Kurz-Essay von Rainer Noll (19.6.2023)
Ganz grob und schwarz-weiß gesagt gibt es zwei Sorten von Künstlern, natürlich mit stufenlosen Übergängen und Gleichzeitigkeiten (und mehr oder weniger abgeschwächt trifft das vielleicht auf alle Menschen zu):
Die einen schaffen aus Defizit: Aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus hungern sie nach Anerkennung und Liebe und wollen durch ihr Werk geliebt werden (meist können sie auch nichts anderes). Sie leben in dem Gefühl, ihr Dasein sei durch nichts sinnvoll und gerechtfertigt außer durch ihre Leistung (was allerdings zu Höchstleistungen anspornen kann). Oft biedern sie sich an und folgen dem Zeitgeist, um zu „gefallen“ – oder aber durch Widerspruch zu ihm aufzufallen. Sie suchen krampfhaft Rechtfertigung durch ihr Werk, und von ihren Mitmenschen saugen sie Liebe, die sie doch immer unbefriedigt lässt und enttäuscht. Nicht selten sind es narzisstische Charaktere, und manche von ihnen werden so zu Misanthropen.
Die anderen schaffen aus Fülle: In innerer Unabhängigkeit wollen sie mit Ihrem Werk Liebe geben ohne Gegenleistung, sie „verströmen“ sich in ihrem Werk wie eine Rose ihren Duft verströmt und blüht und welkt, egal ob jemand sie bewundert (und oft genug werden sie erst nach ihrem Tod entdeckt und anerkannt). Dies sind die seltenen Menschen, die sich in innerem Reichtum bejaht, geliebt und gerechtfertigt fühlen und andere an ihrer Fülle teilhaben lassen, indem sie von ihrem Reichtum verschenken – unabhängig von Erfolg und vom je nach Zeitgeist schwankenden Urteil der Welt. Oft hat ihr Schaffen eine religiöse oder wenigstens spirituelle Dimension.
Sicher existiert keiner der beiden Typen in Reinkultur. Oft wohnen auch zwei Seelen friedlich nebeneinander in einer Brust oder das Pendel neigt sich fließend mal zur einen oder anderen Seite. Möge nun jeder die ihm bekannten Künstler zwischen diesen beiden Polen verorten – und auch sich selbst.