein Orgelbauer, in: Acta Organologica 11, 1977, 218f. Daß Schweitzer auch beim Bau der Günsbacher Orgel (1961) besonderes Gewicht auf die Grundstimmen legte, bestätigte mir Alfred Kern im Gespräch nach dem Gedenkkonzert zu Schweitzers Todestag in Günsbach im Jahre 1973.

17 Quoika, 29.

18 Deutsche und französische Orgelbaukunst (GW V, 410).

19 Siehe zu dieser Problematik meinen Beitrag „Der Orgelfachmann und Bach-Interpret Albert Schweitzer und mein Weg zur Orgel“, in: Rundbrief für alle Freunde von Albert Schweitzer, 48 und 49, 1979/80, sowie die gekürzte und überarbeitete Fassung „Albert Schweitzer als Orgelfachmann und Bach-Interpret“, in: Musik und Kirche 55, 1985, 122-132.

20 Albert Schweitzer: J. S. Bach, 1908, Neusatz 1960, 230.

21 Albert Schweitzer: Aufsätze zur Musik, hrsg. Von Stefan Hanheide, 1988, 46.

22 Schweitzer, Aufsätze zur Musik, 228.

23 Deutsche und französische Orgelbaukunst (GW V, 455).

24 Zur Diskussion über Orgelbau, 382.

25 Deutsche und französische Orgelbaukunst (GW V, 453f).

26 Zur Diskussion über Orgelbau, 377f.

27 Für Informationen zur Geschichte und Disposition der Orgel der Marktkirche, brieflich mitgeteilt am 29.5.1985, bin ich Herrn Carl-Gustav Naumann in Halle zu Dank verpflichtet.

„Geistesgegenwart“ – ein Beispiel aus der modernen Musik der Kirche

„Geistesgegenwart“ – ein Beispiel aus der modernen Musik der Kirche (1)
(mit Exkurs: »„im Geiste von…“ bei Albert Schweitzer«)

Vortrag von Rainer Noll, gehalten am 15. März 1997 während der Internationalen Seminartage des Albert-Schweitzer-Hauses in Günsbach/Elsaß (Gesamtthema: Heiliger Geist – Geist des Lebens – Geist der Wahrheit) als Einführung zum abendlichen Orgelkonzert von Rainer Noll in der Pfarrkirche Günsbach auf der von Schweitzer geplanten Orgel

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

das Thema dieses Referates wurde mir vorgegeben und von Herrn Dr. Zager und seiner Frau formuliert. Es zog mich an, fast habe ich mich darum gerissen, um mich selbst zu einer Auseinandersetzung zu zwingen, ohne zu ahnen, worauf ich mich da eingelassen habe. In manchen Gesprächen mit Freunden (darunter Theologen, Komponisten, Interpreten, Hochschullehrer usw.) steuerte ich dieses Thema an. Mit seltener Einmütigkeit bekam ich früher oder später zu hören: „Ich möchte diesen Vortrag nicht halten müssen!“ – Sehr ermutigend… Und nun sitzen wir hier zusammen mit mehr oder weniger großen Erwartungen. Sie werden sehen, dass es sehr schwierig ist, zu diesem Thema etwas zu sagen, was wirklich „Hand und Fuß“ hat (wie immer, wenn es um „Geist“ geht).

Ich bin schon froh, wenn es mir heute noch gelingt, Ihnen doch etwas mit Hand und Fuß nahezubringen, nämlich die überwiegend zeitgenössische Musik, die ich nachher im Orgelkonzert spielen werde, und die ich ganz bewusst im Hinblick auf den zweiten Teil des Themas ausgewählt habe. Lassen Sie mich versuchen, Sie schonend darauf vorzubereiten.

Doch zunächst möchte ich Ihnen einen Überblick geben, was Sie im Folgenden erwartet. Nicht erwarten können Sie eine systematische Geschlossenheit – eher schon eine aspekthaft schweifende Offenheit (dem Geist selbst verwandt). Bewusst werde ich nicht vom Heiligen Geist sprechen. Auch bewege ich mich im Vorfeld der „Unterscheidung der Geister“ (so nötig diese irgendwann auch werden mag), es geht mir zunächst um Grundsätzlicheres. Auch bei den musikalischen Ausführungen dringe ich nicht vor bis zu Feinheiten interpretatorischer Unterschiede. Überhaupt werde ich, bevor ich endgültig zur Musik komme, noch einmal kräftig abschweifen, sozusagen einen Vortrag im Vortrag halten in einem Exkurs über „»im Geiste von…« bei Albert Schweitzer“, um auf diese Weise auch Schweitzer einzubeziehen.

Sie werden bemerken, dass ich in meinen Ausführungen sehr viel mehr Dinge anspreche, als ich ausführlich benennen kann (aus manchem Für und Wider könnten dann wieder eigene Abhandlungen erwachsen). Ich möchte Sie zum Nachdenken anregen und Sie geistig herausfordern (auch zum Widerspruch). Nehmen Sie diesen Vortrag wie einen Notizzettel, der im Papierkorb verschwinden kann, wenn er seine Funktion erfüllt hat und Sie klüger sind als zuvor … oder gar als der Referent. Das Wesentliche ist ohnehin nicht verbalisierbar. Alles bleibt Annäherung.

Ich beginne nun mit des Themas erster Hälfte: „Geistesgegenwart“.
Das Wort „Geistesgegenwart“ ist eine sogenannte Lehnübersetzung des französischen présence d’esprit und taucht erstmals 1791 bei Herder auf. Der französische Begriff ist eindeutiger als der deutsche: Er meint das, was wir mit Schlagfertigkeit umschreiben könnten. Umgangssprachlich ist jemand, der „geistesgegenwärtig“ ist, „voll da“ (und ich hoffe, dass ich dies nachher beim Konzert auch noch sein werde – so ganz unwichtig ist dieser Aspekt also auch nicht). Primär gemeint ist aber hier die andere Bedeutung des deutschen Wortes: Gegenwart von Geist (und die hieße auf französisch présence de l’esprit).

Zum „Geist“ nun Geistreiches zu sagen, ist ein schwieriges Unterfangen, bei dem nicht leicht ein Anfang und Ende zu finden ist. Man bekommt nur mühsam Boden unter die Füße. Vielleicht ist „Geist“ deshalb immer als etwas Schwebendes (Anfang der Schöpfungsgeschichte!), Wehendes, Unfassbares und Unverfügbares empfunden worden (einigen dieser Aspekte begegnen wir nachher in Dick Troosts Pfingstpartita).

Im Philosophie-Duden lesen wir: „Geist: einer der am schwersten zu bestimmenden und umstrittensten Termini der Philosophie“. Lässt Geist sich überhaupt definieren? Gerade in diesem Zusammenhang sind nach Karl Popper „»Was ist«-Fragen niemals fruchtbar, auch wenn sie von Philosophen häufig gestellt und behandelt worden sind (…) »Was ist«-Fragen sind immer in Gefahr, zu einem Verbalismus zu degenerieren – zur Diskussion über die Bedeutung von Worten oder Begriffen oder zur Diskussion über Definitionen. Aber im Gegensatz zu einem immer noch weitverbreiteten Glauben sind solche Diskussionen und Definitionsversuche nutzlos.“(2) So will ich nach Ludwig Wittgensteins berühmtem Satz „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ die Wesenheit des Geistes dahingestellt sein lassen … und dennoch nicht schweigen. Denn reden lässt sich vielleicht über Wirkungen und Erscheinungen des Geistes, darüber, wie er wahrgenommen werden kann. Wie ich dies meine, macht Ihnen sofort ein Beispiel aus der Physik klar, das uns ausnahmslos alle ebenso betrifft wie das Phänomen des Geistes: die Gravitation. Kein Naturwissenschaftler kann Ihnen sagen, was Gravitation eigentlich „ist„, ihrem Wesen nach ist. Aber ihre Wirkungen sind zu messen und zu spüren, sogar subjektiv sehr verschieden z.B. je nach Mahlzeit, Müdigkeit und Alkoholgenus. Und alle müssen wir mit ihr leben, solange wir nicht in Raumstationen verfrachtet worden sind, auch wenn wir uns ihrer nicht ständig bewusst sind. Gleichzeitig beherrscht Gravitation, von der wir nicht wissen, was sie „ist“, mit ihrer Wirkung das ganze Universum, so weit wir dies bis heute überblicken können, ja, sie ermöglicht dieses von uns beobachtete Universum überhaupt erst.

Meiner Meinung nach verhält es sich ganz ähnlich mit dem, was wir Geist nennen. Auch Geist (als Zusammenspiel – Betonung auf -spiel, das auch dem Zufall Raum gibt! – von Intelligenz, Kreativität, Gedächtnisleistung usw.) muss von allem Anfang an im ganzen „Sein“ (nicht nur im „Leben“) angelegt gewesen sein, sozusagen als Vorbedingung für alle Evolution, als Axiom der Möglichkeit jeder Entwicklung. Diese Aussage widerspricht keineswegs neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, ganz im Gegenteil!

