Musicalisches Opfer

„Musicalisches Opfer“ – Vortrag zum 35. Bachkonzert am 29.7.2012

von Rainer Noll

 

Friedrich II. von Preußen (1712 – 1786)

Sonate e-moll für Traversflöte und Basso continuo

Grave – Allegro assai – Presto

Meine sehr verehrten Damen und Herren, von dieser galanten Musik wurden Sie soeben hier begrüßt, und ich begrüße hier im Gegenzug ganz herzlich die Solisten des heutigen Abends. –

Es war ein wahrhaft königlicher Gruß, denn kein Geringerer als Preußens König Friedrich II. hat diese Musik komponiert. Ich denke, man muss lange suchen, einen König zu finden, der neben seinen Regierungsgeschäften – und denen widmete er sich akribisch! – persönlich als Flötist mit seinem Orchester musizierte und darüber hinaus noch über 120 solcher Sonaten zu Papier gebracht hat, dazu noch 4 Flötenkonzerte mit Orchester. Um dies alles zu schaffen, stand er um 4 Uhr auf und ging um Mitternacht zu Bett. Welch eine Begabung! Ein wahrer Musensohn … denkt man.

Ein wenig Zeit müssen wir uns noch für ihn nehmen, denn wir feiern einen runden Geburtstag.

Hier möchte ich ein persönliches Wort einfügen zu meiner Beschäftigung mit Friedrich II.. Auf dem Dachboden unseres Hauses (eines Bauernhauses!) fand ich mehrere Bücher, die mich schon mit 11, 12 Jahren faszinierten. Darunter war das Buch von Friedrich dem Großen „Seine sämmtlichen Werke in einer Auswahl des Geistvollsten“, Stuttgart, Originalausgabe von 1835, die ich hier mitgebracht habe. Irgendjemand meiner Vorfahren hatte es durchgearbeitet und mit roter Tinte Anstreichungen gemacht. Ich habe es sogleich eingebunden, wie man damals Schulbücher einzubinden pflegte, und las begeistert darin. Und nachdem wir in der Schule das Kunstschreiben (Kaligraphie) in Frakturschrift mit Feder und Tusche erlernt hatten und gerade der Lateinunterricht begonnen hatte, schrieb ich eigenhändig auf den Einband den Titel, natürlich in Latein, weil mir das der Würde des Buches angemessen erschien: „Omnia opera Friderici Magni regis Preußeniensis“. Sie werden es kaum glauben, mein Lateinlehrer sitzt jetzt hier im Publikum, und er möge mir eventuelle Fehler in dieser frühesten Anwendung dieser Sprache verzeihen.

300 Jahre ist es her, dass Friedrich am 24. Januar 1712 in Berlin geboren wurde. 32 Neuveröffentlichungen löste dieses Jubiläum im Jahr 2012 aus. Kaum eine historische Persönlichkeit wird so kontrovers diskutiert. Es scheint, als habe er alle nur denkbaren Gegensätze in sich vereint. Er war Schöngeist und Draufgänger, feinsinnig und grob, Dichter und Feldherr, Gerechter und Rechtsbrecher, Musiker, Philosoph, vernunftgeleiteter Freigeist und launischer Misanthrop, Aufklärer und Despot nach dem Motto: „Räsoniert so viel Ihr wollt – aber gehorcht!“ Alles ganz, wie es ihm in den Kram passte. Und böse Zungen behaupten gar (allen voran Voltaire): er war Mann — und Frau.

Sein Vater, der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I., liebte außer Bier und Wein stattliche junge Männer über alles: „Gardemaß“ mussten sie haben, d.h. über 1,88 m groß sein. Er ließ sie sogar illegal in ganz Europa jagen und fangen, um sie in die Spezialgarde seiner „langen Kerls“ zu stecken. Hinter dieser militärischen Institution, die ein einziges Mal in einen kriegerischen Einsatz kam und ansonsten fast wehruntauglich war, konnte er seine heimliche Neigung verstecken. Und für sie gab dieser ansonsten notorische Geizhals Unsummen aus. Wenn ihn die Schwermut überfiel, wirkte eine Parade von ein paar hundert „Langen Kerls“ wie ein zuverlässiges Stärkungsmittel.

Es waren wohl diese verdrängten Neigungen, die er in seinem Sohn Friedrich so heftig bekämpfte. Ein anderer Sohn, Prinz Heinrich, lebte sie offen aus. Doch dem Kronprinzen Friedrich wollte er seine „effeminierten“ (d.h. französischen, verweichlichten, um nicht zu sagen verweiblichten) Vorlieben austreiben, wozu z.B. das Bücherlesen und vor allem das unnütze Flötenspielen gehörten. Friedrich hatte es heimlich erlernt (einmal musste sich sein Flötenlehrer Johann Joachim Quantz in einem Schrank vor dem tobenden Vater verstecken). Zum Musizieren hielt er sich schon vor der Thronbesteigung eine eigene Kapelle, die er mit geliehenen ausländischen Geldern bezahlte (die er später allerdings wider Erwarten der Gläubiger auf Heller und Pfennig zurückzahlte). Dem militärischen Drill seines Vaters war er dagegen ganz abgeneigt.

Doch 1740 kaum auf den Thron gekommen, marschierte er noch im Winter desselben Jahres ohne Vorwarnung und ohne Kriegserklärung mit seiner Armee in das österreichische Schlesien ein. 1740 – 45 führte er die zwei Schlesischen Kriege, und 1756 – 63 den Siebenjährigen Krieg, die Hunderttausende seiner Soldaten und Teile der Bevölkerung das Leben kosteten. Auch Sachsen war besetzt, auch Bach erinnert sich noch 1748 an die Zeit, „da wir leider! die Preußische Invasion hatten“. Mit der Mottete „Singet dem Herrn ein neues Lied“ gab er seiner Freude über den Abzug der Truppen Ende 1745 unverhohlen Ausdruck. Widerrechtlich, d.h. mit dem Recht des frech die Gunst der Stunde nutzenden Überlegenen verleibte Friedrich sich Schlesien ein und erhielt gleich nach seinen Erfolgen als Feldherr den Beinamen „der Große“ – nicht etwa für seine humanitären Reformen, wie z.B. die stufenweise Abschaffung der Folter. Später rechtfertigt er sich mit seiner Jugend, der Leidenschaft, der Ruhmsucht: „Die Genugtuung, meinen Namen in den Zeitungen und einmal in der Geschichte zu finden, hat mich verführt.“ Selten sind es Geistesgrößen, die „groß“ genannt werden, wie etwa Albertus Magnus. „Groß“ nennt die Geschichte meist militärisch Erfolgreiche, wie Alexander den Großen, der Friedrich ein Vorbild war – wie dieser kämpfte er selbst mit an vorderster Front und feuerte seine Soldaten an. Und allein ihr Erfolg wandelt Unrecht in vermeintliches, aber anerkanntes Recht. Erfolg rechtfertigt fast alles, und die Masse folgt, solange ihr ein Vorteil winkt!

Friedrich war einem anderen selbsternannten „größten Feldherrn aller Zeiten“ (deshalb hinter vorgehaltener Hand „Gröfaz“ genannt) ein Vorbild, sein Porträt hing über seinem Schreibtisch, und auch er hatte ohne Kriegserklärung ein Land überfallen – Polen -: es war – – – Adolf Hitler. Nicht auszudenken, wenn er den damit ausgelösten 2. Weltkrieg gewonnen hätte – hier waren es bereits Millionen, die ihr Leben lassen mussten – dank des enormen „Fortschritts“ der Technik der Kriegsführung, die das möglich machte! Hätte er, dieser „Gröfaz“, gewonnen, hätte man ihn dann womöglich auch … „den Großen“ genannt?

 

Doch nach dieser Ausweichung in die Weltgeschichte moduliere ich etwas gewaltsam zurück zur Musik.

An Voltaire, den er später an seinen Hof in Potsdam holte, schrieb Friedrich: „In der Musik wollen wir also beim Ausdruck der Empfindungen der Seele bleiben.“ (Friedrich der Große: „Seine sämmtlichen Werke in einer Auswahl des Geistvollsten“, Stuttgart, 1835, S. 472) Und damit beschreibt er genau die neue Zeit, die damals anbrach und der er angehörte, wie auch die Söhne Bachs: das Zeitalter der Empfindsamkeit. Man hatte die „Schwülstigkeit“ des alten, komplizierten Kontrapunktes satt, den man als „verworren“ empfand. Das „Natürliche“ wurde gegen das „Künstliche“ ausgespielt. Man suchte die Einfachheit der schönen Melodie mit Begleitung, das Galante, das Anrührende. „Edle Einfalt, stille Größe“ sind das Ideal, wie der Zeitgenosse Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768) sie den antiken Kunstwerken zuschreibt.

Überdeutlich wird dies an der Kritik von Bachs Hauptgegner Johann Adolf Scheibe (1708 – 1776): „Dieser große Mann würde die Bewunderung ganzer Nationen sein, wenn er mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzu große Kunst verdunkelte.“ (zit. nach James R. Gaines: „Das Musikalische Opfer“, Frankfurt am Main, 2008, S. 221)

Vor allem: man wollte „gefallen“, die Musik sollte „gefällig“ sein und ankommen beim Publikum. Johann Mattheson (1681 – 1764), Komponist und Musikschriftsteller in Hamburg und ein zeitgenössischer Kritiker Bachs, gibt davon beredtes Zeugnis: „Inzwischen sollten wir doch nicht unserm Sinn, sondern der Zuhörer ihrem folgen. Oft habe ich ein Ding gesetzet, das mir gar gering vorgekommen und dennoch über Vermuten zu großen Gnaden gelanget ist. Das habe ich mir hinter ein Ohr geschrieben und dergleichen mehr gemacht, ob es schon, nach der Kunst zu urteilen, wenig Ansehen hatte.“ (a.a.O., S. 260) Und Mattheson weiter zu seinen Schülern: „Mache dir nur nach allem Federkauen und saurem Fleiß keine Rechnung, dass dir die Mühe belohnt werde. Unter 2000 Zuhörern wird kaum einer sein, der die Finesse merke, er wäre denn vorher gewarnet worden.“ (a.a.O., S. 148) Was ich hier gerade tue? Ich will Sie „warnen“! Klingen Matthesons Worte nicht wieder ganz modern, fast wie das Programm der vor allem kommerzialisierten (ich wiederhole: kommerzialisierten!), floppig-poppigen Musikindustrie unserer Tage, die nach Einschaltquoten und Kasse statt nach künstlerischer Qualität gemessen wird und deren „Songs“ sich auch die Kirche wie ein trojanisches Pferd in die Kirchenmauern holt?

