Bach-Kantaten voll freudiger Sehnsucht

(erschienen in: „Kelsterbach aktuell“, 30.07.2010)

„Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben.“  Dieser Satz des Arztes, Theologen und Bestsellerautors Manfred Lütz könnte als Motto über dem diesjährigen Bach-Konzert in St. Martin stehen. Im wieder liebevoll gestalteten Programmheft, das die Hintergründe von Musik und Texten in brillanter Sprache erhellt, schreibt Noll: „Wir heute verdrängen  eher Endlichkeit und Ende und huldigen einem Kult ewiger Jugendlichkeit. Anders bei Bach…“

Dies war zu hören in Bachs Sopran-Solo-Kantate „Mein Herze schwimmt im Blut“ BWV 199, den Bass-Solo-Kantaten „Ich habe genug“ BWV 82 und „Der Friede sei mit dir“ BWV 158,  sowie der Dialog-Kantate „Liebster Jesu, mein Verlangen“ BWV 32 für Sopran und Bass – von verklärter Todessehnsucht erfüllte Werke. Vor der in der „Hospizbewegung“ neu belebten Frage nach einem würdigen Sterben erhält Kantor Rainer Nolls Programmauswahl hohe Aktualität: „Die heutigen Kantaten thematisieren in innigster Weise die Situation des Menschen, der sich inmitten von irdischer Not und Bedrängnis nach seligem Frieden, Erfüllung und himmlischer Freude durch Erlösung von Welt, Sünde und Tod sehnt, die sein Herz im Hier und Jetzt bereits ganz ergriffen haben. In diesem Ineinander, dieser Gleichzeitigkeit von Hier und Dort, von Welt und Himmel liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser Kantaten. Es geht dabei nicht um Weltflucht, wie man Text und Musik spontan missverstehen könnte. Es soll die Vordergründigkeit des irdischen Daseins, die Nichtigkeit alles Vergänglichen aufgezeigt, die Falschheit und Hohlheit des bloßen schönen Scheins aufgedeckt und auf die wahren, ‚himmlischen‘ Werte verwiesen werden.“ (Programmheft)

Bach vertonte diese Thematik ohne jede trübsinnige Traurigkeit. Wunderbare Heiterkeit, Gelassenheit und Zuversicht kennzeichnen seine Trost spendende Musik, in der Bass-Arie „Ich freue mich auf meinen Tod“ bis zu überschwänglicher Ekstase gesteigert. All dies machten die Musiker des Abends adäquat auf höchstem Niveau den Zuhörern anrührend erlebbar. Ebenbürtig musizierten Eva Lebherz-Valentin (Heidelberg), Sopran, Erik Frithjof (Graz), Bass, und die französische Oboistin Lola Soulier, Konstanze Winkelmann und Franka Palowski, Violinen, Ursula Plagge-Zimmermann, Viola, Lydia Blum, Violoncello, Christian Zincke, Violone, vom „Main-Barockorchester Frankfurt“ auf historischen Instrumenten, sowie der Heidelberger Kirchenmusikdirektor Peter Schumann an der Continuo-Orgel. Sie alle wirkten am Ende als Höhepunkt der spannungsvoll aufgebauten Programmfolge zusammen in dem mitreißenden Duett „Nun verschwinden alle Plagen“. Einstudierung und Leitung lagen, wie seit Gründung dieser Bach-Konzerte vor 33 Jahren, in den bewährten Händen Rainer Nolls, der nach langer Krankheit dieses wieder besondere Konzert in bewundernswerter Frische und Intensität dirigierte.

Eckard B. Gandela, Frankfurt/Main

Bachkonzert am 25. Juli 2010

33. Bach-Konzert in St. Martin Kelsterbach

Dank der finanziellen Unterstützung der Stadt Kelsterbach ist auch in diesem Jahr wieder „große Kirchenmusik“ beim Bachkonzert möglich. Es ist das nunmehr 33. Konzert zu Johann Sebastian Bachs Todestag († 28.7.1750) und findet am Sonntag, dem 25. Juli 2010, um 20 Uhr in St. Martin Kelsterbach statt (seit seiner Begründung durch Rainer Noll im Jahre 1977 unter seiner Leitung).