Die Frage ist hier nur, wie weit man den Begriff des Lebendigen fasst. Der englische Physiker David Bohm und der französische Physiker J. E. Charon sind davon überzeugt, dass sogar Elektronen „leben“. Charon: „Das Elektron umschließt innerhalb seines Mikrouniversums einen Raum, der erstens Information zu speichern vermag, zweitens mit Hilfe einer Art von Erinnerungssystem diese Information in jeder Pulsperiode seines Zyklus wieder verfügbar machen kann und drittens die Fähigkeit besitzt, komplexe Operationen durch Kommunikation und Zusammenarbeit mit den anderen Elektronen des zu bildenden Systems zu steuern.“ – „Mein Denken ist das Denken meiner Elektronen, es herrscht also nicht bloß Analogie, sondern Identität.“(3) Der deutsche Physiker Hans-Peter Dürr sagt: „Elektronen beispielsweise entstehen unberechenbar und spontan. Aber sie entstehen nicht aus Nichts, sondern aus Etwas. Dieses Etwas drückt aber nichts Materielles aus. Potentialität, also Mögliches, verwandelt sich dann in Realität.“(4) Am Anfang steht also ein „Entwurf“, so etwas wie reine Information, Idee oder Prinzip als virtuelles Etwas, aus dem Realität erst „geboren“ wird. Gerade nach den revolutionären Erkenntnissen der Quantenphysik gemahnt uns Dürr, „die berechenbare, träge Materie nicht für das Fundament der Welt zu halten. (…) Das Geistige ist für mich fundamental, ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass es keine Materie gibt, sondern nur Geist.“(5) Der englische Astrophysiker James Jeans kommt zu dem Schluss: „Nimmt man die unterschiedlichen möglichen Beweisführungen zusammen, wird es immer wahrscheinlicher, dass Realität mit ‚geistig‘ treffender beschrieben wird als mit materiell (…), das Universum scheint einem großen Gedanken ähnlicher zu sein als einer großen Maschine.“(6) Ähnliche Zitate von Physikern lassen sich noch viele finden.

Zwischenbemerkung: Unwillkürlich fällt einem hier der Beginn des Johannes-Evangeliums ein: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. (…) Alle Dinge sind durch dasselbe geworden, und ohne dasselbe ist auch nicht eines geworden, das geworden ist.“ Die Theologen wissen hier sofort, dass das Wort, das im griechischen Urtext für „Wort“ steht, nämlich logos (?ó ?o?), auch zugleich Geist bzw. eine gewisse Form von Geist bedeutet, was die Sache eigentlich noch aussagekräftiger macht.

Lassen Sie mich für die Naturwissenschaft noch Hoimar von Ditfurth zitieren: „Die Funktionen, die wir als ,psychische‘ [und ,geistige‘] zu bezeichnen gewohnt sind, weil wir sie an uns selbst bewusst erleben, sind älter als alle Gehirne. Sie haben ihre Aufgabe in den unvorstellbar langen Zeiträumen, die der Entstehung von Gehirnen vorausgingen, auch ohne Bewusstsein erfüllt. Sie sind nicht das Produkt von Gehirnen. Das Gegenteil trifft zu: Wie alles andere, so konnten auch Gehirne von der Evolution nur deshalb schließlich hervorgebracht werden, weil die hier angesprochenen Funktionen die Evolution von allem Anfang an steuerten. (…) Unser Gehirn ist nicht die Quelle aller dieser Leistungen, es integrierte sie lediglich im Individuum. (…) Es ist eine triviale Feststellung, dass weitaus das meiste von dem, was die Evolution – ohne Bewusstsein und ohne Gehirn! – hervorzubringen in der Lage war, von uns trotz aller Anstrengungen erst zu einem winzigen Teil verstanden, geschweige denn nachgeahmt werden kann.“(7)

[Kurzer Hinweis auf die völlige Unzulänglichkeit unserer Sprache: Denken Sie doch einmal darüber nach, was das eigentlich heißen soll: „die Evolution hat hervorgebracht“!] Bei genauerem Hinsehen sind unsere technischen Leistungen Plagiate, Nachahmungen unerreichter Vorbilder in der Natur. Unsere Hybris gegenüber der Natur ist völlig unangebracht. Angemessener wäre hier Ehrfurcht vor allem Lebendigen, ja, vor allem Sein, das wir „Schöpfung“ nennen, die ihr Werk in jedem Augenblick, den wir als Gegenwart erleben, fortsetzt – nicht ohne uns als Mit-Schöpfer, die mit Verantwortung dafür tragen, wie diese Welt in ihren zukünftigen Augenblicken aussehen wird. Wir müssen uns klar darüber werden (jeder als Einzelner!), was wir wollen, dass es in der Welt sein soll; was uns wert ist, dass es Wirklichkeit werde. Beim Vollbringen mögen uns tausend Hindernisse entschuldigen, für das Wollen tragen wir als Einzelne die uneingeschränkte Verantwortung. Nicht alles, was ich will, ist realisierbar, aber nur im Kraftfeld des Wollens ergreife ich mit ganzer Seele das Mögliche und lasse es, soweit es nur irgend geht, Realität werden. Mit anderen Worten: Wo die Kraft fehlt, gegen das unmöglich Erscheinende anzuwollen, wird nicht einmal das Mögliche erreicht. Resignation ist hier zugleich Ursache und Folge. Dies gehört nicht mehr in den Bereich der Naturwissenschaft, ist aber letztlich viel wichtiger als diese.

Zurück zur Natur: Wir finden die Welt (und uns selbst als Selbst) schon (funktions)fertig vor und versuchen mühsam, sie mittels unseres Verstandes zu verstehen, zu interpretieren und zu imitieren. So verwies der Hirnforscher Ernst Pöppel kürzlich in einem Vortrag der Tele-Akademie des Südwestfunks nachdrücklich auf die Tatsache, dass nicht der Computer das Modell für unser Gehirn abgibt, sondern genau umgekehrt unser Gehirn das unerreichte Modell für den Computer darstellt.

Die Vernunft vernimmt darüber hinaus mehr: Sie erkennt die Grenzen des Verstandes und erahnt ein Umgreifendes, ohne das all unser partielles Wissen sozusagen in der Luft hängen würde. Das große Ereignis der menschlichen Vernunft ist, dass hier der lebendige und Leben schaffende Geist zum Bewusstsein seiner selbst kommt und wirkt, nicht aber eigentlich hervorgebracht wird. Bewusstsein ist so etwas wie der Widerschein des Geistes, der uns erhellend Denken und Fühlen in der kalten Nacht des bloßen Seins überhaupt erst ermöglicht.

Auch führende Hirnforscher (wie z.B. John C. Eccles) stellen die Frage, ob das Gehirn den Geist oder der Geist sich das Gehirn geschaffen hat. Dabei wäre dann das Gehirn so etwas wie ein „Empfangsgerät“. Ein Beispiel, das klar werden lässt, was damit gemeint ist: Das Auge bringt ja auch nicht das Licht hervor, das es sieht, auch wenn wir hier ichbezogen vom „Augenlicht“ sprechen (allerdings wird das Licht mit all seinen Farbwirkungen erst dadurch zur subjektiven Realität, dass es auf unserer Netzhaut Impulse auslöst, die im Gehirn verarbeitet werden). Vielmehr hat das Licht das Auge „provoziert“, hervorgerufen. Denken Sie an Goethes Wort: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken?“(8) [Nachdem ich diese Sätze geschrieben hatte, fand ich bei der Zitatquellensuche an gleicher Stelle bei Goethe noch die folgenden ähnlichen Aussagen: „Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus gleichgültigen tierischen Hülfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor (…) Jene unmittelbare Verwandtschaft des Lichtes und des Auges wird niemand leugnen; aber sich beide zugleich als eins und dasselbe zu denken, hat mehr Schwierigkeit. Indessen wird es fasslicher, wenn man behauptet, im Auge wohne ein ruhendes Licht, das bei der mindesten Veranlassung von innen oder von außen erregt werde.“ Diese intuitive Sicht Goethes erfährt eine erstaunlich parallele Sichtweise in der Wheeler-Feynman-Absorber-Theorie in der Quantenphysik. Nach dieser erregen im Auge auftreffende Lichtquanten dort Elektronen in Resonanzstrukturen, und dabei werden von diesen Elektronen auch aus dem Auge heraus „Angebotswellen“ und „Bestätigungswellen“ zur Lichtquelle gesendet.] Wir alle wissen, dass die Augen nur einen kleinen Ausschnitt des gesamten Lichtspektrums wahrnehmen können (und dieser Ausschnitt ist bei verschiedenen Lebewesen verschieden gelagert). Ebenso dürfte sich in unserem Gehirn, dem Wahrnehmungsorgan für Geist, nur ein kleiner Ausschnitt des im Kosmos wirkenden Geistes widerspiegeln. Gerade auch unsere Naturwissenschaft erfasst ja nicht die Natur, sondern eben nur, was wir von ihr wissen. Solange sich unsere Gehirne nicht weiterentwickeln, wird uns wohl verborgen bleiben, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die höchste Erkenntnis ist hier zu wissen, dass wir nichts wissen (können!).

Diese sokratische Einsicht ist nicht neu. Nikolaus von Kues (1401-1464) sagt in seiner Docta ignorantia: „Nichts Vollkommeneres kann dem Menschen, auch dem Gelehrtesten in seiner Wissensweise (doctrina) geschehen, als dass er im Nichtwissen selber, das ihm eigen ist, als der Wissendste gefunden werde; und um so wissender (doctior) wird er sein, je mehr er sich als den Nichtwissenden (ignorantem) wissen wird.“(9) Und nochmals Goethe: „Derjenige, der sich mit Einsicht für beschränkt erklärt, ist der Vollkommenheit am nächsten.“(10) Bis heute hat sich daran trotz der ungeheuren Wissensflut aller Wissenschaften nichts geändert: Je mehr wir wissen, desto größer werden unsere Fragen.

Ob dies auch für den sich in uns offenbarenden ethischen Geist gilt, diese Problematik möchte ich zwar ansprechen, aber hier dahingestellt sein lassen. Dazu wäre ja auch einiges von Schweitzers Philosophie her zu sagen. Als eine Möglichkeit, den Dualismus zu überwinden, möchte ich als offene Frage in den Raum stellen, ob nicht auch der Geist, der sich in uns als ethischer offenbart, sich letztlich doch als höchste Zweckmäßigkeit im Geist des Weltganzen erweist, wenn wir einmal unsere kurzsichtige anthropozentrische Sichtweise aufzugeben bereit sind und zu kosmischem Bewusstsein gelangen. Oder zeigt sich in solchen Aussagen nicht bloß unsere Sehnsucht nach Sinn, die uns zu Projektionen aufs unmittelbar nicht erfahrbare Weltganze (Makro- wie Mikrokosmos) treibt, damit wir den unerträglichen Gedanken verdrängen, vielleicht doch nur „Zigeuner am Rande des Universums“ zu sein, das für unsere Musik taub ist und gleichgültig gegen unsere Hoffnungen, Leiden und Verbrechen, wie der französische Biochemiker Jacques Monod 1970 in „Zufall und Notwendigkeit“ schrieb?