Für Bach war eine Gesinnung wie die eines Mattheson nur übelstes Banausentum, ja musikalische Gotteslästerung. Heute wie damals ist genau hier die Bruchstelle zur Haltung eines Bach, größer kann ein Gegensatz kaum sein. Er komponierte sozusagen bewusst am herrschenden Musikbetrieb seiner Zeit vorbei – salopp gesagt war er ein Auslaufmodell. Dies befreite ihn von jeglicher Rücksicht auf bloße äußerliche Publikumswirksamkeit.

Johann Nikolaus Forkel (1749 – 1818), Universitätsmusikdirektor in Göttingen, der noch mit den beiden Bach-Söhnen Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel in persönlichem Austausch stand, schrieb 1802 in der ersten Bach-Biographie: „(…) Beyfall der Menge suchte Bach nie. (…) Er arbeitete für sich, wie jedes wahre Kunstgenie; er erfüllte seinen eigenen Wunsch, befriedigte seinen eigenen Geschmack, wählte seine Gegenstände nach seiner eigenen Meinung, und war endlich auch mit seinem eigenen Beyfall am zufriedensten. (…). Er meynte, der Künstler könne wohl das Publicum, aber das Publicum nicht den Künstler bilden.“ (J. N. Forkel, „Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke“, Leipzig 1802, S. 124f)

Zudem war für ihn jede Musik, sofern sie gute Musik war, Lobpreis Gottes, auch die „weltliche“, die nicht für den Gottesdienst geschrieben war – also auch das „Musicalische Opfer“, in dem er uns allerdings besonders hohen Anspruch zumutet. Für Gott war ihm das Beste, das er bei allem demütigen Wissen um die eigene Unvollkommenheit hervorbringen konnte, gerade gut genug. Damit setzte er auch für seine Mitmenschen höchste und vom jeweiligen „Gebrauch“ der Musik unabhängige Maßstäbe: „Dem Höchsten Gott allein zu Ehren, / Dem Nechsten, draus sich zu belehren.“, heißt es in seinem Vorwort zum „Orgelbüchlein“. Er schuf in seiner Zeit doch nicht nur für seine Zeit, sondern immer auch zugleich sub specie aeternitatis (im Hinblick auf die Ewigkeit). Nicht eitles Perfektionsstreben bestimmte sein Bemühen um musikalische Vollkommenheit: Wie lebendigstes Wasser aus reinster Quelle, so floss Bachs höchster künstlerischer Anspruch aus tiefster Religiosität. Friedrich dagegen hatte ja bekanntlich mit Religion überhaupt nichts im Sinn.

 

Diese gerade dargelegten gegensätzlichsten musikalischen Weltanschauungen trafen an jenem denkwürdigen Abend des Jahres 1747 in Potsdam aufeinander: Bach bei Friedrich II.. Wie kam es dazu?

Hören wir wieder Forkel: „Der Ruf von der alles übertreffenden Kunst Johann Sebastians war zu dieser Zeit so verbreitet, dass auch der König sehr oft davon reden und rühmen hörte. Er wurde dadurch begierig, einen so großen Künstler selbst zu hören und kennen zu lernen.“ (a.a.O., S. 27) Mehrfach ließ er ihn laut Forkel über seinen Sohn Carl Philipp Emanuel, den Kammercembalisten des Königs, nach Potsdam bitten, bis er endlich einwilligte. Am Sonntag, dem 7. Mai, traf Bach in Begleitung seines ältesten Sohnes Wilhelm Friedemann, den er in Halle abgeholt hatte, in Berlin ein. Der König soll ihn laut Forkel sofort ins Schloss nach Potsdam beordert haben, so dass er nicht einmal die Zeit hatte, seine Reisekleidung gegen seinen schwarzen Kantorenrock zu tauschen. – Hatte er überhaupt schon etwas gegessen und getrunken? – Man bedenke: Bach war 62 Jahre alt (damals ein alter Mann, drei Jahre vor seinem Tod) und hatte eine mindestens zweitägige Kutschfahrt auf holprigen Straßen, womöglich mit schlechter, unruhiger Übernachtung, hinter sich. Forkel berichtet: „Eines Abends wurde ihm [dem König], als er eben seine Flöte zurecht machte, und seine Musiker schon versammelt waren, durch einen Offizier der geschriebene Rapport von angekommenen Fremden gebracht. Mit der Flöte in der Hand übersah er das Papier, drehte sich aber sogleich gegen die versammelten Capellisten und sagte mit einer Art von Unruhe: Meine Herren, der alte Bach ist gekommen! Die Flöte wurde hierauf weggelegt, und der alte Bach, der in der Wohnung seines Sohnes abgetreten war, sogleich auf das Schloß beordert. (…) der König gab für diesen Abend sein Flötenkonzert auf, nöthigte aber den damahls schon sogenannten alten Bach, seine in mehrern Zimmern des Schlosses herumstehende Silbermannische Fortepiano zu probiren. Die Capellisten gingen von Zimmer zu Zimmer mit, und Bach mußte überall probiren und fantasiren. Nachdem er einige Zeit probirt und fantasirt hatte, bat er sich vom König ein Fugenthema aus, um es sogleich ohne alle Vorbereitung auszuführen. Der König bewunderte die gelehrte Art, mit welcher sein Thema so aus dem Stegreif durchgeführt wurde (…).“ (a.a.O., S. 27ff)

Die damaligen Zeitungen berichteten in Berlin, Hamburg, Leipzig, Magdeburg und andernorts über diese Begegnung. Der „alte Bach“ war auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit.

 

Eure Majestät, wir bitten um das Thema:

 

Ein melancholisches Thema, das ihm Friedrich da vorspielte – es enthält alle schmerzlichen Elemente für eine Passionsmusik (für die Fachleute: saltus duriusculus = „harter Sprung“ in der fallenden verminderten Septime [Cembalo], passus duriusculus = „harter Gang“ in der abwärts schreitenden Chromatik [Cembalo] – bitte noch einmal das Thema im Zusammenhang:…).

Haben Sie das Thema erfasst und sich gemerkt? Mal ehrlich: könnten Sie es jetzt nachspielen oder singen? Nein? Verständlich, Sie sind natürlich vielleicht schon ein wenig erschöpft von meiner etwas längeren Einleitung. Aber der alte Bach war es auch von einer anstrengenden Reise, und er musste jetzt ohne alle Vorbereitung eine dreistimmige Fuge darüber improvisieren. Er nannte sie später „Ricercar“ (ich komme darauf zurück), und diese Fuge hat er für uns aufgeschrieben:

Ricercar a 3.

Lesen Sie einmal im heutigen Programmheft das Akrostichon über RICERCAR, das Bach auf Latein dem Werk voran gesetzt hat (er war ja auch mal Lateinlehrer an der Thomasschule!). Nie hat Bach eine seiner Fugen „Ricercar“ genannt, nur hier, und das hat seinen Grund. „Ricercar“ ist eine alte Bezeichnung für ein fugiertes Stück. „Ricercare“ heißt im Italienischen „suchen, erforschen“. Später schreibt er zu einem Kanon „Suchet, so werdet ihr finden“ [Querendo invenientis] (ein Wort aus der Bergpredigt). Es ist die subtile Aufforderung, nach den versteckten Künsten in seinem Werk zu suchen. Oder steckt hier gar eine geheime Botschaft für den König drin? –

Kanon und Fuge sind die strengsten Formen des der neuen Zeit verhassten Kontrapunkts, sind die Potenzierung des verabscheuten „Künstlichen“. Und ausgerechnet in diesen Formen präsentiert Bach seine Ausarbeitungen des königlichen Themas dem dieser neuen Zeit angehörenden Friedrich: ein Affront!

Jedermann wusste, dass Friedrich die deutsche Sprache verachtete, sie sei „für die Gäule“. Er schrieb und sprach Französisch. Ausgerechnet ihm verfasste Bach seine Widmung des „Musicalischen Opfers“ auf Deutsch, während er die „Brandenburgischen Konzerte“ dem Markgrafen von Brandenburg, wie bei Hofe üblich, auf Französisch dedizierte: ein weiterer Affront gegen Friedrich. Warum diese Ohrfeige? Wir werden noch sehen…

 

Einige Worte zu den Kanons, die wir gleich hören werden. Sie ranken sich eigentlich um das königliche Thema wie um einen Cantus firmus herum.

Zunächst allgemein. Das „Musicalische Opfer“ enthält insgesamt 10 Kanons. In der Zahlensymbolik der Bachzeit erinnert diese Zahl immer an die Zehn Gebote, und zwar doppelt, wenn es sich um Kanons handelt. Das Wort „Canon“ bedeutet ja selbst schon „Gesetz, Richtschnur“, und Bach gebraucht den Kanon immer symbolisch, wenn vom Gesetz oder der Nachfolge die Rede ist (eine Stimme folgt ja hier der anderen nach). Bach lebte und schuf in einem durch Maß und Zahl geordneten Kosmos. Er verweist mit diesen zehn Kanons den König auf die Zehn Gebote, und dass sie auch für ihn gelten.