Prächtige Festmusiken standen bei den Jubiläen der vergangenen Jahre auf dem Programm. 2007: 30 Jahre Bach-Konzerte, 2008: 450 Jahre evangelisches Kelsterbach und 40jähriges Dienstjubiläum von Kantor Rainer Noll, 2009: 250. Todesjahr von Bachs Altersgenossen Georg Friedrich Händel.

 

Diesmal wird das Programm dem Anlass gemäß introvertierter sein: Sopran-Solo-Kantate „Mein Herze schwimmt im Blut“ BWV 199, Bass-Solo-Kantaten „Ich habe genug“ BWV 82 und „Der Friede sei mit dir“ BWV 158, Dialog-Kantate „Liebster Jesu, mein Verlangen“ BWV 32 für Sopran und Bass. Diese Kantaten thematisieren in innigster Weise die Situation des Menschen, der sich inmitten von irdischer Not und Bedrängnis nach seligem Frieden, Erfüllung und himmlischer Freude durch Erlösung von Welt, Sünde und Tod sehnt. Sie gehören zur „ars moriendi“ („Sterbekunst“), die für den barocken Menschen immer zur rechten „ars vivendi“ („Lebenskunst“) als Kehrseite gehörte, während wir heute Endlichkeit und Ende eher verdrängen und einem Kult ewiger Jugendlichkeit huldigen. Anders bei Bach, über den Albert Schweitzer in seiner Bach-Monographie (S. 147) schreibt: „Sein ganzes Denken war von einem wunderbaren, heiteren Todessehnen verklärt. (…) und nie ist die Sprache seiner Töne so ergreifend, wie gerade in den Kantaten, in denen er die Erlösung vom Leibe dieses Todes predigt.“

Wieder konnten hervorragende Musiker gewonnen werden:

Eva Lebherz-Valentin (Heidelberg), Sopran

Erik Frithjof (Graz), Bass

Main-Barockorchester Frankfurt

mit Kirchenmusikdirektor Peter Schumann (Heidelberg), Orgelcontinuo

Leitung: Rainer Noll

Programmheft (2011)

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)

 

„Ach Gott, wie manches Herzeleid“ BWV 58

Kantate für Sopran, Bass, Streicher und Basso continuo

„Tritt auf die Glaubensbahn“ BWV 152

Kantate für Sopran, Bass, Blockflöte, Oboe, Viola d’amore, Viola da Gamba

und Basso continuo

 

Doppelkonzert c-moll BWV 1060

für Solo-Oboe, Solo-Violine, Streicher und Basso continuo

Allegro – Adagio – Allegro

„Selig ist der Mann“ BWV 57

Kantate für Sopran, Bass, Oboe, Streicher und Basso continuo

 

 

Die Ausführenden:

Birgit Völker – Sopran

Erik Frithjof – Bass

 

Mainisches Collegium Musicum:

Martin Nitz – Blockflöte

Jeanine Krause – Oboe

Katrin Ebert,  Hongxia Cui, Zsuzsanna Hodasz – Violine

Claudia Drechsler – Viola

Lydia Blum – Violoncello

Ichiro Noda – Kontrabass

Olaf Joksch – Orgelcontinuo

Leitung: Rainer Noll

 

Zum Programm:

Auf dem Programm stehen ausschließlich Werke von Johann Sebastian Bach. Neben dem Konzert in c-moll BWV 1060 für Oboe, Violine und Orchester erklingen diesmal drei sogenannte Dialog-Kantaten: „Ach Gott, wie manches Herzeleid“ BWV 58, „Tritt auf die Glaubensbahn“ BWV 152 und „Selig ist der Mann“ BWV 57. In allen drei Werken entfaltet sich ein Zwiegespräch zwischen der bedrängten Seele (Sopran) und dem tröstenden Jesus (Bass). Schließlich entbrennt die Seele in verzückter Jesusminne zu ihrem Geliebten, zu Jesus, der ihr Zuversicht und Trost spendet. Bachs Musik nimmt hier wie selten, inspiriert vom Text,  opernhaft-erotische Züge an. Sicher, es ist die uns fremd gewordene barocke Sprache des 18. Jahrhunderts. Aber wer könnte schon der eröffnenden Aussage „Ach Gott, wie manches Herzeleid begegnet mir zu dieser Zeit!“ eine inhaltliche Aktualität absprechen? Mit den Worten „Nur Geduld, Geduld, mein Herze, es ist eine böse Zeit!“ richtet Jesus (Bass) die niedergedrückte Seele (Sopran) auf und verheißt uns allen „Nur getrost, getrost, ihr Herzen, hier ist Angst, dort Herrlichkeit!“.

Im weitesten Sinne thematisieren auch diese Kantaten, wie schon die des Bach-Konzertes 2010, die Situation des Menschen, der sich inmitten von irdischer Not und Bedrängnis nach seligem Frieden, Erfüllung und himmlischer Freude durch Erlösung vom „gemarterten Leibe“ sehnt. Sie gehören zur „ars moriendi“ („Sterbekunst“), die für den barocken Menschen immer zur rechten „ars vivendi“ („Lebenskunst“) als Kehrseite gehörte, während wir heute Endlichkeit und Ende eher verdrängen und einem Kult ewiger Jugendlichkeit huldigen. Anders bei Bach, der gerade in diesen Werken zu seiner innigsten und ergreifendsten Tonsprache findet. Und diese ist keineswegs düster und traurig, sondern heiter-verklärt, weil erfüllt von sehnsüchtigem Hoffen auf die himmlische Heimat, das „rechte Vaterland“.

 

BWV 58   Ach Gott, wie manches Herzeleid

Dialogus

1. Choral und Aria

Choral: Ach Gott, wie manches Herzeleid
Begegnet mir zu dieser Zeit!
Der schmale Weg ist Trübsals voll,
Den ich zum Himmel wandern soll.
Arie: Nur Geduld, Geduld, mein Herze,
Es ist eine böse Zeit!
Doch der Gang zur Seligkeit
Führt zur Freude nach dem Schmerze.
2. Recitativo

Verfolgt dich gleich die arge Welt,
So hast du dennoch Gott zum Freunde,
Der wider deine Feinde
Dir stets den Rücken hält.
Und wenn der wütende Herodes
Das Urteil eines schmähen Todes
Gleich über unsern Heiland fällt,
So kommt ein Engel in der Nacht,
Der lässet Joseph träumen,
Dass er dem Würger soll entfliehen
Und nach Ägypten ziehen.
Gott hat ein Wort, das dich vertrauend macht.
Er spricht: Wenn Berg und Hügel niedersinken,
Wenn du in Wasserfluten willst ertrinken,
So will ich dich doch nicht verlassen noch versäumen.
3. Aria

Ich bin vergnügt in meinem Leiden,
Denn Gott ist meine Zuversicht.
Ich habe sichern Brief und Siegel,
Und dieses ist der feste Riegel,
Den bricht die Hölle selber nicht.
4. Recitativo

Kann es die Welt nicht lassen,
Mich zu verfolgen und zu hassen,
So weist mir Gottes Hand
Ein andres Land.
Ach! könnt es heute noch geschehen,
Dass ich mein Eden möchte sehen!
5. Choral und Aria

Choral: Ich hab für mir ein schwere Reis
Zu dir ins Himmels Paradeis,
Da ist mein rechtes Vaterland,
Daran du dein Blut hast gewandt.
Arie: Nur getrost, getrost, ihr Herzen,
Hier ist Angst, dort Herrlichkeit!
Und die Freude jener Zeit
Überwieget alle Schmerzen.