Muss uns nicht jede Zweckmäßigkeit im Geist des Weltganzen verborgen bleiben? Oder ist das, was wir damit benennen, gar nichts statisch Festgelegtes und wir wirken unbewusst in jedem Augenblick unseres Seins – positiv wie negativ – an deren inhaltlicher Bestimmung mit? Dann wären wir Mit-Schöpfer und Mit-Zerstörer zugleich, und in unserem Wollen würden sich Außen- und Innenansicht der Welt (Welt- und Lebensanschauung) berühren und wechselseitig Realität mitbestimmen. Unser Wollen als Feld von Potentialitäten, deren Realwerdung mitentscheidet (nicht entscheidet!), wohin die Reise geht?! Also doch Teleologie in dem Sinne, dass das Ziel sich auf und durch den Weg erst ergibt?!

Wieder ist es die Quantenphysik, die diesen Ansatz unterstützt. Während eines Seminars in Princeton bei John Wheeler sagte Einstein: „Wenn eine Maus das Weltall anschaut, ändert das den Zustand des Weltalls.“(11) G. S. Chew (Leiter Institute Physik, Berkeley-Laboratorien, Universität Californien): „Alles im Universum ist verbunden mit allem anderen in einem totalen Gewebe wechselseitiger Wirkungen.“(12) Ilya Prigogine (belgischer Chemiker und Nobelpreisträger): „Erstaunlich ist, dass jedes Molekül weiß, was die anderen Moleküle zur selben Zeit und über makroskopische Entfernungen hinweg tun werden.“(13) Und nochmals Hans-Peter Dürr (Direktor des Max-Planck-Institutes für Physik und Astrophysik in München): „Was im nächsten Moment passiert, ist aber gar nicht eindeutig festgelegt, weil es aus dem Zusammenspiel von allem entsteht, was es gibt. (…) Was hier abläuft, ist vielmehr ein Zusammenspiel von allem, was das Universum eigentlich ausmacht. Und deshalb kommt man in der Quantenmechanik zu der Vorstellung, dass die Welt eigentlich immer ein Ganzes ist.“(14)

Ebenso wie Gravitation lässt sich Geist nicht herausfiltern oder in der Art wie ein chemisches Element in einer Substanz nachweisen. Auch nicht in der Musik. Geist im menschlichen Bereich ereignet sich im Vollzug, im Hören, in der Kommunikation … oder er ereignet sich eben nicht, bleibt aus. Dies ist ein Unterschied zur Gravitation: Der Geist, der in uns wirkt und zum Bewusstsein kommt, ist nicht verfügbar, nicht zu zwingen. Er schenkt sich sozusagen selbst … oder auch nicht. So ist z.B. die Epiklese, die Herabflehung des Heiligen Geistes in der Eucharistie, ein Akt der Demut: Man muss sich öffnen und um ihn bitten, er lässt sich eben auch nicht durch eine magische Zauberhandlung oder -formel herbeizwingen.

Sie alle kennen das geflügelte Wort: „Der Geist weht [wörtlich ,geistet‘], wo er will.“ Es findet sich bei Johannes 3, 8. Für Geist steht hier auch manchmal „Wind“, was übersetzungsbedingt ist. Im Urtext finden wir hier das griechische Wort pneuma (??????), das beides bedeuten kann, was sehr bezeichnend ist. [Der Wissenschaftstheoretiker Max Jammer hat gezeigt, dass der physikalische Feldbegriff eine Formalisierung der Grundvorstellung des antiken Pneuma ist.] Auch im Hebräischen hat das Wort RUACH zumindest zwei Bedeutungen: Wind und Geist. So übersetzt Martin Buber den bekannten Anfang des Schöpfungsberichtes Gen. 1, 2: „Finsternis lag über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser.“ (Statt: „… der Geist Gottes schwebte über den Wassern.“). Ein Wort für Geist und Wind: Wie der Wind, ein flüchtiges Element, weht der Geist, wo er will. Man sieht ihn nicht, man fasst ihn nicht bei allem Haschen nach Wind, aber man spürt seine Wirkung, ohne sein „Wesen“ zu kennen.

Auch die Luft, die das Gebläse in die Orgel bläst, nennt man in der Fachsprache „Wind“. Die Orgel ist ihrem Wesen nach wörtlich ein „pneumatisches“ Instrument. Diejenige Trakturart, die mittels Luft die Kraftübertragung von der Taste zum Pfeifenventil besorgt, heißt im Fachjargon „Pneumatik“. (Sie ist allerdings trotz des „geistvollen“ Namens vom künstlerischen Standpunkt her nicht zu empfehlen.)

Die Musik selbst ist dem Geist verwandt. Sie breitet sich aus als Tonwelle in der Luft (Wind). Sie ist unsichtbar und als eine Zeitkunst flüchtig. Man erfährt aber ihre Wirkung, wenn man dafür offen und empfänglich ist. Nur dann schenkt auch sie sich selbst als geistige Offenbarung. So kann beim Musikhören der Augenblick scheinbar verweilen und subjektiv der Zeitfluss bis zum Stillstand verformt werden.

Derjenige, der Musik komponiert, sollte „inspiriert“ sein. Ebenso der, der sie vermittelt, interpretiert, sonst kann er sie nicht zum Leben erwecken. „Inspiration“: das bedeutet wörtlich „Einhauchung“, inspirare heißt atmen (diesen Zusammenhang sollte man sich als Interpret, der auf Inspiration hofft, immer bewusst machen!). Auch hier also das Bild von „Hauch“, „Atem“, was ja auch eine Form von „Wind“ ist. Wieder muss man an die Schöpfungsgeschichte denken: „Da bildete Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Ackerboden und hauchte ihm Lebensodem in die Nase; so war der Mensch ein lebendes Wesen.“ (Gen. 1, 7) Der Geist wird hier als das Verlebendigende, Lebendigmachende schlechthin verstanden. Umgekehrt: Wenn wir sterben, hauchen wir den Geist wieder aus. Hierzu fällt mir ein Ausspruch des bereits erwähnten Kernphysikers Hans-Peter Dürr ein: „Was der Theologe ‚Atem Gottes‘ nennt, ergänzt sich im Prinzip mit einer Grundstruktur, die auch in der naturwissenschaftlichen Beschreibung auftritt. Für die Quantenphysik gibt es eine immaterielle Grundstruktur. Meiner Auffassung nach gibt es das Immaterielle in der Gegensetzung zum Materiellen gar nicht. Denn alles ist sozusagen ‚Atem Gottes‘. Man könnte das Materielle so beschreiben, dass Teile dieses Atems anfangen zu erstarren und so das Unbelebte bilden. Aber das Wesentliche ist immer das, was ‚Atem‘ genannt wird.“(15)

Gerade bei der Inspiration zeigt sich auch eine schöpferische „Nachtseite des Geistes“. Damit spreche ich seelische Bereiche und psychologische Dimensionen an, die vor dem Einsetzen der Logik oder des Bewusstseins eine Rolle spielen. Dort finden wir im Dunkeln Quellen, die neben denen der Rationalität existieren und vor ihnen in uns sprudeln. Sie spielen in der Kunst eine große Rolle, aber auch bei der Erkenntnisgewinnung in den, ach, so nüchternen und rationalen Naturwissenschaften, wie sich durch viele Beispiele belegen ließe. Schöpferische Prozesse kommen dem Schaffenden nicht immer voll zum Bewusstsein. Er ist dann nicht der Macher, sondern der Empfangende, der weitergibt. Oft können Sie die Erfahrung machen, dass, wenn Sie einen Künstler nach der „Bedeutung“ seines Werkes fragen, Sie bald wünschten, dass er wieder schwiege, sobald er den Mund aufmacht. Er hat ja als Medium seiner Sprache sein Kunstwerk gewählt, das für sich selbst sprechen soll. In der Musik könnte man mit Jesus sagen: „Wer Ohren hat zu hören, der höre.“ Basta! Das Kunstwerk (wie auch das Gleichnis) legt sich selbst aus, spricht für sich … oder gar nicht. Auf banalerer Ebene: Ein erklärter Witz ist kein Witz mehr.

Wenn ich nachher für Sie spiele, spielen sich dabei geistig-seelische Prozesse ab (man beobachte die Formulierung!), die ich mittels meiner Hände und Füße „ins Werk setzen“ muss. Aber diese komplizierten Abläufe steuere ich nicht mehr nur bewusst. Ja, ein Zuviel an bewusster Aufmerksamkeit würde geradezu störend wirken. Der Seiltänzer stürzt ab, wenn er denkt; der Tausendfüßler kann dann nicht mehr gehen.

Geist ist also mehr als Bewusstsein, Rationalität und Intelligenz. Ein „geistvoller“ Mensch ist eben kein trockener Rationalist, er ist ein Mensch mit Esprit, und „esprit“ heißt im Französischen auch „Witz“.

Das deutsche Wort Geist hat indogermanische Wurzeln und bedeutet im Gotischen und Westgermanischen Erregung, Ekstase. Jemand, der „vor Geist sprüht“, ist in einer gehobenen Verfassung. Be-geisterung spielt hier eine Rolle. Denken wir an das Pfingstereignis (auch hier ist die Rede von Brausen und gewaltigem Wind). Die Ekstase war so groß, dass einige über die vom Geist Ergriffenen spotteten: „Sie sind voll des süßen Weines.“ [Nicht umsonst spricht man ja auch von „Spirituosen“.] Das Wirken des Geistes an Pfingsten war kommunikationsfördernd. Sprachbarrieren wurden überwunden. Das Gegenstück hierzu ist die babylonische Sprachverwirrung.