Dann speziell. Dazu zitiere ich aus dem Buch „Das Musikalische Opfer“ von James R. Gaines, S. 277f: „Zwischen dem vierten und fünften Kanon finden sich zwei an den König gerichtete Epigramme. Der vierte Kanon ist ein Kanon in der Vergrößerung und der Gegenbewegung – per augmentationem, contrario motu – das heißt: die zweite Stimme spielt in der Gegenbewegung zur ersten, und dabei sind ihre Notenwerte verdoppelt. Der Sinnspruch lautet: »Wie die Noten wachsen, so wachse des Königs Glück.« [„Notulis crescentibus crescat Fortuna Regis.“] Den fünften Kanon nennt Douglas Hofstadter […] den ,endlos aufsteigenden Kanon‘ [er moduliert ganztonweise aufwärts]. (…) Wenn man ihn sechsmal gespielt hat, ist man wieder an seinem tonalen Ausgangspunkt, nur eine Oktave höher, und ohne dass unterwegs der Eindruck entstanden wäre, er hätte die Ausgangstonart verlassen. Diesen Kanon begleitet der Sinnspruch: »Mit der aufsteigenden Modulation möge der Ruhm des Königs aufsteigen.« [„Ascendenteque Modulationae ascendat Gloria Regis.“]  Wie der Musikwissenschaftler Eric Chafe als erster bemerkt hat, passen beide Sinnsprüche schlecht zu ihren jeweiligen Stücken – der vierte Kanon über das Glück des Königs ist von einer durchgängigen Melancholie geprägt, und der Zauber des fünften, angeblich vom steigenden Ruhm des Königs handelnden Kanon besteht darin, dass er gerade nicht aufzusteigen scheint.“ Gaines fasst die versteckte Botschaft so zusammen (S. 280): „Nimm dich in acht vor dem falschen Glück, Friedrich; verharre in Ehrfurcht vor einem Schicksal, das schrecklicher ist als alles, was die Welt an Schrecken aufzubieten vermag: suche den Ruhm jenseits des Ruhms, den diese verworfene Welt verleiht; und wisse, es gibt ein Gesetz, das über dem der Könige steht, das unwandelbar ist und nach dem auch du wie wir anderen allesamt gerichtet werden.“

 

Canon perpetuus super Thema Regium [ewiger Kanon über das königliche Thema]

(Violine, Flöte, Cembalo)

Canon 1. a 2 cancrizans [im Krebsgang] (Violine, Cembalo)

Canon 2. a 2 Violini in unisono [im Einklang] (2 Violinen, Viola da Gamba)

Canon 3. a 2 per Motum contrarium [in Gegenbewegung] (Flöte, 2 Violinen)

Canon 4. a 2 per Augmentationem, contrario Motu [in Vergrößerung und Gegenbewegung] (Violine, Cembalo)

Canon 5. a 2 per Tonos [modulierend] (2 Violinen, Cembalo)

Fuga canonica in Epidiapente [kanonische Fuge in der Oberquinte]

(Flöte, Violine, Viola da Gamba, Cembalo)

 

Wir sind nun wieder bei jenem denkwürdigen Maiabend in Potsdam. Im Stadtschloss übrigens, und nicht im Schloss Sanssouci, das gerade erst eine Woche zuvor eingeweiht worden und noch nicht ganz fertiggestellt war. Bach hatte mit Bravour eine dreistimmige Fuge über das königliche Thema improvisiert (wir hörten sie). Folgen wir wieder Forkels Bericht (S. 29): Der König „äußerte nun, vermuthlich um zu sehen, wie weit eine solche Kunst getrieben werden könne, den Wunsch, auch eine Fuge mit 6 obligaten Stimmen zu hören. Weil aber nicht jedes Thema zu einer solchen Vollstimmigkeit geeignet ist, so wählte sich Bach selbst eines dazu, und führte es sogleich zur größten Verwunderung aller Anwesenden auf eine eben so prachtvolle und gelehrte Art aus, wie er vorher mit dem Thema des Königs gethan hatte.“

Friedrich hatte Bach mit dem Wunsch nach einer sechsstimmigen Fuge über dieses Thema aufs Glatteis geführt, hier musste selbst ein Bach passen – eine Niederlage, wie er sie noch nie erlebt hatte (noch nie hatte er eine sechsstimmige Fuge für Cembalo auch nur geschrieben!). Douglas R. Hofstadter, Autor des Buches „Gödel, Escher, Bach“, vergleicht eine solche Leistung mit dem Spielen und Gewinnen von 64 simultanen Schachpartien.

Bach aber setzte seinen Ehrgeiz darein, das „königliche Thema“ nach allen Regeln seiner kontrapunktischen Kunst auszuarbeiten, die Friedrich eigentlich zuwider war – er hatte sie an seinem Hof sogar verboten. Sogar die sechsstimmige Fuge lieferte Bach nach, wie wir gleich hören werden. Die Widmung des Druckexemplars, das er an Friedrich schickte, trägt das Datum des 7. Juli 1747 und den Titel „Musicalisches Opfer“. Schmeichelhaft beginnt sie mit den Worten: „Allergnädigster König, Ew. Majestät weyhe hiermit in tiefster Unterthänigkeit ein Musicalisches Opfer, dessen edelster Theil von Deroselben hoher Hand selbst herrühret. Mit einem ehrfurchtsvollen Vergnügen erinnere ich mich annoch der ganz besondern Königlichen Gnade, da vor einiger Zeit, bey meiner Anwesenheit in Potsdam, Ew. Majestät selbst, ein Thema zu einer Fuge auf dem Clavier mir vorzuspielen geruheten, und zugleich allergnädigst auferlegten, solches alsobald in Deroselben höchster Gegenwart auszuführen.“  Dieses „Musicalische Opfer“ ist ein „Opfer“ im doppelten Wortsinn: Bach „weiht“ (nicht einfach „widmet“, wie man es in profanerer Sprache gesagt hatte), er weiht also dem König seine Musik und bringt sie dem areligiösen Monarchen dar wie ein religiöses Opfer, nachdem er selbst ein musikalisches Opfer dieses durchaus manchmal zynischen Königs geworden war. Dies ganze Werk ist seine subtile Revanche am König in musikalischer Form.

Das sechsstimmige Ricercar ist selbst in dieser anspruchsvollen Sammlung die schwierigste Kost, sowohl für den Spieler als auch für den Hörer. Albert Schweitzer urteilt darüber in seinem Bach-Buch (S. 368f): „Das sechsstimmige Ricercare ist das wohl satteste Fugengewebe, das je unter Bachs Hand entstanden ist. (…) Vom Standpunkt der Kompositionskunst aus betrachtet, steht dieses Werk einzig da. Die Inspiration und den poetischen Gehalt, die die Schönheit der Fugen des Wohltemperierten Klaviers ausmachen, sucht man aber vergebens darin. (…) Wir haben es mit einer Fuge zu tun, die aus jener letzten Schaffensperiode stammt, in der die kontrapunktische Technik für Bach zwar nicht Selbstzweck ist, aber doch so im Vordergrund steht, dass die rein musikalische, unmittelbare Erfindung notwendig zurücktritt.“ Zur Ehrenrettung sei nochmals Gaines zitiert (S. 272): „Aber dieses Stück erfordert jenes andere Hören, und so aufmerksam man ihm mit weit offenen oder ,weit geschlossenen‘ Augen folgt – es bietet immer wieder neue Überraschungen. Ein prägnanteres, schöner gebautes Werk von eindringlicherer Kontrapunktik ist nie geschaffen worden – auch nicht von Bach selbst.“

 

Ricercar a 6 (Cembalo)

Quaerendo Invenietis [Suchet, so werdet ihr  finden]: Canon a 2 (Cembalo)

Canon a 4 (2 Violinen, Cembalo zweistimmig)

 

Die Satzfolge der folgenden Triosonate entspricht dem viersätzigen Stil der sonata da chiesa, also der „Kirchensonate“ – und das für einen König, dem alles missfiel, was auch nur entfernt „nach der Kirche schmeckte“! Er hatte keine einzige Kirchensonate in seiner umfangreichen Musikbibliothek. Wieder ein Affront – ja, die ganze Sammlung ist trotz ihrer untertänigen Widmung ein einziger, äußerst subtiler Affront gegen Friedrich.

Dazu kommt die Tonart c-moll: sie bedeutet eine Herausforderung an technischer Schwierigkeit für den Flötisten – immer hin sollte der König ja selbst die Flöte spielen.

Eine anschauliche Deutung der Triosonate finden wir wieder bei Schweitzer, indem er sie einer Triosonate aus Bachs frühem Schaffen gegenüber stellt (S. 369): „Welch ein Unterschied zwischen beiden Werken! Das erste gehört der naiven, einzig auf den klanglichen Wohllaut bedachten Schaffensperiode an. Beim Anhören glaubt man an einem Waldbach entlang zu wandeln, über Wiesen, die der Morgentau mit Diamanten besät hat. Die letzte Schöpfung versetzt den Hörer in die Regionen des Hochgebirges, wo die Vegetation aufhört und die Kämme der hintereinander aufgebauten Bergrücken sich in scharfen Linien vom blauen Himmel abheben. Solcher Art ist die Schönheit der Trio-Sonate des Musikalischen Opfers. Sie ist tief und herb, besitzt aber nichts mehr von dem anmutigen Reize, der die Schöpfungen der Jugendzeit auszeichnet.“

Recht hat Schweitzer: wir befinden uns gerade auf einer musikalischen Hochgebirgstour.

Zumindest auf einen Satz der Sonate trifft Schweitzers Urteil jedoch nicht zu: auf das Andante. In diesem Stück mit seinen schmachtenden Seufzermotiven zeigt Bach, dass er auch „modern“ kann im neuen Stil der Empfindsamkeit – ja, er kann es sogar besser als die „Modernen“! Er kann nämlich mehr, als nur zu „amüsieren“, wie es Voltaire von allem Galanten fordert. Aber hören Sie selbst…

 

Sonata Sopr’Il Soggetto Reale a Traversa, Violino e Continuo (Violine, Flöte, Basso continuo)

Largo – Allegro – Andante – Allegro

Canon perpetuus [ewiger Kanon]  (Violine, Flöte, Basso continuo)

 

Trotz aller „ewigen Kanons“ geht hier das Programm zu Ende.

Nach allem, was uns bekannt ist, erhielt Bach vom Preußischen König keine Belohnung oder auch nur eine Entschädigung für all seine Mühen in Potsdam, wie es sonst üblich war. Wir wissen noch nicht einmal, ob Friedrich jemals eine Note aus dem „Musicalischen Opfer“ gesehen, gehört oder gespielt hat. Wenn ja, hat er vielleicht die versteckte Botschaft verstanden – intelligent genug war er ja. Das könnte ein Grund für seine Reaktion sein, nicht zu reagieren. Das Widmungsexemplar gab er jedenfalls weiter an seine jüngste Schwester, Prinzessin Amalie, die Cembalo und Orgel spielte und ebenfalls komponierte, wie auch Friedrichs Lieblingsschwester Wilhelmine, Markgräfin von Bayreuth – sie hat sogar eine Oper geschrieben. Amalie sammelte leidenschaftlich Bachsche Noten und Manuskripte – ihre Sammlung ist bedeutend für die Bach-Forschung.

