Vortrag (mit Orgelkonzert) von Rainer Noll am 2. Oktober 2011 in der Martinskirche zu Nierstein (überarbeitete Nachschrift)
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
der Name Al Imfeld wird Ihnen nichts sagen: er ist ein Journalist aus der Schweiz, geboren am 14. Januar 1935 (auf den Tag genau 60 Jahre nach Albert Schweitzer), Theologe und Afrikakenner; und großer Schweitzerverehrer. Er wurde mit Schweitzers Schriften schon in seiner Jugend durch seine Mutter vertraut gemacht. Zu Schweitzer hat er sich geäußert in einem Rundfunk-Interview (SWR 2 Forum, 13.11.2009). Gleich nach seinem Abitur wollte er nach Lambarene, um sein Idol kennen zu lernen. Er fuhr dorthin 1954, und er reiste Hals über Kopf nach drei Tagen wieder ab. Er war nach eigener Aussage „schockiert“, als er Schweitzer persönlich kennen lernte. Warum? Weil sein Idol nicht genau dem entsprach, was er erwartet hatte. So geht es sicher mit vielen „Heiligen“: sie werden umso heiliger, je weiter sie weg sind, räumlich und zeitlich – je näher man ihnen kommt, desto problematischer wird das Verhältnis (deshalb scheinen sie heute fast ausgestorben). Anlass war nicht nur, dass Schweitzer ihm die Benutzung seiner mitgebrachten Schreibmaschine verbot mit schroffen Worten: „Gehen Sie weg mit der!“, er wolle die Menschlichkeit nicht aus seinen Briefen verbannen (Schweitzer schrieb selbst alles mit der Hand, obwohl er vom Schreibkrampf geplagt war). Dies mag man zu Recht als fortschrittsfeindlich oder auch als schrullig abtun, und dennoch trifft Schweitzer damit einen Nerv (wie bei so vielem). Der eigentliche Grund für den Schock war folgender. Al Imfeld, humanistisch erzogen, verehrte in Schweitzer einen der größten Humanisten unserer Zeit. Gleich am ersten Tag erklärte ihm Albert Schweitzer: „Diese Neger hier sind noch keine Menschen, die sind erst auf dem Weg, die sind Kinder.“ Man muss allerdings Schweitzer zum richtigen Verständnis übersetzen: mit „Menschen“ meinte er natürlich Erwachsene. Dies war Schweitzers Auffassung, dass die Eingeborenen zwar seine Brüder seien, aber seine jüngeren Brüder. Hier gab es also ein Missverständnis und deshalb eine Enttäuschung. Gerade dieser Al Imfeld berichtet auch, was kaum bekannt ist (und wer hätte das gedacht?), dass Schweitzer das Apartheidssystem in Südafrika zu dem damaligen Zeitpunkt in Briefen befürwortet hat, weshalb einige ihn für einen Rassisten halten, der er beileibe nicht war (wie allerdings auch kein „lupenreiner Demokrat“). Ich will hier keine „Heiligenschändung“ betreiben, ich will auf etwas ganz anderes hinaus. Fast immer wurde von Albert Schweitzer ein Idealbild gezeichnet, sogar von ihm selbst. Wer immer es noch so wohlmeinend wagte, dieses in fruchtbare Spannung zu einem Realbild treten zu lassen (ein „Sakrileg“!), wurde und wird in gewissen, manchmal sektiererischen Schweitzer-Kreisen zur persona non grata (was ich gerade mit diesen Sätzen wieder riskiere). Ich berichte dies alles, weil kaum eine andere Person in vielerlei Hinsicht gerade deshalb so missverstanden wurde wie er. Heute haben wir die Tendenz, dass sein Name wie ein Etikett vielen Dingen einfach aufgeklebt wird. Er soll quasi als Qualitätssiegel gelten. Vordergründig zählt hier der Marketingerfolg (Quotenprinzip, Verwertbarkeit), ohne dass man sich noch um eine wahrhaftige Auseinandersetzung mit der Substanz seiner durchaus kantigen, unbequemen und manchmal widersprüchlich scheinenden Persönlichkeit bemüht, denn dies macht Mühe und erfordert Differenzierteres, als eine Schlagzeile zu lesen. Unausgesprochenes Motto: „Schweitzer, wie wir ihn brauchen“ statt „wie er war“. Dabei hat Albert Schweitzer es am wenigsten nötig, zum Legenden-Heiligen und Alles-Könner, eben zum Halbgott hochstilisiert zu werden, als den man ihn vielleicht besser „verkaufen“ kann – so, wie eine sofort eingängige, banale Melodie auch zunächst bei der Masse besser ankommt als eine charaktervolle (zunächst!). Denn er ist innerhalb seiner menschlichen Grenzen gewaltig genug, um vor jeder Wahrhaftigkeit zu bestehen. Nicht Nach- oder Anbetung, die man ihm entgegenbringt, sondern Anregung, die von ihm ausgeht, ist es, wofür ich plädiere. „„Albert Schweitzer und die Musik“ – Vortrag in Nierstein am 02. Oktober 2011“ weiterlesen