Exkurs: „im Geiste von“ bei Albert Schweitzer

Etwas nicht wie, sondern „im Geiste von“ jemandem tun, spielt bei Albert Schweitzer eine große Rolle. Im Geiste Jesu handeln, im Geiste Silbermanns eine Orgel restaurieren oder konzipieren, im Geiste Bachs eines seiner Werke interpretieren.

Was er damit meint, scheint mir am deutlichsten zu werden in seinem Buch „Die Mystik des Apostels Paulus“. Nicht umsonst nennt er Paulus den „Schutzheiligen des Denkens“, womit er das eigene schöpferische Denken meint, das selbstbewusst neben historische Autoritäten tritt. Nach Schweitzer (und nicht nur nach Schweitzer!) ist für Paulus nicht der Jesus „im Fleische“ und dessen zu seinen Lebzeiten vorgetragene Lehre Quelle der Erkenntnis und Basis seiner Autorität, sondern der gestorbene und auferstandene Christus, der sich ihm „im Geiste“ offenbart. „Was ihm durch den Geist Christi offenbar wird, gilt ihm als ein von Christo empfangenes Wort.“ (S. 170) „Wären wir nur auf ihn angewiesen, wüssten wir nicht, dass Jesus Gleichnisse geredet, die Bergpredigt gehalten und die Seinen das Vaterunser gelehrt hat.“ ((171) „Weil er die Konsequenzen aus der veränderten Weltzeit zieht [gemeint ist die Parusieverzögerung], kommt Paulus in die Lage, in der Lehre schöpferisch neben Jesus auftreten zu müssen. (…) Er fällt nicht von ihm ab, sondern setzt seine Verkündigung in sinngemäßer Weise fort.“ (115) Dies geht ziemlich weit: Laut Schweitzer „gelangt Paulus (…) zu Behauptungen, die Jesus fern lagen.“ (116) Dies besagt, dass Paulus „denkerisch“ und nicht historisch-wissenschaftlich mit seinem Stoff umgeht: Der Geist ist’s, der da lebendig macht und nicht der tote Buchstabe der Überlieferung. Bei Pinchas Lapide lesen wir dazu: „Von den 82 Zitaten, die Paulus aus seiner hebräischen Bibel bringt, stimmen 30 mit der Septuaginta-Übersetzung überein; 36 weichen beträchtlich von ihr ab; 12 Zitate weisen wesentliche Sinnveränderungen auf; der Rest besteht aus äußerst freien Paraphrasierungen, die kaum dem Sinn, geschweige denn dem Wortlaut des Originals entsprechen. Für sie gilt wohl das Pauluswort: ‚Alle sind sie abgewichen‘ (Röm. 3, 12).“(16) Der katholische Theologe Joseph Blank bemerkt hierzu: „Würde ein heutiger Experte mit der Schrift so umzugehen wagen wie Paulus mit dem AT, dann wäre er wahrscheinlich wissenschaftlich und kirchlich erledigt.“(17)

Auch Schweitzer ist nur sekundär an historischer Authentizität interessiert. In seinen Jugenderinnerungen finden wir die Geschichte vom Juden Mausche, der von der Dorfjugend verhöhnt wird und dabei freundlich und gelassen bleibt. Dazu Schweitzer: „Es ging das Gerücht, er sei ein Wucherer und Güterzerstückler. Ich habe es nie nachgeprüft. Für mich ist er der Mausche mit dem verzeihenden Lächeln geblieben, der mich noch heute zur Geduld zwingt, wo ich zürnen und toben möchte.“(18) Mausche löste etwas aus, das eine geistige Kraft in Schweitzer wurde. Der „historische“ Mausche, der Mausche „im Fleisch“, war für Schweitzer weniger wichtig und hat nie erfahren, was er für ihn bedeutete.

Über seinen Umgang mit historischen Persönlichkeiten äußert sich Schweitzer an anderer Stelle: „Keine Persönlichkeit der Vergangenheit kann durch geschichtliche Betrachtungen oder durch Erwägungen über ihre autoritative Bedeutung lebendig in die Gegenwart hineingestellt werden. Eine Beziehung zu ihr gewinnen wir erst, wenn wir in der Erkenntnis eines gemeinsamen Wollens mit ihr zusammengeführt werden, eine Klärung, Bereicherung und Belebung unseres Willens in dem ihrigen erfahren und uns selbst in ihr wiederfinden.“(19)

Auch beim Predigthören ist für Schweitzer nicht das genaue Verstehen des Gesagten, sondern das, was dadurch ausgelöst wird, das Entscheidende: „Die Predigt ist eine Melodie, die in einer Seele eine neue Melodie weckt, die nun selbständig erklingt [Resonanz!]. Was du für dich denkst bei der Predigt, was du in deinem Innern dir selbst predigst, das ist die Hauptsache.“(20)

Wenn Schweitzer von der „Restaurierung“ einer schönen alten Orgel redet, hat dieser Begriff nichts mit dem zu tun, was wir heute darunter verstehen. Bedenkenlos lässt er ändern und ergänzen: So erhielt zum Beispiel die aus dem 17. Jahrhundert stammende Schnitger-Orgel in St Jakobi in Hamburg auf sein Anraten einen Schwellkasten, der erst im 19. Jahrhundert aufkam und den Schweitzer sehr schätzte. In den vergangenen Jahren wurde diese Orgel dann nach dem heutigen Verständnis von Restaurierung für einige Millionen DM in den „Urzustand“ zurückgeführt, in dem sie seit ihrer Erbauung nie mehr war. Harald Schützeichel hat es treffend gesagt: „…unter einer idealen ‚Bach-Orgel‘ versteht Schweitzer weder ein Instrument, das so gebaut ist wie die Orgeln zur Zeit Bachs, noch eines, das Bach selbst für seine Werke als Vorbild vorschwebte, sondern allein jenes Instrument, auf dem Bachs Werke in der von Schweitzer als ideal empfundenen Weise gespielt werden können.“(21)

Damit glaubt Schweitzer „im Geiste Bachs“, der ihm ein „Prophet im Geiste“ ist, zu handeln, wie folgendes Zitat belegt: „(…) wie froh wäre Bach gewesen, wenn er auf seinem dritten Klavier das piano durch Abdämpfen der Stimmen, wie solches durch den Jalousieschweller möglich ist, noch weiter hätte fortführen können! Wer dieses Mittel im großen (…) Zwischen-[teil] der a-moll-Fuge nicht anwendet (…), versündigt sich geradezu an Bach.“(22) An historischen Aufführungspraktiken war Schweitzer wenig interessiert, obwohl er mehr Kenntnisse davon hatte, als man manchmal annimmt [wäre eine eigene Untersuchung wert]. Er und Widor verstanden sich als Erben der „authentischen Bach-Tradition“ (über Hesse, Lemmens usw.). Dieses Bewusstsein war ihnen nicht der Ausgangspunkt, zurück zu Bach zu gehen, sondern von da aus in unsere Zeit. Sie fühlten sich sozusagen berufen, „Testamentvollstrecker im Geiste Bachs“ zu sein, und zwar weniger im historischen als vielmehr im ästhetischen Sinn. – Schweitzer wollte Bach nicht wie Bach spielen (was auch kaum möglich ist), sondern so, wie er Bach im Innern erlebte, und dies nennt er „im Geiste Bachs“. So wird Bach durch ihn, Schweitzer, lebendig für die Gegenwart.

Sehr aufschlussreich ist ein Satz Schweitzers in einer Vorstudie zu „Zur Diskussion über Orgelbau“: „So tritt jeder Organist sich selbst überlassen für das Instrument ein, dessen Idee in ihm liegt und dem Wesen seiner künstlerischen Persönlichkeit entspricht.“(23) Klugerweise hat Schweitzer diesen Satz nicht in die Druckfassung übernommen, auch wenn (oder gerade weil) er sehr Wahres aussagt, auch über ihn selbst. Zu entlarvend für die eigentliche Basis seines künstlerischen Handelns wäre er gewesen. Auch wollte er die anderen keineswegs „sich selbst überlassen“, sondern an die Hand nehmen und nicht selten gängeln [hier gibt es Gegenbeispiele, aber auch genügend Beispiele]. Denn er wusste, wo es nach seiner Meinung lang gehen sollte. Etwas weniger positiv könnte man das „im Geiste von“ auch als Deckmantel zur Verschleierung der ureigenen Absichten und als deren historischen Legitimierungsversuch interpretieren, nachdem paradoxerweise Schweitzer gerade eben noch die Bezugsperson als rein historische Autorität zu demontieren versucht hatte.

Alles Epigonenhafte, archaistische Tendenzen und Historizismus lehnte Schweitzer ab. Nicht um die Wiederbelebung oder gar Nachahmung historischer Ideale ging es ihm, sondern um die Schaffung neuer Ideale für seine Zeit, durch eigenschöpferisches geistiges Ringen aus der Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft gewonnen. Persönlichkeiten der Vergangenheit dienen ihm hierbei nur als Katalysatoren, nicht als zu kopierende Vorbilder. Der Glaube an die schöpferische Kraft des eigenen Geistes gibt ihm den Mut, selbständig neben historische Größe zu treten und den Faden der Geschichte in der Gegenwart weiterzuspinnen. Das heißt für ihn handeln „im Geiste von…“. Dies ermöglicht ihm, schöpferisch zu sein bei gleichzeitiger Wahrung des geschichtlichen Kontinuums.