Der alte Bach hat von Friedrich nie die geringste Reaktion auf sein „Musicalisches Opfer“ erhalten. Wir wollen es ihm heute hier nicht gleichtun und bedanken uns ganz herzlich bei unseren Musikern für die wunderbare Interpretation dieses einzigartigen Werkes.

Programmheft (2012)

Friedrich II. von Preußen (1712 – 1786)

Sonate e-moll für Traversflöte und Basso continuo

Grave – Allegro assai – Presto

 

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)

„Musicalisches Opfer“ BWV 1079

 

Von Bach vorangestelltes lateinisches Akrostichon:

Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta

(der auf Geheiß des Königs verfasste Gesang [= Ricercar] und das Übrige nach Kanonkunst aufgelöst)

Ricercar a 3 (Cembalo)

Canon perpetuus super Thema Regium [ewiger Kanon über das königliche Thema]

(Violine, Flöte, Cembalo)

Canon 1. a 2 cancrizans [im Krebsgang] (Violine, Cembalo)

Canon 2. a 2 Violini in unisono [im Einklang] (2 Violinen, Viola da Gamba)

Canon 3. a 2 per Motum contrarium [in Gegenbewegung] (Flöte, 2 Violinen)

Canon 4. a 2 per Augmentationem, contrario Motu [in Vergrößerung und Gegenbewegung] (Violine, Cembalo)

Canon 5. a 2 per Tonos [modulierend] (2 Violinen, Cembalo)

Fuga canonica in Epidiapente [kanonische Fuge in der Oberquinte]

(Flöte, Violine, Viola da Gamba)

Ricercar a 6 (Cembalo)

Quaerendo Invenietis [Suchet, so werdet ihr  finden]: Canon a 2 (Cembalo)

Canon a 4 (2 Violinen, Cembalo zweistimmig)

Sonata Sopr’Il Soggetto Reale a Traversa, Violino e Continuo (Violine, Flöte, Basso continuo)

Largo – Allegro – Andante – Allegro

Canon perpetuus [ewiger Kanon]  (Violine, Flöte, Basso continuo)

 

 

Solisten des „Main-Barockorchesters Frankfurt“

Moderation: Rainer Noll (40 Jahre Kantor an St. Martin)

 

 

Zum Programm:

Vor 300 Jahren wurde Friedrich II., König von Preußen, der „Große“ und später der „alte Fritz“ genannt, am 24. Januar 1712 in Berlin geboren. Er unterhielt eine Hofkapelle, spielte Querflöte und komponierte (über 120 Flötensonaten, 4 Flötenkonzerte). Johann Sebastian Bachs zweitältester Sohn Carl Philipp Emanuel Bach (1714 – 1788) wirkte hier 30 Jahre lang als Hofcembalist. Sein Vater besuchte ihn 1741 in Berlin, als Friedrich auf seinem ersten Eroberungsfeldzug in Schlesien war. Während seiner zweiten Berlinreise – sein ältester Sohn Wilhelm Friedemann Bach (1710 – 1784) begleitete ihn ab Halle – traf der alte Johann Sebastian Bach den König, den damals noch jungen Fritz, am Sonntagabend, dem 7. Mai 1747, im Stadtschloss in Potsdam – eine epochale Begegnung zweier Welten! Die damaligen Zeitungen berichteten in Berlin, Hamburg, Leipzig, Magdeburg und andernorts darüber. Der „alte Bach“ war drei Jahre vor seinem Tod auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit.

In Anwesenheit seiner sämtlichen Hofmusiker – die besten, die damals zu haben waren –  spielte Friedrich Bach auf einem seiner zahlreichen Silbermannschen Fortepianos ein Thema vor (das „Thema Regium“, das „königliche Thema“), über das er unter Bewunderung aller anwesenden Musiker eine dreistimmige Fuge improvisierte:

Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass Bach uns mit dem dreistimmigen Ricercar die Ausarbeitung seiner Improvisation überliefert hat. „Ricercar“ ist eine alte Bezeichnung für ein fugiertes Stück, die Bach sonst nie für eine Fuge gebraucht hat. Dahinter steckt eine Absicht: „ricercare“ heißt im Italienischen „suchen“. Später schreibt er zu einem Kanon „Suchet, so werdet ihr finden“. Es ist die subtile Aufforderung, nach den versteckten Künsten (oder gar einer geheimen Botschaft für den König?) in seinem Werk zu suchen.

Als Friedrich ihn danach mit dem Wunsch nach einer sechsstimmigen Fuge über dieses Thema aufs Glatteis führte, musste selbst Bach passen – eine Niederlage, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er wählte ein eigenes, geeigneteres Thema, über das er dann eine sechsstimmige Fuge improvisierte (noch nie hatte er eine sechsstimmige Fuge für Cembalo auch nur geschrieben!). Douglas R. Hofstadter, Autor des Buches „Gödel, Escher, Bach“, vergleicht eine solche Leistung mit dem Spielen und Gewinnen von 64 simultanen Schachpartien.

Bach aber setzte seinen Ehrgeiz darein, das „königliche Thema“ nach allen Regeln seiner kontrapunktischen Kunst auszuarbeiten (einschließlich der sechsstimmigen Fuge, die er somit nachlieferte).

Beginn der sechsstimmigen Fuge (Ricercar) c-moll aus dem Musikalischen Opfer (Bachs Autograph)

Die Widmung des Druckexemplars, das er an Friedrich schickte (und worauf er nie die geringste Reaktion erhielt), trägt das Datum des 7. Juli 1747 und den Titel „Musicalisches Opfer“, das er dem König „weihte“, nachdem er selbst seines geworden war (subtile „Revanche“!). Was dabei herauskam, hören wir im heutigen Konzert.

„In mancher Hinsicht offenbart dieses Werk ein musikalisches Selbstporträt, das den Komponisten mit allen Facetten seines Könnens vorstellt: als Claviergenie und Fugenmeister, Kapellmeister und Kammermusiker, Kontrapunktiker und Musikgelehrten.“ (Christoph Wolf: „Johann Sebastian Bach“, Frankfurt am Main, 2000, S. 470)

 

Friedrich II. von Preußen wurde am 24. Januar 1712 in Berlin geboren. Als Kronprinz und Thronfolger wurde er 1740 preußischer König und bemühte sich, die absolute Monarchie in eine aufgeklärte umzuwandeln. Neben seinen musischen Interessen (Musizieren als Flötist, Komponieren, Dichten, Schreiben, Philosophieren) kümmerte er sich intensiv um die Staatsgeschäfte und führte 1740 – 45 die beiden ersten Schlesischen Kriege und 1756 – 63 den Siebenjährigen Krieg mit großem Erfolg, was ihm die widerrechtliche Aneignung Schlesiens und den Beinamen „der Große“ einbrachte. Er starb einsam und verbittert am 17. August 1786 im Schloss Sanssouci bei Potsdam. Erst 1991 wurde sein letzter Wunsch erfüllt, neben seinen Hunden auf der Terrasse dieses Schlosses ein unscheinbares Grab zu finden.

 

Johann Sebastian Bach wurde am 21. März 1685 in Eisenach geboren. 1703 – 07 Organist in Arnstadt. 1707 – 08 Organist an St. Blasius in Mühlhausen. 1708 – 17 Hoforganist, Cembalist und Violinist (seit 1714 auch Hofkonzertmeister) in Weimar. 1717 – 23 Hofkapellmeister in Köthen. Ab 1723 Kantor der Thomaskirche und „Kirchenmusikdirektor“ der Stadt Leipzig, wo er am 28. Juli 1750 starb.

Im Jahre 1723 wurde Johann Sebastian Bach, seit sechs Jahren „hochfürstlicher“ Hofkapellmeister zu Köthen, zum Thomaskantor und Musikdirektor der Stadt Leipzig gewählt. Er blieb sozusagen übrig, nachdem berühmtere Musiker wie Telemann und Graupner abgesagt hatten, und so kam es denn auch zu der bekannten Äußerung des Dr. Platz, festgehalten im Protokoll der Sitzung des Leipziger Stadtrates: „Da man die besten nicht bekommen konnte, müsse man mittlere nehmen.“ Allein Bürgermeister Lange hatte den größeren Durchblick: „Wann Bach erwehlet würde, so könnte man Telemann … vergessen“. Dennoch: Niemand wurde sich im damaligen Leipzig (und ebenso andernorts) bewusst,  dass ihr Kantor, den man immer wieder von amtswegen „subalternieren“ zu müssen glaubte, unter oft verdrießlichen Umständen in stetigem, stillen Fleiß Werke von Weltrang schuf, für deren Überlieferung er selbst wenig tat. Stattdessen musste er sich noch von kleinkarierten Ratsherren, von denen nichts als ihre wichtigtuerische Bedeutungslosigkeit der Nachwelt zu berichten bleibt, vorwerfen lassen: „Nicht allein tue der Kantor nichts, sondern wolle sich auch diesfalls nicht erklären … es müsse doch einmal brechen.“ Man drohte ihm das Gehalt zu  „verkümmern“, da er „incorrigibel“ (unverbesserlich) sei. Und 1730 hieß es im Rat bei der Wahl eines neuen Rektors für die Thomasschule, man möge hier besser fahren als mit der Wahl des Kantors. Bei der schon zu Bachs Lebzeiten geschmacklos betriebenen Wahl seines Nachfolgers resümierte man im Stadtrat: „… man brauche einen Cantorem und keinen Capellmeister!“ (auf heutige Verhältnisse übertragen: einen „Gemeindemusiker“ – aber bitte ohne künstlerische Ambitionen!). Fast hundert Jahre sollte es dauern, bis Bachs Größe in breiteren Kreisen erkannt  zu werden begann.