 

Diese Kantate wurde wahrscheinlich für den 5. Januar 1727, den Sonntag nach Neujahr, geschrieben. Bei einer Wiederaufführung in den Jahren 1733 oder 1734 verstärkte Bach die Streicher des Eingangs- und Schlusssatzes mit einem Oboen-Chor (2 Oboen + Oboe da caccia) und komponierte die zentrale Arie „Ich bin vergnügt in meinem Leide“ neu. In der heutigen Aufführung musizieren wir das Werk in der ersten Fassung ohne Oboen, da die Akustik der Martinskirche diese Verstärkung entbehrlich macht.

Der unbekannte Textdichter verbindet in dieser Kantate die beiden Motive der Epistel- und der Evangelienlesung des Sonntags (1. Petr. 4, 12-19 und Matth. 2, 13-23): das Leiden mit Jesus, das einen Christen auszeichnet, und die Flucht von Josef und Maria mit dem Jesuskind nach Ägypten und die Rückkehr nach Nazareth, quasi nacherzählt im Rezitativ Nr.2.

Im 1. Satz trägt der Sopran den schlichten Choral „Ach Gott, wie manches Herzeleid“ als Motto der Kantate vor. Das Orchester bringt in seinem unerbittlich scharf punktierten Rhythmus und der gespannten Harmonik die Härte und Bosheit der Zeit zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu steht ein seufzendes, chromatisch fallendes Lamento-Motiv, das gleich zu Beginn im Orchesterbass auftaucht und später das Wort „Schmerze“ des Vokalbasses deklamiert. Vermittelnd mischt sich der Bass als Tröster mit den Worten „Geduld, mein Herze“ beschwichtigend zwischen Sopran und Orchester. Bei seinen letzten Worten verlässt er zunehmend den punktierten Rhythmus, um in geraden Achteln, die hart von den Punktierungen der Instrumente angefochten werden, zu einer Koloratur auf das Wort „Freude“ zu gelangen

In der zentralen Arie „Ich bin vergnügt in meinem Leiden“ werden die scheinbaren Gegensätze „vergnügt“ und „Leiden“ im tänzerischen Rhythmus des Instrumentalbasses und der Seufzer-Motivik der Solo-Violine ausgedrückt.

Ein fanfarenartiges Dreiklangsmotiv und überschwänglicher Freudentaumel (synkopierter Instrumentalbass!) kennzeichnen den Schlusssatz. Der Sopran singt auf die rhythmisch veränderte Choralmelodie des Eingangssatzes die 2. Strophe des Liedes „O Jesu Christ, meins Lebens Licht“: „Ich hab‘ für (vor) mir ein‘ schwere Reis'“. Ermutigend hört man dazu vom Bass: „Nur getrost, ihr Herzen“. Diese Musik ist ganz und gar Sinnbild der zukünftigen Herrlichkeit nach Überwindung allen Leides, so, wie nach der leidvollen Flucht nach Ägypten die Heimkehr ins gelobte Land folgte.

 

BWV 152   Tritt auf die Glaubensbahn

1. Sinfonia

2. Aria

Tritt auf die Glaubensbahn,
Gott hat den Stein geleget,
Der Zion hält und träget,
Mensch, stoße dich nicht dran!
Tritt auf die Glaubensbahn!
3. Recitativo

Der Heiland ist gesetzt
In Israel zum Fall und Auferstehen.
Der edle Stein ist sonder Schuld,
Wenn sich die böse Welt
So hart an ihm verletzt,
Ja, über ihn zur Höllen fällt,
Weil sie boshaftig an ihn rennet
Und Gottes Huld
Und Gnade nicht erkennet!
Doch selig ist
Ein auserwählter Christ,
Der seinen Glaubensgrund auf diesen Eckstein leget,
Weil er dadurch Heil und Erlösung findet.
4. Aria

Stein, der über alle Schätze,
Hilf, dass ich zu aller Zeit
Durch den Glauben auf dich setze
Meinen Grund der Seligkeit
Und mich nicht an dir verletze,
Stein, der über alle Schätze!
5. Recitativo