So weit unser Exkurs zu Albert Schweitzer

Weiter vorn sagte ich: Geist im menschlichen Bereich ereignet sich im Vollzug, im Hören, in der Kommunikation. Dies lässt sich am Beispiel der Musik besonders gut verdeutlichen. Ein Musikstück entsteht im Kopf des Komponisten, der einen Einfall, eine Inspiration fühlend erlebt und denkend durchkonstruiert. Um es mitzuteilen und reproduzierbar zu machen, muss er es zu Papier bringen. Hierbei materialisieren sich sozusagen seine musikalischen Gedanken in einer Substanz (Bleistift, Tinte, Druckerschwärze) auf Papier. Die Anordnung dieser Substanz geschieht nach einem Code, den der Kundige wieder entschlüsseln und zu Musik werden lassen kann (der sehr Kundige kann dies sogar ohne instrumentale Hilfsmittel, rein als Vorstellung in seinem Kopf). Damit ist bereits über Raum und Zeit hinweg eine Beziehung zum Komponisten hergestellt.

Der Interpret wird beim Entschlüsseln des Codes (der Noten) veranlasst, gewisse Körperteile so in feinmotorische Bewegung zu versetzen, dass durch ein Instrument (bei Sängern der Mensch selbst) die Luft in entsprechende Tonschwingungen versetzt wird. Diese immateriellen Schallwellen lösen in unserem Gehör Reaktionen aus, die wiederum eine codierte Botschaft enthalten. Je nach Musikalität ist unser Gehirn dann in der Lage, den Code zu knacken und ein musikalisches Erlebnis daraus entstehen zu lassen, das etwas von dem vermitteln soll, was sich der Komponist vorgestellt hat. Dem Interpreten als Vermittler kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Bereits bei ihm müssen „Hirn“ und „Herz“ mitschwingen, wenn beim Hörer eine Resonanz in Geist und Seele geweckt werden soll, und das ist doch das Wesentliche bei dem ganzen Vorgang!

Heute können wir den Tonschwingungen, die ein Musikstück bilden, quasi „einfrieren“ auf Tonträgern … und sie beliebig oft wieder „auftauen“. Was beim Live-Erlebnis noch als hinreißender Affekt einmalig wahrgenommen wurde, kann beim x-ten Hören aus der Konserve leicht zum lästigen Effekt verkommen (vielleicht müssen Studio-Aufnahmen deshalb oft so steril, „nur richtig“ sein!?). Durch Aufnahmetechnik können auch bewusst Effekte erzielt werden, die live nicht möglich wären. Aber nichts darf uns darüber hinwegtäuschen, dass eine noch so perfekte Tontechnik nichts an der geistigen Substanz einer Komposition oder Interpretation ändern kann.

Betrachten wir nun, was an unserem Musikstück wirklich materiell „greifbar“, gegenständlich ist. Etwa die Druckerschwärze auf dem Papier oder die Rille auf der Schallplatte. Wenn wir nun die Druckerschwärze einer chemischen Analyse unterziehen und die Rille mit Lupe und Mikroskop studieren, alles exakt wissenschaftlich, glauben Sie, dass wir uns dann dem Verständnis der Musik, was sie uns sagen will (also dem eigentlich Wesentlichen!) nähern? Schon die Druckerschwärze an sich ist ja gar nicht wichtig, es ist ihre Anordnung, ihre Verteilung auf dem Papier, ihre Struktur als Code. Bei der Rille ist es ähnlich. – Gleiches gilt entsprechend für andere Bereiche, z.B. auch für diesen Vortrag.

Das rein Materielle ist also nur so etwas wie Transportmittel für das Geistige, das sich als ästhetisches Erlebnis, als Betroffenheit in mir manifestiert. Dies ereignet sich aber nur, wenn ich mich öffne und auf Kommunikation mit dem Interpreten und Komponisten durch das Medium Musik einlasse. Anders als im ganzheitlichen Vollzug, im Hören, ist dies überhaupt nicht möglich.

Dass „Geist“ nicht nur, aber auch in zeitgenössischer Musik zu finden ist, das wollen wir uns nun erlebend vergegenwärtigen. Etwas so Flüchtiges wie Geist braucht ein „Gefäß'“, um sich darin zu sammeln. Ein solches Gefäß kann Musik – auch die moderne – sein. Ich wollte zunächst alles Einengende wegräumen und allgemein einen Horizont öffnen, der vielleicht empfänglicher macht auch für den Geist in der Musik und besonders der zeitgenössischen, denn diese braucht kosmische Offenheit. Sie ist Aufbruch aus Gewohntem in neue Sphären.

Ein Mensch, der gerne Musik hört und „weiter nichts davon versteht“, erlebt bereits ein ästhetisches Verstehen im Ursinn des griechischen Wortes aisthanomai (??????????) = sinnlich wahrnehmen. Diese ästhetische Wahrnehmung hat jedoch ihre Vorbedingungen in der Geschichte, im Kulturkreis, in der sozialen Umgebung, in der wir aufwachsen, und nicht zuletzt auch im Ich-Verständnis der einzelnen Person. Schon daher ist es barer Unsinn anzunehmen, dass ein harmonischer Dreiklang per Naturgesetz die Harmonie der göttlichen Schöpfungsordnung oder gar noch die Trinität persönlich darstellt. Ein Merkmal zeitgenössischer Musik ist oft gerade die Emanzipation der Dissonanz, und diese kann einen ebenso großen ästhetischen Reiz haben wie eine Konsonanz. Bei traditioneller Musik hören wir innerlich sozusagen schon voraus, und je mehr unsere Hörerwartung erfüllt wird, desto heiler erscheint uns die musikalische Welt, in die man sich flüchten kann. Je mehr eine Musik dieses Heile-Welt-Bedürfnis erfüllt, desto mehr ist sie eigentlich eine Musik zum Weghören statt zum Hinhören: Unterhaltungsmusik, Backgroundmusik. Die zeitgenössische Musik zwingt dagegen zum Hinhören – oder zum Abschalten, weil sie stört, da unsere unbewusste Hörerwartung ständig enttäuscht wird, und das ist’s, was wehtut. Dabei hatte ja auch die ältere Musik für ihre Zeitgenossen solche „Härten“ (über einige Streichquartette von Mozart hieß es, man müsse mit Eisen gepanzerte Ohren haben, um sie zu ertragen!). Wenn wir in dieser Musik heute fälschlich eine Idylle erleben, liegt dies an unseren heutigen Ohren, die inzwischen eine ganz andere Hörerfahrung durchgemacht haben und das Ungeheure dieser Musik gar nicht mehr als ungeheuer empfinden.

Der Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht schreibt in seinem großartigen letzten Buch „Musik im Abendland“: „Tatsächlich lässt sich die ästhetische Schönheit und Größe von Musik nicht (oder nur sehr begrenzt) durch beschreibende und erklärende Sprache plausibel machen: Die Musik will und kann das nur durch sich selber tun. Und selbst wenn wir auf dem ästhetischen Weg erfahren haben, dass Musik schön und groß ist, lässt sich dasjenige, was ihre Schönheit und Größe ausmacht, nicht sprachbegrifflich erfassen und beweisen: Wann immer wir über sie sprechen, schreiben und lesen, indem wir analysierend und deutend zu verstehen suchen, wie sie gemacht ist und was sie ausdrückt, setzen wir ihren durch Erfahrung gewonnenen ästhetischen Wert voraus.“ (S. 720 f.) Auf einem Seminar in Karlsruhe sagte Eggebrecht einmal nach dem Anhören von Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“: „Wenn Sie die Schönheit einer zeitgenössischen Komposition nicht wahrnehmen, dann liegt das nicht an der Musik, sondern an Ihnen!“ So gibt es auch nur eine Möglichkeit, moderne Musik zu verstehen: durch die Erfahrung, die Eingewöhnung (Vorsicht: man gewöhnt sich an alles!), eben durch Zuhören, also im Vollzug, auch wenn selbst Eggebrecht zugesteht, dass man die ästhetische Erfahrung animieren und fördern, das ästhetische Verstehen vertiefen und bereichern kann durch erkennendes Verstehen, Bedenken, Beschreiben und Erklären von Musik. Dies will ich nun noch versuchen.

Musikbeispiele vom Tonband zum Programm meines Orgelkonzertes

Alle Musikbeispiele haben etwas gemeinsam, das Ihnen den Zugang erheblich erleichtert: Den Zellkern bilden bekannte (und hoffentlich auch vertraute) Choralmelodien, um die herum sich Neues kristallisiert. Es sind die uralten Hymnen zu Advent und Pfingsten, „Nun komm, der Heiden Heiland“ und „Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist“ (die auch inhaltlich zu unserem Thema passt), sowie der alte Passionschoral „O Haupt voll Blut und Wunden“ (gleich zweimal unter Einbeziehung des Bachschen Choralsatzes). Ich führe Sie gleichsam auf den Trampelpfaden der (Hör-)Gewohnheit durch eine vertraute Welt, die Sie aber in neuer Beleuchtung plötzlich ganz anders, intensiver, wie am ersten Tag erleben. Sie müssen hinhören und staunen wie ein Kind! Immer wieder aufs neue müssen wir uns die Welt unvertraut werden lassen, innerlich „leer“ werden für Neues, damit wir nicht verkrusten und erstarren in Gewohntem, damit wir lebendig und offen bleiben für neue kreative Perspektiven, unter denen sich die alte Welt täglich neu schenkt. Dafür trägt auch die moderne Musik eine große Verantwortung – sie ist mitverantwortlich für den geistigen Zustand der Welt, wie überhaupt die Musikpflege mindestens so wichtig ist wie Hege und Pflege der Natur. Beide, Musik und Natur, bedürfen unseres Schutzes.