Zu Bachs Aufgaben gehörte es u. a., für jeden sonntäglichen Hauptgottesdienst eine Kantate zu liefern und aufzuführen, die als Antwort auf das Evangelium erklang. Dieser Gottesdienst begann um 7 Uhr in der Frühe und dauerte 3-4 Stunden (je nach Jahreszeit in der stets unbeheizten Kirche!). Er stellte ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis dar und wurde regelmäßig von über 2000 (!!) Menschen besucht (und dies, obwohl um 11:30 Uhr die hauptsächlich von Handwerksburschen und Gesinde besuchte „Mittagspredigt“ und um 13:30 Uhr die „Vesper“ folgten – beide ebenfalls stark frequentiert wie die täglich stattfindenden Werktagsgottesdienste!).  Rainer Noll

 

Die Solisten:

Jörg Halubek, Cembalo

Jörg Halubek ist Universitätsprofessor für Historische Tasteninstrumente und Aufführungspraxis an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz und an der Staatlichen Hochschule für Musik Stuttgart. Er studierte Orgel, Cembalo, Dirigieren in Stuttgart, Freiburg, Basel und Tübingen. 2004 gewann Halubek den ersten Preis des Internationalen Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerbs in Leipzig. Konzerte fu?hrten nach Norwegen, Russland, Japan, Korea, Italien. Zahlreiche CD- und Radio-Produktionen. Im Frühjahr 2009 übernahm Jörg Halubek die musikalische Assistenz bei einer Koproduktion der Staatsoper Stuttgart und der Salzburger Festspiele; später übernahm er die musikalische Leitung von 11 Vorstellungen am Stuttgarter Schauspielhaus. Er ist Gründer und Künstlerischer Leiter des Stuttgarter Barockorchesters »Il Gusto Barocco«. Am Staatstheater Kassel übernahm er 2012 die musikalische Leitung der Barockoper Griselda von A. Scarlatti, 2013 folgt Antonio Vivaldis L ?Olimpiade, 2014 Händels Saul.

 

Hans-Joachim Fuss, Traversflöte

Hans-Joachim Fuss studierte Blockflöte und Traversflöte in Berlin, Frankfurt/Main, Den Haag, Utrecht, Rotterdam und London. Er konzertiert regelmäßig als Solist und Mitglied namhafter Ensembles und gibt Meisterkurse für Alte Musik  in Nord- und Südamerika, West- und Osteuropa, sowie in Japan. CD- Aufnahmen für Thorofon Records, Pan Classics, Discover International, Readers Digest u. a.

Seit 1991 leitet er die Klasse für Blockflöte und Traversflöte an der Hochschule für Musik in Stuttgart.

 

Martin Jopp, Violine

Martin Jopp begann mit dem Geigenspiel im Alter von sieben Jahren bei Susanne Hecklinger in Tübingen. Nach dem modernen Violinstudium bei Prof. Werner Keltsch in Stuttgart schloss er ein Studium der Barockvioline bei Prof. Gottfried von der Goltz in Würzburg mit dem Meisterklassendiplom ab.

Bereits während des Studiums spielte er in vielen Orchestern und Kammermusikformationen und hatte dabei zahlreiche Gelegenheiten, solistisch aufzutreten.

Heute spielt Martin Jopp im L’Orfeo Barockorchester (Michi Gaigg), im Barockorchester und der Hofkapelle Stuttgart (Frieder Bernius), als Konzertmeister im Main-Barockorchester Frankfurt und bei Barucco (Wien) sowie zahlreichen anderen Ensembles.

Kammermusikalisch wirkt er in den Ensembles Echo du Danube und La Bergamasca.

Solistische CD-Aufnahmen erschienen mit Violinkonzerten von Telemann, Molter, Hertel, und Fasch sowie Kammermusik des Barock und Frühbarock. Martin Jopp spielt auf einer Violine von Jacobus Stainer, Absam ca. 1650.

 

Konstanze Winkelmann, Violine

Die Geigerin Konstanze Winkelmann, in Celle geboren, studierte moderne Violine in Los Angeles und Stuttgart sowie Barockvioline bei Giorgio Fava in Trossingen. Neben regelmäßiger Tätigkeit in zahlreichen Originalklang-Ensembles ist sie langjähriges festes Mitglied des Main-Barockorchesters und des Kammermusikensembles La Bergamasca. Sie spielt eine Violine aus der Werkstatt von Aegidius Klotz.

 

Christian Zincke, Viola da Gamba

Christian Zincke konzertiert europaweit als Solist und Continuospieler.

Er ist Mitglied namhafter Ensembles wie La Stagione Frankfurt unter Michael Schneider, Capella Thuringia unter Bernhard Klapproth., Bell Arte Salzburg, der Hamburger Rathsmusik, dem Marais-Consort u. a.

Im  Jahr 1999 gründete er das Ensemble Echo du Danube.

Mit Echo du Danube  gastierte er bei renommierten Festivals, wie dem „Resonanzen-Festival“ Wien,  den „Feste Musicali“ Köln, dem „Carinthischen Sommer“ Österreich, dem „Krakau-Festival“ Polen und dem „Shakespeare-Festival“ Neuss und gab umjubelte Konzerte in ganz Europa, Marokko, im Libanon und Südkorea. Zahlreiche CD- und Rundfunkaufnahmen dokumentieren den außergewöhnlichen Klang und die umfassende Vitalität des Ensembles.

Christian Zincke liebt es in Bibliotheken, Dissertationen und dem Internet nach bislang unerhörter Musik zu forschen. Einige Entdeckungen aus dieser Tätigkeit gibt er in der Edition Walhall heraus. Diese mitunter langwierige, jedoch äußerst spannende Arbeit sieht er als wichtigen Aspekt des Musikerdaseins und als Quelle neuer Inspiration.

 

Moderation:

Rainer Noll, geb. 1949 in Wiesbaden. 1964 – 1968 erste Organistenstelle; zunächst Physik- und Mathematikstudium in Mainz und Hamburg, dann Musikstudium in Siena (1967 bei Fernando Germani, Organist am Petersdom in Rom), Hamburg (u. a. bei Jürgen Jürgens) und Frankfurt am Main (Staatsexamen für Kirchenmusiker, u. a. bei Helmuth Rilling – Meisterkurse u. a. bei Daniel Roth, Organist an St. Sulpice, Paris); seit 1972 hauptamtlicher Kantor an St. Martin in Kelsterbach; 1979 – 1993 Gründung und Leitung der „Kantorei St. Martin“. 1981/82 künstlerischer Leiter der „Airport Chapel Concerts“ des Rhein-Main Flughafens Frankfurt. Seit dem 10. Lebensjahr intensive Beschäftigung mit Albert Schweitzer; 1973, inspiriert vom Orgelideal Schweitzers, Entwurf der neuen Orgel der Evangelischen Kirche in Wiesbaden-Bierstadt und Begründung der dortige Konzerttradition. Seit 1995 projektweise Leiter der „Idsteiner Vokalisten“, die er bereits zu vielbeachteten Höhepunkten führte. Konzerte, Schallplatten- und Rundfunkaufnahmen, Vorträge und Veröffentlichungen (u. a. über Ethik und Musikauffassung Albert Schweitzers) im In- und Ausland (Europa, USA, Japan). 1982 – 1989 Katalogisierung des nachgelassenen Notenbestandes in Schweitzers Haus in Günsbach/Elsass, 1991 und 1992 die gleiche Arbeit an den von Schweitzer eingespielten Schallplatten. Er nimmt durch das jährlich seit 35 Jahren unter seiner Leitung stattfindende „Bach-Konzert“, der „Musikalischen Meditation zur Todesstunde Jesu“ am Karfreitag sowie der vor 30 Jahren von ihm begründeten „Abendmusik zum Weihnachtsmarkt“ einen bedeutenden Platz im Kulturleben der Stadt Kelsterbach und der ganzen Region ein.

Daneben erfreuen sich die 1990 begründeten „Torhauskonzerte“ sowie die jährlichen musikalischen Weinproben im Erbacher Hof, Nolls Wohnsitz in Wiesbaden-Nordenstadt, großer Beliebtheit (siehe auch www.erbacher-hof.de, in diesem Jahr müssen beide ausfallen).

Bachkonzert am 29. Juli 2012

Dank der finanziellen Unterstützung der Stadt Kelsterbach, die in diesem Jahr 60 Jahre Stadtrechte feiert, ist auch in diesem Jubiläumsjahr wieder ein großes Bachkonzert möglich. Es ist das nunmehr 35. Konzert zu Johann Sebastian Bachs Todestag († 28.7.1750) und findet am Sonntag, dem 29. Juli 2012, um 20 Uhr in St. Martin Kelsterbach statt (seit seiner Begründung durch Rainer Noll im Jahre 1977 unter seiner Leitung).

Vor 300 Jahren wurde Friedrich II., der „Große“ und später der „alte Fritz“ genannt, geboren. Der alte Johann Sebastian Bach traf ihn, den damals noch jungen Fritz, am Sonntagabend, dem 7. Mai 1747, im Stadtschloss in Potsdam – eine epochale Begegnung zweier Welten! Die damaligen Zeitungen berichteten darüber. Friedrich, der selbst musizierte und komponierte, gab Bach ein Thema, über das er zur Bewunderung aller anwesenden Musiker improvisierte. Als Friedrich ihn danach mit dem Wunsch nach einer sechsstimmigen Fuge über dieses Thema aufs Glatteis führte, musste selbst Bach passen – eine Niederlage, wie er sie noch nie erlebt hatte. Bach aber setzte seinen Ehrgeiz darein, das „königliche Thema“ nach allen Regeln seiner kontrapunktischen Kunst auszuarbeiten (einschließlich der sechsstimmigen Fuge, die er somit nachlieferte), was er in nur ca. zwei Wochen nach seiner Rückkehr nach Leipzig fertig brachte. Die Widmung des Druckexemplars, das er an Friedrich schickte (und worauf er nie die geringste Reaktion erhielt), trägt das Datum des 7. Juli 1747 und den Titel „Musicalisches Opfer“, das er darbrachte, nachdem er selbst eines geworden war (seine „Revanche“!). Was dabei herauskam, können Sie am Sonntag, dem 29. Juli, um 20 Uhr in St. Martin in Kelsterbach beim 35. Bachkonzert in hochkarätiger Besetzung hören.

Rainer Noll wird das Konzert moderieren und die Musik in die damalige Handlung und Hintergründe hineinstellen. Er wirkt dann fast auf den Tag genau seit 40 Jahren als Kantor an St. Martin (seit 1. August 1972).