Es ärgre sich die kluge Welt,
Dass Gottes Sohn
Verlässt den hohen Ehrenthron,
Dass er in Fleisch und Blut sich kleidet
Und in der Menschheit leidet.
Die größte Weisheit dieser Erden
Muss vor des Höchsten Rat
Zur größten Torheit werden.
Was Gott beschlossen hat,
Kann die Vernunft doch nicht ergründen;
Die blinde Leiterin verführt die geistlich Blinden.
6. Aria (Duetto)

Sopran (Seele)
Wie soll ich dich, Liebster der Seelen, umfassen?
Bass (Jesus)
Du musst dich verleugnen und alles verlassen!

Sopran
Wie soll ich erkennen das ewige Licht?
Bass
Erkenne mich gläubig und ärgre dich nicht!
Sopran
Komm, lehre mich, Heiland, die Erde verschmähen!
Bass
Komm, Seele, durch Leiden zur Freude zu gehen!
Sopran
Ach, ziehe mich, Liebster, so folg ich dir nach!
Bass
Dir schenk ich die Krone nach Trübsal und Schmach.

 

Diese Kantate entstand in Weimar zum 30. Dezember 1714, dem Sonntag nach Weihnachten. Einmalig im Schaffen Bachs ist die Besetzung: das Instrumentalensemble besteht neben dem obligaten Continuo aus Blockflöte, Oboe, Viola d’amore und Viola da Gamba (heute allerdings ausgeführt von Viola und Violoncello). Der am 7. April 2011 verstorbene Bach-Forscher Alfred Dürr schreibt dazu: „Der erlesene Zusammenklang charakteristischer Instrumente schafft eine individuelle Sphäre, die der Dichtung Francks angemessen ist, später dagegen, in den repräsentativen Werken der Leipziger Zeit weit weniger hervortritt: Immer mehr entfernt sich Bach im Verlaufe seines Schaffens vom Ideal eigenwilliger, sinnlicher Klangreize zugunsten einer vergeistigten, materielosen Schönheit der Linienführung und der Ausgewogenheit der Harmonie.“ (A. Dürr, „Die Kantaten von Johann Sebastian Bach“, Kassel – Basel – London, 1971, S. 142)

Eine zweiteilige Instrumentalmusik eröffnet die Kantate: auf eine kurze, sehr langsame, mit weitschwingenden Tongirlanden geschmückte Einleitung folgt eine lebhafte Fuge, deren leichtfertig-tändelndes Thema dem der Orgelfuge in A-dur BWV 536, 2 ähnlich ist und das den Hörer gleich zu Beginn bezüglich des 3/8-Taktes völlig verunsichert. Es ist, als wollte Bach in dieser lieblichen Musik die süße Versuchung der Welt, die aber in die Irre führt, darstellen. Gleich die erste Arie (Bass als Stimme Christi) ruft dann auch vom falschen auf den rechten Weg: „Tritt auf die Glaubensbahn“ (Nachfolge Christi symbolisiert durch imitatorische, kanonartige Einsätze).

Der Textdichter Salomon Franck setzt zum Verständnis seiner Dichtung einige Bibelkenntnis voraus. Das Evangelium des Tages (Luk. 2, 33-40) folgt unmittelbar auf den Lobgesang des greisen Simeon (das „Nunc dimittis“: „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren…“), der dann zu Maria über ihren Sohn Jesus sagt: „Siehe, dieser wird gesetzt zu einem Fall und Auferstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird (…) auf dass vieler Herzen Gedanken offenbar werden.“ Lukas bezieht sich hier auf Jesaja 8, 14-15: „So wird er ein Heiligtum sein, aber ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses den beiden Häusern Israel, zum Strick und Fall den Bürgern zu Jerusalem, dass ihrer viele sich daran stoßen, fallen, zerbrechen, verstrickt und gefangen werden.“ Dazu sei noch Psalm 118, 22 erwähnt, den Jesus im Matth. 21, 42 zitiert: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.“ Nur von hier erschließen sich die Texte der Kantate.

