Freie Rede vorm Konzert am 12.11.2023 zu 200 Jahre St. Martin Kelsterbach

(aus dem Gedächtnis nachgeschrieben am 6.12.2023 – Nikolaustag)

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

gestern war Martinstag (11.11.). Dieser Tag vor genau 200 Jahren war der Weihetag dieser Kirche hier. Fast ein Viertel von dieser Zeit war ich Kantor dieser Kirche. Und von meiner gesamten Lebenszeit waren das fast zwei Drittel.

Es freut mich ganz besonders, Ihnen heute zu diesem großen Anlass Werke zu spielen, die ich hier nie während meiner langen Amtszeit spielte. Alles Neueinstudierungen, darunter drei Uraufführungen über das Martinslied, deren Tinte fast noch nicht trocken ist.

Ich will ein bisschen plaudern, wie das alles kam.

Vor genau 51 Jahren betrat ich diese Kirche zum ersten Mal – im Frühjahr 1972 während der Semesterferien. Ich war unterwegs in Schwanheim mit einem Freund und Schüler, Günter Bär (er müsste hier irgendwo im Publikum sitzen). Dort hörten wir von einer neuen Orgel in Kelsterbach. Auf dem Rückweg hielten wir in Kelsterbach und gingen ins Pfarrbüro, wo die Sekretärin Frau Helga Rehwagen uns empfing (sie kann leider heute nicht dabei sein, hat mir aber versprochen, ein Piccolo kalt zu stellen, um in Gedanken auf das Konzert anzustoßen). Wir sollten ins „Sälchen“ hinter der Kirche gehen zum Frauenhilfskaffee, um den Pfarrer zu treffen (es muss also ein Mittwoch gewesen sein, denn das war und ist der Tag der Frauenhilfe). Wir betraten den Saal und sahen keinen Pfarrer, nur schlohweiße Häupter alter Damen. Wir staunten nicht schlecht, als dieser sich plötzlich erhob: Pfr. Wolfgang Lichtenthaeler (1934 – 2014) hatte schon mit Ende 30 weißes gelocktes Haar wie die älteren Frauenhilfsdamen. In der Kirche spielte ich auswendig Bachs D-dur-Präludium … und uns beiden blieb der Mund vor Staunen offen stehen: ihm wegen meines Orgelspiels, mir wegen der Schönheit dieses Instrumentes – Liebe auf den ersten Klang, die bis heute anhält.

Pfr. Wolfgang Lichtenthaeler

 

Die hauptamtliche Organistenstelle war gerade vakant, aber es liefen bereits Bewerbungsverhandlungen mit gestandenen und erfahrenen Bewerberinnen und Bewerbern, die die entsprechenden Examina in der Tasche hatten, während ich nichts vorzuweisen hatte außer meinem Können. Doch auf der Stelle bot mir der Pfarrer das vakante Amt an und wartete sogar auf mich (er wusste, wen er vor sich hatte, die späteren leider nicht mehr). Denn er glaubte mit intuitiver Sicherheit, in mir genau den richtigen Organisten für „seine“ Orgel gefunden zu haben, die er dem Kirchenvorstand abgerungen hatte, der das alte Instrument durch ein billiges elektronisches ersetzen wollte.

So kam es, dass ich von Hamburg, wo ich zu dieser Zeit im Klavierstudium war und noch das Sommersemester zu absolvieren hatte, nach Kelsterbach wechselte und im August 1972 23jährig das Kantorenamt antrat und damit wieder für die Kirchenmusik gewonnen wurde.

Natürlich bekam der Pfarrer Kritik von allen Seiten, z.B. ich sei viel zu jung. Darauf er gelassen: „Das gibt sich von selbst.“ Und wie Sie sehen, er hatte recht!

Aber nicht nur mich hat der Pfarrer für diese Kirche „angeschafft“. Im Kirchturm hängt ein Geläut mit sechs Glocken, darunter auch eine Martinsglocke mit der Aufschrift „Selig sind die Barmherzigen“ (sein Sohn Tilman Lichtenthaeler weiß dies alles noch viel besser). Auch dieses wunderbare Altar-Antependium mit dem St. Martinsmotiv hat er besorgt, das uns heute auf Plaket und Programm als Leitbild dient.

Altar-Antependium St. Martin

Und damit kommen wir zu dem heiligen Martin von Tours, der dieser Kirche hier den Namen gibt.

Über seine Lebensdaten brauche ich nicht allzuviel zu sagen, denn im Gemeindebrief, der am Ausgang liegt, finden Sie einen hervorragenden Artikel dazu. Wichtig ist mir vielmehr, die geistige und geistliche Persönlichkeit Martins darzustellen, wie Sie sie kaum in den üblichen Legendenerzählungen finden.

Über sein Leben wissen wir besser Bescheid als über manchen anderen Heiligen (etwa den heiligen Nikolaus), denn sein Mitbruder Sulpicius Severus (um 363 – 420 bis 425) schrieb bereits zu seiner Lebzeit die erste Biographie.

Martin wurde im heutigen Ungarn ca. 316 als Sohn eines römischen Offiziers geboren. Dies war die Zeit der „Konstatinischen Wende“, nach der das bis dahin als verbotene Sekte verfolgte Christentum bis schließlich zur offiziellen Staatsreligion aufzusteigen begann. 313 hatte Kaiser Konstantin mit dem oströmischen Kaiser Licinius in Mailand Freiheit für alle Religionen vereinbart – jeder konnte nun „nach seiner Façon selig werden“, wie später der Alte Fritz sagte. Ohne dieses „Mailänder Toleranzedikt“ wäre wohl Martins Leben anders verlaufen.