 

Wieder konnten hervorragende Musiker gewonnen werden:

Solisten des Main-Barockorchesters Frankfurt:

Martin Jopp, Violine

Konstanze Winkelmann, Violine

Hans-Joachim Fuss, Traversflöte

Christian Zincke, Gambe

Jörg Halubek, Cembalo

 

Moderation: Rainer Noll

 

Eintritt: 10  € im Vorverkauf,  12  € an der Abendkasse

 

Vorverkaufsstellen:   

Kelsterbach:

  • Schreibwaren Hardt, Marktstraße 3
  •  A. Eckes, Café Maria, Mönchbruchstraße 45

Wiesbaden:

  • Musikalien Petroll, Marktplatz 5

Grandioses letztes Bach-Konzert Kantor Rainer Nolls

Erschienen in Kelsterbach Aktuell 9.8.2013

An Johann Sebastian Bachs 263. Todestag (28. Juli 2013) fand das letzte offizielle Bach-Konzert, das 36. seit der Gründung dieser Reihe 1977 durch Rainer Noll, in St. Martin in Kelsterbach unter Leitung seines Gründers statt. Bereits die Programmauswahl, die hochkarätige Besetzung und nicht zuletzt die grandiose Interpretation war eine Meisterleistung des scheidenden Kantors.

Die Mitte des wie ein Barockschloss symmetrisch aufgebauten Programms bildete als intimer Höhepunkt die Kantate „Ich bin vergnügt mit meinem Glücke“ BWV 84, ausgereift interpretiert von der renommierten Heidelberger Sopranistin Eva Lebherz-Valentin, seit 18 Jahren treue musikalische Wegbegleiterin Rainer Nolls, präzise und ausdrucksstark begleitet vom herausragenden Main-Barockorchester Frankfurt auf historischen Instrumenten. Besser konnte die Wahl des textlichen Themas nicht sein: die „neidlose Zufriedenheit und Bescheidung mit dem von Gott im Leben Zugeteilten“, wie es in Nolls wieder tiefgründigen Programmerläuterungen hieß. Damit ist auch ein wesentlicher Charakterzug des Kantors genannt, der über 41 Jahre sein hohes musikalisches Niveau gegen alle oft widrigen Umstände der äußerlich kleinen Kirchenmusikerstelle an St. Martin durchhielt, wie gerade dieses Konzert wieder bewies. Seine Konzerte hätten an allen Spielorten und in allen großen Städten bestehen können, er hob den Rang dieser Stelle damit weit über ihre örtliche Bedeutung hinaus, sein Name ist durch seine Auftritte und Publikationen im In- und Ausland ein Begriff – und dennoch blieb ihm die gebührende Anerkennung der „großen“ Musikwelt bisher versagt, während er selbst andere immer neidlos anerkannte und förderte, wo nur möglich, und treu sein Können auch in einfachste Dienste wie selbstverständlich einbrachte.

Als glanzvoller, an Klangpracht kaum zu überbietender äußerer Rahmen fungierten die beiden großen D-dur-Ouvertüren BWV 1068 (darin das „Air“, das berühmteste Stück des Abends) und 1069. Organische Übergänge und u. a. endlich einmal als „Sprungtanz“ zu erkennende Gavotten! Alle der zahlreich im Publikum anwesenden, aus ganz Deutschland und Holland angereisten Musiker äußerten sich restlos begeistert, so auch die katholische Bezirkskantorin Konstanze Henrichs:„Trotz zeitweilig intendierter feierlich-pompöser Wucht an entsprechenden Stellen war das Klangbild stets transparent, die Motive ,sprechend‘ herausgearbeitet und dennoch hatte jedes Stück auch die nötige Lebendigkeit, Leichtigkeit – da, wo es angebracht war… Am anrührendsten war für mich das – leider sonst so abgedroschene und ausgeleierte – ,Air‘! So habe ich dieses herrliche Stück tatsächlich noch nie gehört! Vielmehr habe ich es gänzlich ,neu‘ erlebt… Das muss ich hier mal ganz ehrlich heraus stellen! Diese Darstellung anzuhören war intensivste MEDITATION !“

Hatte Rainer Noll in diesen Werken als Dirigent von höchster Intensität gewirkt, so brillierte er im wahrsten Wortsinn in den äußerst virtuosen, aber subtil artikulatorisch gestalteten, auf Mischung mit dem Orchester bedachten Orgelsolopartien der beiden Sinfonien in D-dur BWV 169,1 und 29,1, die den inneren Rahmen um die Kantate bildeten. In der ersten gefiel besonders der Klang der Oboen d’amore (Markus Müller, Tereza Pavelkova), während in der zweiten der weltberühmte Barocktrompeter Friedemann Immer und sein Trompetenensemble sowie der Pauker Martin Homann wie schon in den Ouvertüren Glanzlichter setzten. Ebenfalls zu erwähnen der hinreißend spielende Konzertmeister Martin Jopp!

Straffe, aber nicht gehetzte Tempi verliehen dem Ganzen Schwung und Brillanz. Alles zusammen eine Glanzleistung bei hochsommerlichen Temperaturen!

Das dankbare Publikum erhob sich und spendete langen Beifall, den Bürgermeister Manfred Ockel und Stadtrat Ernst Freese noch mit Schlussworten bekräftigten, in denen Noll auch der Zugang zu „seiner“ geliebten Orgel über sein Ausscheiden hinaus nach dann insgesamt fast 46 Dienstjahren Ende April 2014 zugesichert wurde. Eine große musikalische Ära, die mehr außerhalb als in Kelsterbach geschätzt wurde, neigt sich dem Ende zu und erfuhr einen vorläufigen Abschluss, wie er würdiger nicht sein konnte.

Prof. Martin Nitz

Programmheft 2013

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)

Ouvertüre D-dur BWV 1069

für Trompeten, Pauken, Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo

Ouverture – Bourrée I und II – Gavotte – Menuet I und II — Réjouissance

 

Sinfonia D-dur BWV 169,1

für Orgel, Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo

„Ich bin vergnügt mit meinem Glücke“ BWV 84

Kantate für Sopran, Solo-Oboe, Solo-Violine, Fagott, Streicher und Basso continuo

Sinfonia D-dur BWV 29,1

für Orgel, Trompeten, Pauken, Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo

Ouvertüre D-dur BWV 1068

für Trompeten, Pauken, Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo

Ouvertüre – Air – Gavotte I und II – Bourrée – Gigue

Die Ausführenden:

Eva Lebherz-Valentin – Sopran

 

Main-Barockorchester Frankfurt:

Friedemann Immer, Sebastian Schärr, Karina Haas – Trompeten

Martin Homann – Pauken

 

Markus Müller, Tereza Pavelkova, Anna-Maria Schmidt – Oboen
Nora Hansen – Fagott

Martin Jopp – 1. Violine/Konzertmeister

Adam Lord – 2. Violine

Hongxia Cui – Viola

Christoph Harer – Violoncello

Rüdiger Kurz – Kontrabass

Henrike Seitz – Continuo (Cembalo/Orgel)

 

Leitung und Solo-Orgel: Rainer Noll

Zum Programm:

Von Bach sind vier Ouvertüren (Suiten) für Orchester überliefert. Ob er weitere komponiert hat, bleibt Spekulation. Es handelt sich eigentlich um Orchestersuiten, also eine Folge von stilisierten Tanzsätzen. Als Einleitung ist diesen eine ausladende Ouvertüre nach französischem Vorbild in feierlich-punktiertem Rhythmus und mit fugiertem Mittelteil vorangestellt, die schließlich als pars pro toto dem Ganzen seinen Namen gab. Mit der Form dieser Folge von Tanzsätzen bewegt Bach sich ganz in traditionellen Bahnen, während er mit seinen Solo-Konzerten zum Wegbereiter dieser neuen Gattung wurde.

Wann genau diese Suiten (Ouvertüren) entstanden sind – ob schon in Bachs Jahren als Hofkapellmeister zu Köthen (1717 – 1723) oder danach in Leipzig – muss offen bleiben. Sie sind uns bei sehr geringem autographen Anteil nur in späteren Abschriften, und auch da nicht als Partitur, sondern nur als Einzelstimmenmaterial, überliefert.

Die Quellenlage der Suite D-dur BWV 1069 ist so spärlich, dass man sie erst für echt hielt, als man die Weihnachtskantate „Unser Mund sei voll Lachens“ BWV 110 entdeckte, deren Einleitungssatz eine Umarbeitung der Ouvertüre ist (Hinzufügung von Trompeten und Pauken, Choreinbau in den fugierten Mittelteil). Diese Kantate wurde am 1. Weihnachtstag des Jahres 1725 aufgeführt. So wagte der Verlag Peters diese Suite erst 1881 zu drucken, nachdem die drei ersten schon 1853 erschienen waren.

Von der Suite D-dur BWV 1068, die unser Konzert beschließt, existiert ein Stimmensatz von 1730/31. Auch hier ist offensichtlich, dass Bach die Trompeten und Pauken erst später wie eine zweite Schicht über eine Erstfassung gelegt hat, wohl nach dem gelungenen Experiment mit BWV 1069.

Wozu Bach diese Festmusiken brauchte, ist ungewiss. Sicher dürfte lediglich sein, dass er sie wieder aufführte, als er 1729 für über zehn Jahre das studentische Collegium Musicum übernahm, das 1701 von Georg Philipp Telemann gegründet worden war. Man nannte es von da an das „Bachische“ Collegium.

1736 vermerkt Mizlers „Musikalische Bibliothek“ dazu: „Die Glieder, so diese Musikalischen Concerten ausmachen, bestehen mehrerentheils aus den allhier Herrn Studirenden, und sind immer gute Musici unter ihnen, so daß öffters, wie bekandt, nach der Zeit berühmte Virtuosen aus ihnen erwachsen.“ Da es überdies „jedem Musico vergönnet [war], sich in diesen Musikalischen Concerten öffentlich hören zu lassen“, hatte Bach den zusätzlichen Reiz, mit reisenden Virtuosen von internationalem Format zusammenzuarbeiten. Lobend wird auch das Publikum erwähnt: „…und sind auch mehrerentheils solche Zuhörer vorhanden, die den Werth eines geschickten Musici zu beurtheilen wissen.“ Hier liegt der Keim für ein in Deutschland sich entwickelndes öffentliches Konzertleben.