Das Rezitativ Nr. 3 „Der Heiland ist gesetzt in Israel zum Fall“ nimmt Bezug zum oben zitierten Evangelium. Den „Fall“ stellt Bach auf ungewöhnlich drastische Weise dar: der Bass stürtzt eine Dezime abwärts (a – Fis!) gegen den liegenden Continuoton G, den ich auch nicht vorher aufhebe, wie die meisten Interpreten tun, sondern ich koste voll die Härte dieser Dissonanz aus.

Die überwältigend anmutige Sopran-Arie Nr. 4 ist ein Gebet der Seele, die diesen „Stein“ anfleht, zum Fundament ihres Glaubens und ihrer Seligkeit zu werden.

Das tänzerische Duett Nr. 6 ist eines der schönsten Liebesduette aus Bachs Feder: die Seele (Sopran) hält innige Zwiesprache mit ihrem Geliebten Jesus (Bass) und tanzt mit ihm verzückt in den Himmel hinein. Die letzten Trostworte des Basses verweisen schon auf die letzte Kantate des heutigen Programmes: „Dir schenk ich die Krone nach Trübsal und Schmach.“ Immer wieder dies Motiv: Bestehen des Leidens im Hier und Jetzt – dort in der zukünftigen Herrlichkeit ewige Seligkeit bei Jesus als Lohn (Gegensatz: hier – dort, Welt – Himmel, Leid – Herrlichkeit!).

 

Bei dem Doppelkonzert c – moll BWV 1060 für Oboe, Violine und Streicher handelt es sich um die Rekonstruktion eines verschollenen Konzertes, das Bach als Vorlage für sein um 1736 entstandenes Konzert c – moll für zwei Cembali und Orchester BWV 1060 gedient hat. Wir musizieren die rekonstruierte Fassung von Wilfried Fischer von 1970.

 

BWV 57 Selig ist der Mann

Dialogus (Seele, Jesus)

1. Aria

Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn, nachdem er bewähret ist,

wird er die Krone des Lebens empfahen.

2. Recitativo

Ach! dieser süße Trost
Erquickt auch mir mein Herz,
Das sonst in Ach und Schmerz
Sein ewig Leiden findet
Und sich als wie ein Wurm in seinem Blute windet.
Ich muss als wie ein Schaf
Bei tausend rauhen Wölfen leben;
Ich bin ein recht verlassnes Lamm,
Und muss mich ihrer Wut
Und Grausamkeit ergeben.
Was Abeln dort betraf,
Erpresset mir auch diese Tränenflut.
Ach! Jesu, wüsst ich hier
Nicht Trost von dir,
So müsste Mut und Herze brechen,
Und voller Trauren sprechen:
3. Aria

Ich wünschte mir den Tod, den Tod,
Wenn du, mein Jesu, mich nicht liebtest.
Ja wenn du mich annoch betrübtest,
So hätt ich mehr als Höllennot.
4. Recitativo (Dialog)

Bass
Ich reiche dir die Hand
Und auch damit das Herze.
Sopran
Ach! süßes Liebespfand,
Du kannst die Feinde stürzen
Und ihren Grimm verkürzen.
5. Aria

Ja, ja, ich kann die Feinde schlagen,
Die dich nur stets bei mir verklagen,
Drum fasse dich, bedrängter Geist.
Bedrängter Geist, hör auf zu weinen,
Die Sonne wird noch helle scheinen,
Die dir itzt Kummerwolken weist.
6. Recitativo (Dialog)

Bass
In meinem Schoß liegt Ruh und Leben,
Dies will ich dir einst ewig geben.
Sopran
Ach! Jesu, wär ich schon bei dir,
Ach striche mir
Der Wind schon über Gruft und Grab,
So könnt ich alle Not besiegen.
Wohl denen, die im Sarge liegen
Und auf den Schall der Engel hoffen!
Ach! Jesu, mache mir doch nur,
Wie Stephano, den Himmel offen!
Mein Herz ist schon bereit,
Zu dir hinaufzusteigen.
Komm, komm, vergnügte Zeit!
Du magst mir Gruft und Grab
Und meinen Jesum zeigen.
7. Aria