Gerade auch die Kirchenmusik sollte ihre Verantwortung erkennen und mithelfen, kirchliche Strukturen, in denen sich auch gerne engstirnige Spießer- und Funktionärsmentalität einnisten, aufzubrechen und vor geistiger Verfilzung, Verkrustung und Verarmung bewahren zu helfen, damit auch in der Kirche die Rede vom Heiligen Geist als Schöpfer nicht zur hohlen Phrase verkommt. Das geschieht aber ganz gewiss nicht, indem die Kirche ihren unermesslichen Reichtum an musikalischen Kulturgütern (einschließlich der Moderne) leichtfertig preisgibt und diesen, sich anbiedernd, gegen etwa trivialen Sacropop eintauscht, bzw. gegen seichte Gebrauchsmusik oder nichtssagende Background-Weghörmusik, die den einzigen Vorteil hat, nicht zu „stören“. Dieser „Vorteil“ erweist sich als der größte Nachteil, nimmt man Kirchenmusik auch als Verkündigung ernst: Verkündigung, die nicht „Unerhörtes“ zur Sprache bringt, drischt leeres Stroh. [Analog: Wer in den ersten Nachkriegsjahrzehnten des Wirtschaftswunders seine soliden handwerklichen Möbel verheizte und durch damals moderne Sperrholz- und Pressspanfabrikware ersetzte, die das solide Handwerk ruinierte, der handelte zwar angepasst, up-to-date, aber sicherlich nicht wirklich weitblickend fortschrittlich. Als man sich schließlich des Verlustes bewusst wurde, setzte eine nostalgische Jagd nach Antiquitäten ein, die erneut alle Kreativität erstickte.] – Auch in dieser Hinsicht will meine Auswahl der Musikstücke ein Zeichen setzen: Altes Liedgut wird hier weder verherrlicht noch abgeschafft, sondern in Zeitgenössisches integriert und damit aktualisiert.

Nach Hans Heinrich Eggebrecht teile ich die folgende Betrachtung ein in ästhetisches Bedeuten (unmittelbar verständliche rein musikalische Aussage) und in symbolisches Meinen (verabredete Symbolik, die man wissen muss, um sie zu erkennen und zu verstehen).

  1. Partita „Komm, Gott Schöpfer, Hl. Geist“ (Rainer Noll gewidmet) von Dick Troost, geb. 1949 in Marknesse/Holland. Nach dem Studium an der Musikhochschule in Utrecht wirkte er als Dozent für musiktheoretische Fächer an der Musikhochschule in Tilburg (Nord-Brabant) sowie als Kantor und Organist der Evang.-Luth. Kirche in Den Haag. Zurzeit ist er Dozent an der Stichting Musikschule in Ede und Kantor der dortigen Lutherischen Kirche. Preisträger verschiedener Orgelimprovisations- und Kompositionswettbewerbe. Bekannt durch Konzerte, Rundfunk-, Fernseh- und Schallplattenaufnahmen in vielen Ländern.
    Aufnahme: Schallplatteneinspielung durch den Komponisten in der Luth. Kirche in Den Haag.

    Ästhetisches Bedeuten symbolisches Meinen
    „schwebender“ Charakter (bes. Var. 4) 5 – Zahl (für pentêkostê, gr. = der 50. ? Pfingsten):
    5 Variationen
    Quintparallelen
    1. Var.: alle 12 Halbtöne kommen vor
    2. Var.: 5/8-Takt (gegen 3/8 im cantus firmus!)
    3. Var.: fünfstimmig
    Kanon in der kleinen Unterterz zwingt zu Veränderungen der Melodie
    „Brausen“ 5. Var.: Satzbezeichnung „con spirito“,
    Pedal: c.-f.-Imitation zum c.f. im Sopran
  2. Fantasie „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Christoph Nogay, geb. 1941, seit 1969 [- 2006] Kantor der Apostelkirche Bonn-Tannenbusch.
    Aufnahme: Live-Mitschnitt vom Karfreitag 1996 in St. Martin zu Kelsterbach mit Rainer Noll.Nogays Choralfantasie verbindet harmonische Melodik mit neuen Satztechniken und Stilelementen. Sie ist rondoartig aufgebaut. Formale und symbolische Bedeutung hat die Dreiteiligkeit, wie sie sich in Wiederholungen und im Aufbau der einzelnen Teile findet. Das Werk schließt nach einem meditativen Teil und der Wiederholung des erweiterten Pedalsolos mit dem notengetreuen Choralsatz „O Haupt voll Blut und Wunden“ aus Bachs Matthäus-Passion mit hinzugefügtem B.A.C.H-Monogramm am jeweiligen Zeilenende (symbolisches Meinen!). – Auf der Ebene des ästhetischen Bedeutens ist das Werk als „musikalische Dornenkrone“ unmittelbar verständlich.
  3. Die letzten drei Stationen des „Kreuzweges nach Holzschnitten von HAP Grieshaber“ von Wolfgang Wiemer, geb. 1934, studierte Schul- und Kirchenmusik in Frankfurt/Main, war Lehrer am musischen Internat in Laubach und zuletzt Hochschullehrer in Esslingen.
    Aufnahme: Live-Mitschnitt vom Karfreitag 1992 in St. Martin zu Kelsterbach mit Rainer Noll.Diese kurzen Szenen fassen den Kern des Karfreitagsgeschehens zusammen. Man bedenke, dass es sich hier um eine Hinrichtung auf grausamste Weise handelt. Und dem versucht diese Musik gerecht zu werden – nicht in „schöner“, sondern „wahrer“ Expressivität. (Auf der Ebene des ästhetischen Bedeutens unmittelbar verständlich.)Station XII hat das schmerzvolle Sterben Jesu in tiefster Gottverlassenheit zum Thema. Sämtliches Tonmaterial entnimmt Wiemer dem Choralsatz „Wenn ich einmal soll scheiden“ aus Bachs Matthäus-Passion (symbolisches Meinen!). Dieser Choralsatz klingt jedoch quasi zerstört, in Klangfetzen polarisiert, die sich durch Paralleltranspositionen, gegensätzliche Artikulation und Klangfarbe stark gegeneinander abheben. Der übliche Lauf der Welt scheint durch die Hinrichtung dieses unschuldigen Gerechten namens Jesus aus den Fugen geraten zu sein.Station XIII: Jesus ist gestorben. Der Tod hat ihn von seinen Qualen erlöst. Unbändiger Schmerz bricht in wilder Zerrissenheit nun aus denen hervor, die seinen Tod miterlebt und überlebt haben. Der Leichnam Jesu wird vom Kreuz genommen und seiner Mutter, die unter dem Kreuz ausharrte, in den Schoß gelegt, aus dem er geboren worden war. Die Mutter Jesu ist untröstlich in ihrem verzweifelten Schmerz – wie alle Mütter der Welt, die den (gewaltsamen) Tod ihrer Kinder erleben müssen.

    Station XIV: Jesus wird ins Grab gelegt. Alles scheint gescheitert und vergeblich gewesen zu sein. Und endgültig vorbei. Düstere Tonballungen (Cluster) wachsen bedrohlich in die Tiefe wie alles verfinsternde Gewitterwolken. Fast körperlich vermeint man Nachbeben des geschilderten Erdbebens zu erleben. Da leuchtet hoffnungsvoll der Osterchoral „Christ ist erstanden“ über allem. Aber nicht wörtlich erklingt der Choral, sondern gebrochen und verzerrt: Damit setzt Wiemer ein dezentes Fragezeichen hinter den unverbindlichen Buchstabenglauben an Ostern als ein rein historisches Faktum, dessen Faktizität als solche wiederum nicht im geringsten davon abhängt, ob jemand daran glaubt oder nicht. Die hoffende Glaubensgewissheit erweist sich als frei und unabhängig und wirkt so Befreiung und Erlösung.

  4. Partita „Nun komm, der Heiden Heiland“ von Augustinus Franz Kropfreiter, geb. 1936, Organist an der Bruckner-Orgel im Stift St. Florian bei Linz [? 2003].
    Aufnahme: Live-Mitschnitt vom 7. Dez. 1996 in St. Martin zu Kelsterbach mit Rainer Noll, auf CD zu erhalten.Aus Zeitmangel hören wir diese Partita nicht mehr. Die Teilnehmer erhalten ein Blatt mit Melodie und Text des Chorals mit der Aufgabe, nachher im Konzert eventuell Verbindungen zwischen den einzelnen Variationen und Strophen zu entdecken.

Ich hoffe, Sie nun neugierig (statt alt-gierig) gemacht zu haben für diesen Weg der Annäherung an einige zeitgenössische Werke meines Orgelkonzertprogramms. Wenn Sie dann nachher im Konzert nur einiges wiedererkennen, ist der erste Schritt über die Schwelle des Unvertrauten schon gemacht, denn dieses Wiedererkennen von Bekanntem ist ja für manche Besucher traditioneller Konzert der höchste, weil leider auch oft einzige Konzertgenuss.
Wer Ohren hat zu hören, der höre. (Mk. 4, 9)

1 Vortrag während der Internationalen Seminartage des Albert-Schweitzer-Hauses in Günsbach/Elsaß (Thema: Heiliger Geist – Geist des Lebens – Geist der Wahrheit), gehalten am 15. März 1997
(ausgearbeitete Fassung)

2 Popper / Eccles: Das Ich und sein Gehirn, München 1982, S. 135.

3 Zitiert nach Ulrich Warnke: Gehirn-Magie, Saarbrücken 1997, S. 57 und 87.

4 Hans-Peter Dürr: Gott, der Mensch und die Wissenschaft, Augsburg 1997, S. 15.

5 Wie 4, S. 8 und 118.

6 Wie 3, S. 110.

7 Hoimar v. Ditfurth: Wir sind nicht nur von dieser Welt, Hamburg 1981, S. 270 f.

8 Goethe: Einleitung zu „Entwurf einer Farbenlehre“, Insel-TB Bd. 6, S. 381.

9 Zitiert nach Karl Jaspers: Nikolaus Cusanus, München 1987, S. 26.

10 Wie 8, S. 448.

11 Wie 3, S. 72.

12 Wie 3., S. 87

13 Wie 3, S. 86.

14 Wie 4, S. 139.

15 Wie 4, S. 139 f.

16 Pinchas Lapide: „Ist die Bibel richtig übersetzt?“ Bd. 1, Gütersloh 1986, S. 107

17 Joseph Blank:„Verändert Interpretation den Glauben?“, Freiburg 1972, S. 54, zitiert nach Lapide, wie Anm. 16, S. 108.

18 A. S.: Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, S. 10

19 A. S.: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 886 (Hervorhebungen von mir).

20 Predigt 7.11.1902, zit. bei Stefan Hanheide: J. S. Bach im Verständnis A. Schweitzers, München 1990,
S. 26 (Hervorhebung von mir).