Musiziert wurde im Zimmermannschen Kaffeehaus, auf dem Programm standen weltliche Vokal- und Instrumentalwerke aller Art. Im Sommer fanden die Konzerte im Wirtsgarten statt, jeden Mittwoch um 16 Uhr. Im Winter spielte man im Kaffeehaus, regulär freitags von 20 bis 22 Uhr, zu Messezeiten sogar zweimal wöchentlich, dienstags und freitags. Insgesamt zeichnete Bach hier für mehr als fünfhundert zweistündige Programme verantwortlich. „Zur Bürde des Kantorats standen diese Nebenbeschäftigungen im reziprok proportionalen Verhältnis: je weniger Interesse Bach an der Weiterentwicklung der Kirchenmusik und ihres Repertoires hatte, desto mehr schienen ihn die weltlichen Verpflichtungen anzuziehen.“ (Karl Böhmer, Programmheft der Wiesbadener Bachwochen 1995, S. 32)

Es war Mendelssohn, der die vier Ouvertüren 1838 im Leipziger Gewandhaus erstmals seit Bachs Tod aufführte (1829 hatte er erstmals wieder die Matthäuspassion in Berlin dirigiert, als Zwanzigjähriger!). Als Einundzwanzigjähriger spielte er dem über achtzigjährigen Goethe im Mai 1830 aus der D-dur-Ouvertüre BWV 1068 auf dem Klavier vor. Goethe bemerkte dazu, „es gehe darin so pompös und vornehm zu, dass man ordentlich die Reihe geputzter Leute, die von einer großen Treppe heruntersteigen, vor sich sehe“ (Brief Mendelssohns vom 22.6.1830 an Zelter).

Albert Schweitzer schreibt zu den Ouvertüren: „In den Tanzweisen dieser Suiten ist ein Stück einer versunkenen Welt von Grazie und Eleganz in unsere Zeit hinübergerettet. (…). Der Reiz dieser Stücke beruht in der Vollendung, mit der Kraft und Anmut sich in ihnen durchdringen.“ („J. S. Bach“, Wiesbaden 1960, S. 354)

Zu den Orgelsinfonien Bachs schreibt Wolfgang Auler im Vorwort seiner Schott-Ausgabe (ED 3819): „Im Gegensatz zu den Orgelkonzerten Georg Friedrich Händels sind Bachs Werke der gleichen Gattung bisher wenig beachtet worden. Daran trägt ihre Zerstreutheit im Kantatenwerk des Meisters wohl in erster Linie die Schuld.“

Die Sinfonia D-dur BWV 169,1 diente Bach als Einleitung der Kantate „Gott soll allein mein Herze haben“, die er am 20. Oktober 1726 (18. Sonntag nach Trinitatis) im Gottesdienst aufführte. Sie geht zurück auf ein verlorenes, wohl schon in Köthen entstandenes Konzert für Flöte oder Oboe, das um 1739 auch Grundlage des 1. Satzes seines Cembalokonzertes in E-dur BWV 1053 wurde. Für die Kantatenaufführung komponierte Bach die drei Oboenstimmen neu hinzu.

Die Sinfonia D-dur BWV 29,1 leitete die erstmalig am Montag, dem 27. August 1731, in der Leipziger Nikolaikirche zur Ratswahl aufgeführte Kantate „Wir danken dir, Gott“ ein. Urfassung ist das Präludium der Partita III in E-dur für Violine solo BWV 1006. Hans Grischkat schreibt im Vorwort der Carus-Partitur (CV 31.029/01): „Es gehört zu den interessantesten und lehrreichsten Einblicken in Bachs Werkstatt, den mannigfachen Änderungen dieser Umarbeitung nachzugehen. Der Part der rechten Hand in der Orgelstimme der Sinfonia entspricht, von E-dur nach D-dur transponiert, der Violinstimme aus der Partita. Beide Stücke umfassen 138 Takte. Den Orchesterpart hat Bach für die Kantaten-Sinfonia neu hinzukomponiert. Es hat von jeher höchste Verwunderung erregt, wie er spezifische Geigeneffekte der Violinpartita – insbesondere die sogenannte Bariolage-Strichart mit den Orgelpunkten über den leeren Saiten – sinnvoll für das Tasteninstrument abänderte. So schuf er aus einem Geigenstück seinen größten und wichtigsten Satz für konzertierende Orgel mit Orchester; denn nirgendwo sonst hat Bach der Orgel eine derartige Rolle dem Orchester gegenüber gegeben. Da die Orgel allgegenwärtig ist, keinen Takt pausiert und zudem thematisch gegenüber dem nur begleitenden Orchester immer wieder dominiert, übertrifft diese Sinfonia der Ratswahlkantate in dieser Beziehung auch noch die allenfalls mit ihr vergleichbare Einleitungs-Sinfonia aus Kantate Nr. 146 „Wir müssen durch viel Trübsal in des Reich Gottes eingehen“. Und dabei ist dieses für Bach’sche Verhältnisse größt besetzte Orchesterstück als Umarbeitung eines Satzes für Violine solo entstanden!“

Noch zweimal nach der Uraufführung ist eine Aufführung dieser Kantate zur Ratswahl in St. Nikolai nachgewiesen: am 31. August 1739 und am 24. August 1749 (weniger als ein Jahr vor Bachs Tod). Diese letzte Aufführung ist die nachweislich letzte Kantatenaufführung zu Bachs Lebzeit. Der bereits schwerkranke 64jährige Bach spielte vermutlich den Orgelsolopart selbst, um zu demonstrieren, dass mit ihm noch zu rechnen sei. Man hatte ihn schon abgeschrieben und suchte bereits vor seinem Tod einen Nachfolger.

BWV 84 Ich bin vergnügt mit meinem Glücke
1. Aria
Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo
Ich bin vergnügt mit meinem Glücke,
Das mir der liebe Gott beschert.
Soll ich nicht reiche Fülle haben,
So dank ich ihm vor kleine Gaben
Und bin auch nicht derselben wert.
2. Recitativo
Continuo
Gott ist mir ja nichts schuldig,
Und wenn er mir was gibt,
So zeigt er mir, dass er mich liebt;
Ich kann mir nichts bei ihm verdienen,
Denn was ich tu, ist meine Pflicht.
Ja! wenn mein Tun gleich noch so gut geschienen,
So hab ich doch nichts Rechtes ausgericht‘.
Doch ist der Mensch so ungeduldig,
Dass er sich oft betrübt,
Wenn ihm der liebe Gott nicht überflüssig gibt.
Hat er uns nicht so lange Zeit
Umsonst ernähret und gekleidt
Und will uns einsten seliglich
In seine Herrlichkeit erhöhn?
Es ist genug vor mich,
Dass ich nicht hungrig darf zu Bette gehn.
3. Aria
Oboe, Violino, Continuo
Ich esse mit Freuden mein weniges Brot
Und gönne dem Nächsten von Herzen das Seine.
Ein ruhig Gewissen, ein fröhlicher Geist,
Ein dankbares Herze, das lobet und preist,
Vermehret den Segen, verzuckert die Not.
4. Recitativo
Violino I/II, Viola, Continuo
Im Schweiße meines Angesichts
Will ich indes mein Brot genießen,
Und wenn mein Lebenslauf,
Mein Lebensabend wird beschließen,
So teilt mir Gott den Groschen aus,
Da steht der Himmel drauf.
O! wenn ich diese Gabe
Zu meinem Gnadenlohne habe,
So brauch ich weiter nichts.
5. Choral
 
Ich leb indes in dir vergnüget
Und sterb ohn alle Kümmernis,
Mir genüget, wie es mein Gott füget,
Ich glaub und bin es ganz gewiss:
Durch deine Gnad und Christi Blut
Machst du’s mit meinem Ende gut.

Bach schrieb diese Kantate für den Sonntag Septuagesimae, den dritten Sonntag vor Aschermittwoch, und führte sie erstmals am 9. Februar des Jahres 1727 auf. Vor der Aufführung im Gottesdienst wurde das zu diesem Sonntag gehörige Evangelium gelesen: das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matth. 20,1-16). Darauf nimmt der Text Bezug („so teilt mir Gott den Groschen aus…“), erweitert aber die Deutung zu einer neidlosen Zufriedenheit und Bescheidung mit dem von Gott im Leben Zugeteilten. Der Textdichter ist unbekannt, der Schlusschoral bringt die 12. Strophe des Liedes „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende“ von Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt (1686), gesungen auf die Melodie „Wer nur den lieben Gott lässt walten“.

Dazu Klaus Hofmann im Covertext der Einspielung unter Leitung von Masaaki Suzuki: „Die Gedanken, die der Dichter dazu ausführt, sind ganz im Sinne der frühen Aufklärung auf moralische Bildung und praktischen Nutzen gerichtet. (…) Wie die Gedankenwelt, so ist auch die Sprache nicht eigentlich die Bachs, sondern die der nächstjüngeren Generation: Es fehlt das rhetorische Pathos der Barockdichtung, die Drastik und Künstlichkeit der Bilder; die Sprache ist schlicht und prägnant und nicht bildlich, sondern rational.

(…) Die erste Arie ist ein weiträumiges dreiteiliges Stück mit einem leicht variierten Dacapo. Neben dem Solosopran spielt die Oboe die zweite Hauptrolle, und beide wetteifern im Vortrag weit aus greifender, rhythmisch beschwingter Kantilenen und reich verzierten, oft synkopischen Figurenwerks.

Die tänzerische zweite Arie ist das musikalische Genrebild einer ländlichen Idylle mit einer rustikalen Musikszene, eine Huldigung an die aufklärerische Utopie vom einfachen, glücklichen Leben auf dem Lande: Die auffällige Quasi-Einstimmigkeit von Oboe und Violine im Ritornell, bei der das Streichinstrument improvisatorisch die Oboenmelodie umspielt, ist folkloristisches Kolorit, kunstvolle Einfachheit. Die Oboe vertritt die Schalmei, die Geige spielt in ihren Begleitfiguren immer wieder die leeren Saiten an, zu Beginn das d‘, später auch das g und das a‘, und deutet damit durchklingende Borduntöne nach Art eines Dudelsacks oder einer Drehleier an. In der Singstimme unterstreichen die hübschen Sextsprünge aufwärts den volkstümlichen Charakter und vermitteln zugleich den Eindruck heiterer Gelassenheit.“

 

Johann Sebastian Bach wurde am 21. März 1685 in Eisenach geboren. 1703 – 07 Organist in Arnstadt. 1707 – 08 Organist an St. Blasius in Mühlhausen. 1708 – 17 Hoforganist, Cembalist und Violinist (seit 1714 auch Hofkonzertmeister) in Weimar. 1717 – 23 Hofkapellmeister in Köthen. Ab 1723 Kantor der Thomaskirche und „Kirchenmusikdirektor“ der Stadt Leipzig, wo er am 28. Juli 1750 starb.