Seine Jugend verbrachte Martin in Pavia, wo er bereits mit 10 unter den Katechumenen Taufbewerber war. Mit 15 begann seine Militärlaufbahn. Rasch wurde er Offizier wie sein Vater.

334 soll sich die berühmte Szene der Mantelteilung mit dem Bettler am Stadttor von Amiens zugetragen haben. – Mantel heißt auf lateinisch cappa. Später wurde Martins Mantel (heute verloren) als Reliquie aufbewahrt in einem speziellen Raum der Kirche, der deshalb Kapelle genannt wurde, und selbst auf die dort Musizierenden ging dieser Name über. Der für die Kapelle zuständige Geistliche hieß Kaplan.

Erst 351 wurde Martin getauft. 356 (wie üblich nach 25 Jahren) erfolgte seine Entlassung aus dem Militärdienst, allerdings unter Protest: er wolle nicht mehr mordender Soldat des Kaisers, sondern nur noch Soldat der Barmherzigkeit Christi sein. Am Tag darauf stand bei Worms eine Schlacht an, und der Kaiser warf ihm bezüglich seiner schroffen Entlassungsforderung Feigheit vor dem Feind vor (er ließ ihn sogar einkerkern). Darauf erklärte Martin mutig, er wolle nur mit einem Kreuz in der Hand ganz allein gegen den Feind ziehen. Überraschend zog der Feind anderntags ab, und so blieb Martin das Martyrium erspart. Und so wurde er als erster der Christen als Heiliger verehrt, der kein Märtyrer war. Deshalb ist das Rot des Antependiums etwas irreführend, denn es steht für das Blut der Märtyrer oder das Feuer des Geistes (Pfingsten) – wobei wenigstens letzteres sicher für ihn zutraf.

361 gründete er das erste Kloster im abendländischen Bereich (während das frühe Mönchtum seinen Ursprung in Ägypten hat).

370/71 wählte ihn die Bevölkerung von Tours zu ihrem Bischof. Da er sich für dieses Amt nicht würdig genug befand, soll er sich in einem Gänsestall versteckt haben. Aber die Gänse haben ihn mit ihrem Geschnatter verraten. So kommt es, dass sie zur Strafe heute noch am Martinstag geschlachtet und gegessen werden (auch ich freu mich schon auf meine Martinsgans).

Nun komme ich zu dem Wesentlichen, in dem die Geisteshaltung Martins deutlich wird und wie Sie es so schnell nicht in den üblichen Quellen finden.

385 reiste Martin nach Trier, um beim Kaiser Maximus die Einstellung des Prozesses gegen den angeblich häretischen Bischof Priscillian von Avila, von verleumderischen Zeugen angeklagt, zu bewirken, was ihm der Kaiser zusagte. Nach seiner Abreise wurde der Kaiser wortbrüchig und vollstreckte das Todesurteil an Priscillian. Das erste übrigens von Christen gegen einen Christen – bisher waren die Christen selbst Verfolgte, nun begannen sie eigene Glaubenbrüder zu verfolgen und zu töten als Ketzer – bisher galt die Exkommunikation als höchste kirchliche Strafe. Diesen verhängnisvollen Anfängen wehrte Martin vehement.

Martin (und auch andere Bischöfe wie Ambrosius von Mailand) protestierte heftig gegen diesen Wortbruch des Kaisers: ein früher „Protestant“!

Jetzt wird es noch wesentlicher:

Was aber war denn eigentlich die „Häresie“ des Priscillian?

Er lebte und förderte einen würdigen und asketischen geistlichen Stand (gekaufte Zeugen mussten ihm genau das Gegenteil, Völlerei und sexuelle Ausschweifungen, unterschieben), aber mehr noch: er trat für die Abschaffung der Sklaverei und die für die völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau ein. Und das war lebensgefährlich im 4. Jahrhundert … und leider noch lange darüber hinaus.

Durch das mutige Einschreiten Martins für diesen Priscillian können wir indirekt auch auf dessen aufgeklärte Geisteshaltung schließen, die so gar nicht ins Bild vom „finsteren Mittelalter“ passen will.

386 zeigte sich seine charaktervolle Geisteshaltung nochmals in Trier: er setzte sich gegen die Hinrichtung von zwei Anhängern des 383 ermordeten Kaisers Gratian ein, der Priscillian und dessen Gefolgsleute begünstigt haben sollte. Allen (sogar Bischöfen), die an der Verurteilung und Hinrichtung des Priscillian beteiligt waren, verweigerte er die Eucharistie, musste aber auf Druck des Kaisers nachgeben.

Am 8. November 397 starb Martin mit 81 Jahren während einer Visite seines Bistums in Candes. Den Leichnam des bereits als Heiligen verehrten Mannes wollte Candes nicht herausgeben, aber die Bürger von Tours entführten ihn bei Nacht und Nebel und treidelten den Sarg auf einem Schiff auf der Loire nach Tours, begleitet von einem Fackelzug seiner Anhänger. Am 11. November 397 wurde er in Tours beigesetzt. Der Martinstag ist also hier nicht, wie üblich, der Todestag eines Heiligen, sondern sein Beerdigungstag.

Vor seinem Tod soll er das weise Wort gesagt haben: Mortem non timeo, vivere autem non recuso (Den Tod fürchte ich nicht, weiterzuleben lehne ich aber nicht ab).

Basilika Saint-Martin in Tours – Martins Begräbnisstätte

Von der Kirche nie offiziell heilig gesprochen, wurde er zum vielleicht bedeutendsten Volksheiligen des fränkischen Reiches und schließlich weit darüber hinaus – bis heute.

Rainer Noll

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