21 Harald Schützeichel: Die Orgel im Leben und Denken A. Schweitzers, Kleinblittersdorf, 1991, S. 326.

(Hervorhebung von mir).

22 A.S.: J. S. Bach, Wiesbaden 1960, S. 265.

23 Wie 21, S. 345.

 

Orgelkonzert am 15. März 1997, 20 Uhr, Pfarrkirche Günsbach

An der Orgel: Rainer Noll

Michael Praetorius (1571 – 1621)

„Veni, redemptor gentium“

(aus „Hymnodia Sionia, 1611, Melodie im Bass)

Augustinus F. Kropfreiter (1936[ – 2003])

Orgelpartita „Nun komm, der Heiden Heiland“

(Choral und fünf Variationen)

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)

Fuge über das „Magnificat“ BWV 733

Christoph Nogay (geb. 1941)

Choralfantasie „O Haupt, voll Blut und Wunden“

Wolfgang Wiemer (geb. 1934)

Stationen nach dem „Kreuzweg nach Holzschnitten von HAP Grieshaber“:

XII. Jusus stirbt am Kreuz

XIII. Kreuzabnahme (Beweinung)

XIV. Grablegung

Dick Troost (geb. 1949)

Orgelpartita „Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist“

(Choral und fünf Variationen)

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847)

Sonate c-moll Op. 65 Nr. 2

Grave – Adagio – Allegro maestoso e vivace – Fuga

Albert Schweitzer: Die Orgelwerke Johann Sebastian Bachs

Buchrezension (erschienen im „82. Rundbrief für alle Freunde von Albert Schweitzer“, Mai 1996; gekürzt in „Der Kirchenmusiker“ 4/1996)

Albert Schweitzer: Die Orgelwerke Johann Sebastian Bachs
Vorworte zu „Sämtliche Orgelwerke“  (mit einer Einleitung von Harald Schützeichel) Verlag Georg Olms, Hildesheim – Zürich – New York, 1995 271 S., 168,– DM [ISBN 3-487-09710-9, heute 88,- €]

Mit dieser Veröffentlichung, die im Sinne Schweitzers ist (s. Einleitung S. XIV), liegen erstmals die Vorworte aller acht Bände der amerikanischen Schirmer-Gesamtausgabe der Orgelwerke Bachs in einem Bande vereinigt und dazu noch in der heute nirgends zu habenden deutschen Originalfassung vor. Die ersten fünf Bände erschienen 1912/13 (Copyright der englischen Ausgabe in meinem Besitz) in deutscher, englischer und später auch in französischer Sprache, herausgegeben gemeinsam von Charles-Marie Widor und Albert Schweitzer, dessen Mitarbeit Widor zur Bedingung gemacht hatte. Sie enthalten die sogenannten freien Orgelwerke: Präludien, Toccaten, Fantasien, Fugen, Canzona, Passacaglia, Konzerte und Triosonaten.

Band VI wurde 1954 veröffentlicht, die Bände VII und VIII folgten erst 1967, zwei Jahre nach Schweitzers Tod, alle drei Bände nun unter Mitarbeit des aus Straßburg stammenden amerikanischen Organisten Edouard Nies-Berger (geb. 1903 [gest. 2002] ), und nur in englischer Sprache (zur komplizierten Editionsgeschichte siehe die Einleitung von Harald Schützeichel sowie vom selben Autor „Zur Geschichte der von Widor und Schweitzer herausgegebenen Gesamtausgabe Bachscher Orgelwerke“ in „Ars Organi“, Heft 3, 1987, S. 159-167). Sie enthalten die Choralvorspiele.

Die Editionsprinzipien (a: Noten als unberührter Urtext, b: Präludien und Fugen nach Schaffensperioden und Tonarten geordnet, c: peinliche Beachtung aller auf Bach selbst zurückgehenden Anordnungen, d: Beigabe von Text und Melodie zu den Choralvorspielen, e: die Auffassung der Herausgeber erscheint nur im Vorwort) waren zu Beginn des Jahrhunderts geradezu revolutionär. Heute sind sie eine Selbstverständlichkeit (siehe z.B. die Neue Bach-Ausgabe beim Bärenreiter-Verlag Kassel). Die klassische „Peters-Ausgabe“ (erstmalig 1844-52 erschienen – aus ihr spielten übrigens Schweitzer wie auch Widor zeitlebens) entsprach den o.g. Editionsprinzipien nicht in den Punkten b bis d.

In den Vorworten versuchten die Herausgeber, „das musikalische Handeln bei der Wiedergabe von Fugen und Präludien in knappe Worte zu fassen“, obwohl sie sich voll der verbalen „Unvollkommenheiten des vorliegenden Versuchs, des ersten der in dieser Richtung überhaupt unternommen wird“, bewußt waren (S. 29). Für die deutschen Texte und die auf ihnen fußenden englischen war Schweitzer federführend, während Widor hauptsächlich für die französischen verantwortlich zeichnete. Dies ist den Vorworten selbst jedoch nicht unmittelbar zu entnehmen, die in wesentlichen Teilen bereits 1910/11 in den Zeitschriften „Die Orgel“ und „Die Musik“ unter der Doppelautorschaft Widor – Schweitzer vorab veröffentlicht worden waren (der Vorabdruck aus Bd. I „Über die Wiedergabe der Präludien und Fugen für Orgel von J. S. Bach“ erschien 1976 bei der Eres Edition, Lilienthal, als Reprint).
Bei allem echt partnerschaftlichen Ringen der beiden Autoren, nach außen die (meistens auch vorhandene) größtmögliche Einmütigkeit der Auffassung zu demonstrieren, um die Leser nicht zu verwirren, gab es dennoch Differenzen (besonders die Artikulation betreffend), die Schweitzer im deutschen Text Konzessionen an Widors Ansichten abnötigten (siehe hierzu die Untersuchungen bei Stefan Hanheide, Johann Sebastian Bach im Verständnis Albert Schweitzers, München/Salzburg, 1990, S. 293-295 und S. 305-314, und bei Sven Hiemke, Die Bach-Rezeption Charles-Marie Widors, Frankfurt am Main, 1994, S. 117-167). Wie Hanheide zeigte, hat Widor aber auch auf die deutsche Ausgabe Einfluß genommen. Man kann insgesamt sagen, daß Widor die deutsche Ausgabe redigierte und dabei eliminierte, was seiner Auffassung ganz entgegenstand“ (Hanheide, S. 295).

Vor diesem Hintergrund erscheint mir die vorliegende Veröffentlichung unter Schweitzers Namen allein insofern bedenklich, als hier in der Einleitung mit keinem Wort auf diese Problematik eingegangen wird. Überhaupt vermeidet Schützeichel in der Einleitung bei aller bewundernswerten Detailkenntnis jeden Versuch, die veröffentlichten Texte mit neuesten Ergebnissen der Bach-Forschung in Berührung kommen zu lassen und diesen damit den ihnen gebührenden geschichtlichen Ort zuzuweisen, um so zu einer wahrhaftigen Würdigung der unbestritten großen und fruchtbaren Leistung Schweitzers zu gelangen. Dadurch wird (bewußt oder unbewusst ?) der Eindruck erweckt, als handle es sich hier generell um überzeitliche, epocheunabhängige absolute Wahrheiten zur Wiedergabe der Orgelwerke Bachs, die erneut als solche verkündigt werden sollten (was wohl auch der Überzeugung und Intention Widors und Schweitzers entspricht, aber so in einer einigermaßen wissenschaftlich-kritischen Ausgabe nicht einfach stehen bleiben kann, als hätte es nach Schweitzer keine Entwicklung oder Forschung mehr gegeben, die frühere Erkenntnisse zumindest partiell relativieren könnte).

Ein Beispiel: In seiner Forderung nach einer lebendigen Artikulation (er spricht immer von Phrasierung, auch wo er eigentlich Artikulation meint) hatte Schweitzer das Prinzipielle seiner Zeit vorauseilend (und auch weit über Widors strikte Legato-Forderung hinausgehend) aus feinfühliger künstlerischer Notwendigkeit heraus intuitiv richtig erfaßt. Hierin können wir nicht mehr hinter ihn zurück. In seinen konkreten Artikulationsvorschlägen blieb er jedoch Kind seiner Zeit und muß als überholt gelten – besonders in der fast dogmatischen Art der Anwendung seines auf Hugo Riemann zurückgehenden auftaktigen Grundprinzips mit angebundenen Auftakten auf alles und jedes bei Bach (siehe auch Jon Laukvik, Orgelschule zur historischen Aufführungspraxis, Stuttgart, 1990, S. 87). In den Notenbeispielen der deutschen Vorworte ist allerdings Schweitzers auftaktige Artikulation der Bachschen Themen der volltaktigen Auffassung Widors gewichen (vergleiche Schweitzers Artikulation im Bach-Buch und in seinen Schallplattenaufnahmen).

