Menschlichkeit oder Albert Schweitzer kam bis Kelsterbach
Betrachtung zum Brief Albert Schweitzers von 1956 an die Stadt Kelsterbach
Am 9. Juni 1956 schrieb Albert Schweitzer einen Brief an die Stadt Kelsterbach anlässlich der Namensgebung der Albert-Schweitzer-Straße. Darin zeigt sie eine direkte Verbindung Schweitzers zu Kelsterbach und auch, dass er immerhin auf seinen Zugfahrten zwischen Frankfurt und Mainz durch Kelsterbach gekommen sein muss. Ein kleines Zeitdokument einer, wenn auch nur flüchtigen, Berührung des damals auf dem Höhepunkt seines Weltruhmes stehenden Humanisten mit Kelsterbach.
Der Brief ist nachts geschrieben, sicherlich nach einem anstrengenden Tag, der immer früh begann, egal wie spät es am Vorabend wurde. Schweitzer hatte in seinem Spital in Lambarene kein elektrisches Licht, sondern nur eine Petroleumlampe.
Bemerkenswert ist, dass er immer bemüht war, jedem so weit es nur ging persönlich zu antworten. Und zwar handschriftlich und nie mit Schreibmaschine, durch die, wie er meinte, alles Persönliche verloren ginge, das ihm so wichtig war (alles „Maschinelle“ war ihm zuwider, so auch in seinem beseelten Orgelspiel). So geht die Zahl seiner Briefe in die Zehntausende.
Nun ist eine Stadt, die eine Straße nach ihm benennen will, nicht irgendwer. Aber man nenne mir eine Stadt in Deutschland, die keine Albert-Schweitzer-Straße hat! Das Besondere ist, dass er sich selbst für so eine kleine Stadt wie Kelsterbach noch nachts hinsetzt, um persönlich ein paar Worte zu schreiben (und nicht einfach schreiben lässt, was bei seiner Belastung und seinem Alter von 81 Jahren mehr als gerechtfertigt gewesen wäre). Dabei lässt er alle formellen Äußerlichkeiten außer acht. Oft schrieb er aus Sparsamkeit auf die Innenseite aufgetrennter Briefumschläge. Kein gedruckter Briefkopf, alles mit der Hand, egal, wie „niedrig“ oder „hochgestellt“ sein Adressat war im Osten oder Westen: ob an ein Kind, eine Hausfrau oder Albert Einstein, Präsident John F. Kennedy oder Nikita Chruschtschow, alle behandelte er gleich (was ihm manchen politischen Ärger im Kalten Krieg einbrachte – selbst sein Freund, Bundespräsident Theodor Heuss, den er 1908 in Straßburg mit Elly Knapp getraut hatte, beschimpfte ihn nun als „Kaffeehauspazifisten“).
Und als im Kelsterbach-Brief das Papier unten nicht ausreichte, trennte er sogar das Wort „Gedan-ken“ und schreibt quer an der Seite weiter, um kein neues Blatt anfangen zu müssen. Diese Form (bzw. eher Formlosigkeit) entspricht überhaupt nicht unserer „political correctness“ im Umgang mit Behörden, und gar mancher Politiker hätte sie als Beleidigung empfunden, hätte nicht ein Albert Schweitzer geschrieben. Wer wollte sich nicht eines Schreibens von seiner Hand rühmen?
So bewahrte er sich auf rührende, fast naive Weise etwas Originelles, unmittelbar Menschliches ohne alles eitle Gegockel formaler Rangunterschiede, weil alle für ihn in erster Linie dies waren: einfach Menschen.
Diese versteckte Botschaft der Menschlichkeit ist vielleicht das Wichtigste, was uns auch dieser kleine Brief nach Kelsterbach konkret zeigt.
Und dies passt genau in unsere Zeit: Weltweit bringen sich Tausende von Menschen, fehlgeleitet entweder durch religiöse, nationale oder andere Ideologien oder durch bloßes Machtstreben und Gier (manchmal auch schlicht Dummheit), sich in brutalen Gemetzeln umbringen und reißen dabei Unschuldige mitreißen – im Namen von Kultur und Religion, dass es eine Schande für die Menschheit ist, die sich so fortschrittlich und aufgeklärt wähnt. Alles Menschen, um die eine Mutter weint oder Familien und Freunde, auf jeder Seite, von uns eingeteilt in Freund und Feind wie in höhere und niedere Lebewesen, in wertvolles und wertloses Leben, das wir bedenkenlos zerstören dürfen – aber was ist der Mensch? So fragte schon der Psalmist: „was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschenkind, dass du sich seiner annimmst?“ (Psalm 8, 4) – In den Nachrichten hörte ich gerade: „Selten können in Kriegen Kriegsverbrechen vermieden werden.“ Wie zynisch klingt mir das: Ist nicht der Krieg an sich ein Verbrechen? Wann erreichen wir die generelle Ächtung des Krieges als Mittel der Politik aus ethischen Gründen, weil sich darin jede Seite der größten Unmenschlichkeit schuldig macht?
Ich weiß, wie naiv es ist zu wünschen, dass alle Menschen nur etwas von der ethischen Haltung eines Albert Schweitzers hätten, und dann sähe die Welt anders aus – ein frommer Wunsch … und doch wahr!
Schon Erich Kästner schrieb in seinem Gedicht „Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag“:
„Die Menschen wurden nicht gescheit.
Am wenigsten die Christenheit,
trotz allem Händefalten.
… und alles blieb – beim alten.“
Wahr ist aber auch, dass Du, lieber Leser dieser Zeilen, die Menschen und die Welt nicht ändern kannst, aber DU kannst und musst Dich entscheiden, ob Du selbst in Deinem Bereich eine Kraft des Guten und des Friedens sein willst, oder ob Du im Großen wie im Kleinen eine menschenverachtende Haltung verstärkst, die den Tod Tausender gedankenlos hinnimmt wie umgestoßene Schachfiguren (wie fast überall in den „sachlichen“ Berichten der Medien), nur weil wir hier nicht direkt betroffen sind, und der ein Menschenleben nichts gilt und die Menschen nur Mittel für höchst zweifelhafte Zwecke sind.
Gerade läuten die Glocken der schönen Barockkirche in Wiesbaden-Nordenstadt (hundert Jahre jünger als mein Wohnhaus von 1611), auf die mein Blick vom „Erbacher Hof“ aus während des Schreibens geht – idyllisch auf den ersten Blick. Sie läuten seit Jahrhunderten zu den Gottesdiensten, zu Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen, sie läuteten Sturm in Kriegs- und Feuersnöten und läuteten danach wieder den Frieden ein, ihr Metall wurde in Kriegszeiten eingeschmolzen für Kanonenkugeln (sogar Orgelpfeifen!), und später hat man sie neu gegossen, oft mit Friedensaufschriften: die ganze Widersprüchlichkeit menschlichen Daseins läutet mir in diesem Klang entgegen…