Im Jahre 1723 wurde Johann Sebastian Bach, seit sechs Jahren „hochfürstlicher“ Hofkapellmeister zu Köthen, zum Thomaskantor und Musikdirektor der Stadt Leipzig gewählt. Er blieb sozusagen übrig, nachdem berühmtere Musiker wie Telemann und Graupner abgesagt hatten, und so kam es denn auch zu der bekannten Äußerung des Dr. Platz, festgehalten im Protokoll der Sitzung des Leipziger Stadtrates: „Da man die besten nicht bekommen konnte, müsse man mittlere nehmen.“ Allein Bürgermeister Lange hatte den größeren Durchblick: „Wann Bach erwehlet würde, so könnte man Telemann … vergessen“. Dennoch: Niemand wurde sich im damaligen Leipzig (und ebenso andernorts) bewusst,  dass ihr Kantor, den man immer wieder von amtswegen „subalternieren“ zu müssen glaubte, unter oft verdrießlichen Umständen in stetigem, stillen Fleiß Werke von Weltrang schuf, für deren Überlieferung er selbst wenig tat. Stattdessen musste er sich noch von kleinkarierten Ratsherren, von denen nichts als ihre wichtigtuerische Bedeutungslosigkeit der Nachwelt zu berichten bleibt, vorwerfen lassen: „Nicht allein tue der Kantor nichts, sondern wolle sich auch diesfalls nicht erklären … es müsse doch einmal brechen.“ Man drohte ihm das Gehalt zu  „verkümmern“, da er „incorrigibel“ (unverbesserlich) sei. Und 1730 hieß es im Rat bei der Wahl eines neuen Rektors für die Thomasschule, man möge hier besser fahren als mit der Wahl des Kantors. Bei der schon zu Bachs Lebzeiten geschmacklos betriebenen Wahl seines Nachfolgers resümierte man im Stadtrat: „… man brauche einen Cantorem und keinen Capellmeister!“ (auf heutige Verhältnisse übertragen: einen „Gemeindemusiker“ – aber bitte ohne künstlerische Ambitionen!). Fast hundert Jahre sollte es dauern, bis Bachs Größe in breiteren Kreisen erkannt zu werden begann.

Zu Bachs Aufgaben gehörte es u. a., für jeden sonntäglichen Hauptgottesdienst eine Kantate zu liefern und aufzuführen, die als Antwort auf das Evangelium erklang. Dieser Gottesdienst begann um 7 Uhr in der Frühe und dauerte 3-4 Stunden (je nach Jahreszeit in der stets unbeheizten Kirche!). Er stellte ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis dar und wurde regelmäßig von über 2000 (!!) Menschen besucht (und dies, obwohl um 11:30 Uhr die hauptsächlich von Handwerksburschen und Gesinde besuchte „Mittagspredigt“ und um 13:30 Uhr die „Vesper“ folgten – beide ebenfalls stark frequentiert wie die täglich stattfindenden Werktagsgottesdienste!).

 

Die Solisten:

Eva Lebherz-Valentin, Sopran

Musikstudium an der Musikhochschule in Frankfurt am Main, absolviert in den Fächern Klavier und Oboe. Anschließend Gesangsausbildung bei Michael Valentin. Seit 1988 in Heidelberg, wo sie von ihrer Konzerttätigkeit im In- und Ausland lebt. Neben dem allgemein bekannten Repertoire (von Bachs Passionen bis Haydns „Schöpfung“ und Verdis „Requiem“) befasst sie sich ausgiebig mit der Musik des 16. und 17. Jahrhunderts sowie der Zeitgenössischen Musik. Zahlreiche CD-Produktionen mit außergewöhnlichen Programmen aus Mittelalter, Renaissance, Klassik und Moderne sowie Live-Konzertmitschnitte, auch von Hörfunk und Fernsehen, zeugen von ihrem untrügerischen musikalischen Stilgefühl.
Friedemann Immer, Trompete I,

ist Hochschullehrer in Köln und in Amsterdam.

Er hat sich in den siebziger Jahren neben der modernen Trompete auf das Spiel der Barocktrompete spezialisiert und konzertiert mit mehreren Orchestern weltweit. Dazu gehören unter anderen das Freiburger Barockorchester, der Concentus Musicus Wien, die Akademie für Alte Musik Berlin, la Stagione Frankfurt, die Academy of Ancient Music, Boston Baroque, Aston Magna Boston. Dabei arbeitete er mit Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt, Frans Brüggen, Thomas Hengelbrock, Ton Koopman, Philippe Herreweghe, Markus Creed, Martin Pearlman, Ivor Bolton und Helmuth Rilling zusammen. Aus dieser Zusammenarbeit entstanden weit mehr als 80 Tonaufnahmen sowie zahlreiche Rundfunk- und Fernsehproduktionen.

Friedemann Immer leitet das von ihm im Jahre 1988 gegründete „Trompeten-Consort Friedemann Immer“, welches sich auf die Ensemblemusik für Trompeten, Orgel und Barockpauken spezialisiert hat. Zusammen mit den anderen Mitgliedern dieses Ensembles veröffentlichte er unter dem Namen „Edition Immer“ Musik für Trompeten und andere Instrumente aus allen Epochen.

 

Markus Müller, Oboe

Aus einer musikalischen Familie stammend, begann Markus Müller im Alter von 11 Jahren Oboe zu spielen. 1994 entdeckte er seine Liebe zur Barockoboe. An der Hochschule für Musik in Bremen studierte er das Spiel der historischen Oboen und lebt seitdem bei Leipzig. Seine besondere Leidenschaft gilt dem Kantaten- und Oratorienwerk Johann Sebastian Bachs sowie der Kammermusik. In etlichen renommierten Barockorchestern spielt er regelmäßig die erste Oboe. Konzertreisen führten ihn bisher durch ganz Deutschland und nahezu alle europäischen Länder. Rundfunk- und CD-Produktionen runden sein musikalisches Schaffen ab.

 

Martin Jopp, Violine I und Konzertmeister,

erhielt seinen ersten Violinunterricht bei Susanne Hecklinger in Tübingen. 1991 bis 1997 studierte er Violine an der Staatlichen Hochschule für Musik in Stuttgart. Ab 1992 Beschäftigung mit der Barockvioline, Kurse bei Ingrit Seifert, Michi Gaigg und Reinhard Goebel. Seit 1998 Studium der Barockvioline als Meisterschüler in der Solistenklasse bei Prof. Gottfried von der Goltz an der Musikhochschule Würzburg. Seit 1992 ist Martin Jopp Konzertmeister von „ensemble 1800“, mit welchem er unter anderem Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ und Beethovens Violinkonzert aufführte, seit 1996 Konzertmeister der Freien Kammersinfonie Baden-Württemberg und erster Geiger des Barockensembles „La Bergamasca“. Seit 1999 ist Martin Jopp Mitglied im Main-Barockorchester Frankfurt, in welchem er neben seiner Funktion als Konzertmeister auch regelmäßig als Solist auftritt. Außer beim Main-Barockorchester Frankfurt spielt Martin Jopp in verschiedenen Barockensembles wie Barockorchester L’Orfeo, Freiburger Barockorchester u.a.

 

Rainer Noll, geb. 1949 in Wiesbaden. 1964 – 1968 erste Organistenstelle; zunächst Physik- und Mathematikstudium in Mainz und Hamburg, dann Musikstudium in Siena (1967 bei Fernando Germani, Organist am Petersdom in Rom), Hamburg (u. a. bei Jürgen Jürgens) und Frankfurt am Main (Staatsexamen für Kirchenmusiker, u. a. bei Helmuth Rilling – Meisterkurse u. a. bei Daniel Roth, Organist an St. Sulpice, Paris); seit 1972 hauptamtlicher Kantor an St. Martin in Kelsterbach; 1979 – 1993 Gründung und Leitung der „Kantorei St. Martin“. 1981/82 künstlerischer Leiter der „Airport Chapel Concerts“ des Rhein-Main Flughafens Frankfurt. Seit dem 10. Lebensjahr intensive Beschäftigung mit Albert Schweitzer; 1972/73, inspiriert vom Orgelideal Schweitzers, Entwurf der neuen Orgel der Evangelischen Kirche in Wiesbaden-Bierstadt und Begründung der dortige Konzerttradition. Seit 1995 projektweise Leiter der „Idsteiner Vokalisten“, die er bereits zu vielbeachteten Höhepunkten führte. Konzerte, Schallplatten- und Rundfunkaufnahmen, Vorträge und Veröffentlichungen (u. a. über Ethik und Musikauffassung Albert Schweitzers) im In- und Ausland (Europa, USA, Japan). 1982 – 1989 Katalogisierung des nachgelassenen Notenbestandes in Schweitzers Haus in Günsbach/Elsass, 1991 und 1992 die gleiche Arbeit an den von Schweitzer eingespielten Schallplatten. Er nimmt durch das jährlich seit 36 Jahren unter seiner Leitung stattfindende „Bach-Konzert“, der „Musikalischen Meditation zur Todesstunde Jesu“ am Karfreitag sowie der vor 31 Jahren von ihm begründeten „Abendmusik zum Weihnachtsmarkt“ einen Platz im Kulturleben der Stadt Kelsterbach und der ganzen Region ein (dabei Arbeit mit verschiedenen Orchestern wie „Schwanheimer Kammerorchester“, „Heidelberger Kantatenorchester“, „Kammerphilharmonie Rhein-Main“, „Collegium Piccolo Frankfurt“, „Junge Kammersinfoniker Hessen“, „Main-Barockorchester Frankfurt“ und „Mainisches Collegium Musicum“).  Daneben erfreuten sich die 1990 begründeten „Torhauskonzerte“ sowie die jährlichen musikalischen Weinproben im Erbacher Hof, Nolls Wohnsitz in Wiesbaden-Nordenstadt, großer Beliebtheit.