Die Vorworte der vorhergehenden Bände – auf Deutsch ohnehin nur anfangs gedruckt – blieben hierzulande fast unbekannt, da die Schirmer-Ausgabe in Europa wegen des hohen Preises kaum Verbreitung fand, dagegen in den USA heute noch zu den gebräuchlichsten zählt). Lediglich das umfangreiche Kapitel „Die Verzierungen in Bachs Orgelkompositionen“ (S. 147-170), das Schweitzers späte, ihm sehr wichtigen Untersuchungen zu diesem Thema enthält, erschien bereits vorher in deutscher Sprache in „Albert Schweitzers nachgelassene Manuskripte über die Verzierungen bei Johann Sebastian Bach“, Bach-Studien 8, Leipzig, 1984, S. 54-91, hier als „Zweite Fassung 1952-1953″ bezeichnet. Ihr schließt sich auf S. 91-123 eine „Dritte Fassung 1954-55″ an (also nach der Veröffentlichung des VI. Schirmer-Bandes 1954 verfaßt), zu der Bernhard Billeter im „ergänzenden Vorwort“ S. 14 schreibt, daß „in diesem Fall Schweitzers letzte Niederschriften die inhaltlich besten sind, was bei seinen nachgelassenen Manuskripten zu theologischen und philosophischen Schriften nicht immer zutrifft.“ In den 1967 veröffentlichten Schirmer-Bänden VII und VIII fand diese letzte Fassung keine Aufnahme. Stattdessen wurde hier die „Zweite Fassung“ wie schon in Band VI in englischer Übersetzung unverändert nachgedruckt. Deshalb ist es um so bedauerlicher, daß die Fassung letzter Hand der hier besprochenen neuesten Veröffentlichung nicht als Ergänzung beigegeben wurde, zumal auch die Beilage zum Bach-Buch, für die diese Fassung bestimmt war, nie erschienen ist (siehe hierzu Erwin R. Jacobi, „Schweitzers Plan einer Revision des Bach-Buches“ in Bach-Studien 8, Leipzig, 1984, S. 19-52).

Ebenso bedauerlich ist auch der teilweise unleserliche Druck der Notenbeispiele im Kapitel über die Verzierungen, der den hohen Preis des Bandes unangemessen erscheinen läßt (die Notenbeispiele in der englischen Schirmer-Ausgabe sind jedenfalls einwandfrei – sie ist übrigens z.Z. für 29,90 DM je Band so günstig wie noch nie auch in Deutschland zu erhalten).

All diese Mängel sind um so beklagenswerter, da die Veröffentlichung in den Bach-Studien 8 „in einer allerdings sehr unzureichenden Art mit vielen Druckfehlern und einer äußerst geringen Auflage“ geschah, wie Schützeichel schreibt (Einleitung, S. XV).

Leider vermisse ich in der Einleitung Schützeichels zum Inhalt dieses gewichtigen Ornament-Kapitels auch kritisch-erläuternde Sätze, wie sie sich im schon erwähnten „ergänzenden Vorwort“ der Bach-Studien 8, S. 16/17 von Billeter finden: „Es wäre bestimmt nicht im Sinne Albert Schweitzers, wollte man dem heutigen Leser verschweigen, daß eine Voraussetzung, die in seiner Zeit den meisten Interpreten als ganz selbstverständlich erschien, sich nicht aufrecht erhalten läßt. Es handelt sich um die Regel, daß die Trillertöne und die Trillernachschläge in den Takt einzuteilen seien. (…) Jedoch ist das späte Ringen Schweitzers um Klarheit in allen diesen für die Musikpraxis wichtigen Einzelfragen, über die heute noch so verbreitet Unwissenheit und Unsicherheit herrschen, nicht hoch genug zu bewerten.“

Neuere Abhandlungen zum Thema der Bachschen Verzierungen erwähnen Schweitzer nicht einmal. So z.B. Hans Klotz, Die Ornamentik der Klavier- und Orgelwerke von Johann Sebastian Bach, Kassel, 1984 (und dies, obwohl Klotz Schweitzers Triller-Manuskripte auf dessen Bitten kritisch durchgesehen und sich ausführlich dazu geäußert hat!); Jon Laukvik, a.a.O., S. 218-234; Gerhard Weinberger in „Zur Interpretation der Orgelmusik Joh. Seb. Bachs“, Kassel, 1995, S. 87-119. Die Auseinandersetzung der Fachwelt mit Schweitzers Ornamentenlehre steht also noch aus. Die vorliegende Veröffentlichung könnte dazu anregen.

Die geistige Haltung, die Schweitzer (und nicht minder auch Widor) vom Organisten verlangt, ist eine Herausforderung an den Geist unserer Zeit. „Wenn so viele Organisten sich im Zeitmaß vergreifen und das Hasten und die Unruhe nicht aus ihrem Spiel bannen können, liegt die Schuld nicht so sehr an mangelnder künstlerischer Einsicht, sondern daran, daß sie es nicht zur tiefen inneren Sammlung gebracht haben und in der Welt der Erhabenheit, der die Fugen und Präludien angehören, Fremdlinge geblieben sind“ (S. 6)

„Die Virtuoseneitelkeit und das Bestreben, sich selber bemerkbar zu machen, mit seiner ,Auffassung‘ zur Geltung zu gelangen und etwas neben Bach zu sein, müssen von ihm [dem Interpreten] wie eitler Tand abfallen. Erst wenn er vor sich selber klein wird und eine Läuterung seines Künstlertums erfährt, wird er fähig das Große, was er als Vermittler zwischen Bach und den Menschen unserer Tage aussprechen darf, selber erst zu erfassen.“ Derjenige, der das Instrument zum Erklingen bringt, müsse „es mit heiliger Gesinnung tun und etwas von der Demut und der Weihe eines Propheten an sich tragen.“ Sonst habe er, auch wenn sein Spiel noch so vollendet sei, „nur sich selber und die anderen betrogen, als hätte er Bach gespielt.“ (S. 27) Zu dieser Demut gehört für Schweitzer z.B. auch, daß der Organist sich in das Instrument und den Raum einlebt und sich die Werke vorspielen läßt, um Registrierung und Tempo im Kirchenschiff abzuhören (S. 5, S. 146). Wie viele selbst namhafte Organisten kommen knapp vor Konzertbeginn angereist, registrieren in aller Hast ein, um dem ahnungslosen Zuhörer etwas um die Ohren zu schlagen, was mit verantwortungsvollem, künstlerischen Tun nicht das Geringste gemein hat!

So sehr die „Vorworte“ zunächst nur interpretationsgeschichtlich von Bedeutung scheinen, ebenso sehr können sie doch von praktischem Nutzen für den heutigen Organisten sein. Am Beispiel Bach – dem aus heutiger Sicht völlig falschen Objekt – wird hier eine Spiel- und Registrierkunst höchsten Niveaus dargeboten, wie sie für manche romantische Orgelliteratur unverzichtbar ist und kaum besser gelehrt werden könnte (z.B. die Handhabung organisch angelegter, bruchloser Crescendi und Decrescendi, das sensible Aufspüren und Ausgestalten des inneren Kräfteverlaufs usw.). Wo es kaum zu vermuten war, ausgerechnet in einem Buch über Bach, finden wir also hier eine authentische Quelle einer fast schon vergessenen Spielweise im Geiste des 19. Jahrhunderts: Die „Widor-Schweitzer-Tradition“, die sich selbst für absolut hielt und dazu noch sich fälschlich als direkte Erbin der „authentischen Bach-Tradition“ verstand, als deren „Testamentvollstrecker“ Widor und Schweitzer sich berufen fühlten (siehe hierzu Ewald Kooiman, „Jacques Lemmens, Charles-Marie Widor und die französische Bach-Tradition“ in „Ars Organi“, Heft 4, 1989, S. 198-206, und Heft 1, 1990, S. 3-14). Unserer um historische Aufführungspraktiken so bemühten Zeit sei dringend empfohlen, dieses einzigartige Interpretationsdokument wieder zur Kenntnis zu nehmen für die „richtige“ Darstellung der entsprechenden Orgelliteratur auf dem inzwischen wiederentdeckten dazugehörenden Orgeltypus.

Die ethische Haltung Albert Schweitzers

Vortrag für „Künstlerhort“ in Verbindung mit Städtischem Kulturamt Wiesbaden, gehalten am 4.12.1979 von Rainer Noll in der Villa Clementine Wiesbaden

Sehr geehrte Damen und Herren!

An den Anfang stelle ich Fragen: Was ist der Sinn meines Daseins und welchen Inhalt soll mein Leben haben? „Was bedeutet die Gesellschaft, in der ich lebe, und ich selber in der Welt? Was wollen wir in ihr? Was erhoffen wir von ihr?“ (K I, S. 63)

Ich glaube, keiner von uns kann sagen, von diesen Fragen völlig unberührt geblieben zu sein. Den einen bedrängen sie mehr, den anderen weniger – der eine verdrängt sie mehr, der andere weniger. Es ist spezifisch menschlich, diese Fragen zu stellen. Der Wille zum Sein verbindet sich beim Menschen unlösbar mit einem Willen zum Sinn. Das Denken der Menschheit ringt in Philosophie und Religion seit Jahrtausenden um diese Fragen. Es handelt sich um Kernfragen unserer Existenz. Von ihrer Beantwortung hängt unser Verhältnis zur Welt, unsere Weltanschauung ab. Weitab von konfessioneller Engstirnigkeit berühren diese Fragen die Religiosität des Menschen. Denjenigen, der eine Antwort auf sie gefunden hat, nennt Albert Einstein religiös. Paul Tillich sagt: „Religiös sein heißt, leidenschaftlich die Frage nach dem Sinn unserer Existenz zu stellen.“ (zitiert nach V. E. Frankl, Das Leiden am sinnlosen Leben, S. 95).  „Die ethische Haltung Albert Schweitzers“ weiterlesen