Ich ende behände mein irdisches Leben,
Mit Freuden zu scheiden verlang ich itzt eben.
Mein Heiland, ich sterbe mit höchster Begier,
Hier hast du die Seele, was schenkest du mir?
8. Choral  (Melodie „Lobe den Herren, den mächtigen König“)

Richte dich, Liebste, nach meinem Gefallen und gläube
Dass ich dein Seelenfreund immer und ewig verbleibe,
Der dich ergötzt
Und in den Himmel versetzt
Aus dem gemarterten Leibe.

 

Diese Kantate entstand zum 2. Weihnachtstag des Jahres 1725. Dieser ist traditionsgemäß dem ersten Märtyrer Stephanus gewidmet (Stephanstag). So ist sie auch keine Weihnachts-Kantate, sondern eine „Stephanus-Kantate“ und knüpft an das Martyrium des Stephanus an, dessen Steinigung in der Epistellesung des Tages berichtet wird (Apg. 7, 51-59). Sie ist die im Wechsel der Affekte dramatischste der drei heutigen Kantaten.

Bereits in der Einleitung des Kantatentextes von Georg Christian Lehms findet der Kenner eine Anspielung auf Stephanus. Da ist von der „Krone des Lebens“ die Rede, die der selig gepriesene Mann nach bestandener Anfechtung erhalten wird: „Krone“ (oder auch der Lorbeerkranz des Siegers) heißt auf griechisch stephanos! In der ariosohaften Vertonung wird die Anfechtung wunderbar verdeutlicht durch ein meist eine verminderte Quarte fallendes Synkopenmotiv. Die Synkope auf der Zwei des Dreivierteltaktes (wie in einer Sarabande) ist hier in der Regel die Septim zum Basston, also höchst dissonant. Dazu kommen zahlreiche weitere Synkopen sowie ein chromatisch fallendes Motiv, ähnlich dem Lamento-Motiv im Eingangssatz der ersten Kantate BWV 58.

In der Arie Nr. 3 „Ich wünschte mir den Tod“ bäumen sich die Violinen leidenschaftlich seufzend auf, um gleich darauf in die Tiefe zu stürzen – so „Tod“ und „Höllennot“ darstellend. Ein zweites, lieblicheres Motiv erscheint im Zwiegespräch der beiden Violinen als Ausdruck der Liebe Jesu.

Die Bass-Arie Nr. 5 ist eine eindrucksvolle Kampfmusik. Die Worte „die dich nur stets bei mir verklagen“ werden durch ein unmittelbar verständliches Anklage-Motiv unterstützt. Der „bedrängte Geist“ macht sich in aufwärtsdrängenden Synkopen bemerkbar, und die Stelle „hör‘ auf zu weinen“ wird von auf- und absteigenden Seufzern begleitet.

In der Sopran-Arie Nr. 7 stellt Bach das freudige Entgegeneilen des hinfälligen Leibes auf geniale Art dar: der Continuobass eilt in behänden Schritten dahin, während die Solo-Violine in ihrer Bewegung immer wieder synkopisch auf die Drei des 3/8-Taktes (die schwächste Taktzeit) stürzt und quasi hinkt wie ein gebrechlicher Mensch. Die Arie endet überraschend mit der Schlussfrage. Die Antwort gibt der Schlusschoral, der hier zur Stimme Christi wird. Man beachte die Harmonisierung der letzten Choralzeile!

 

Johann Sebastian Bach wurde am 21. März 1685 in Eisenach geboren. 1703 – 07 Organist in Arnstadt. 1707 – 08 Organist an St. Blasius in Mühlhausen. 1708 – 17 Hoforganist, Cembalist und Violinist (seit 1714 auch Hofkonzertmeister) in Weimar. 1717 – 23 Hofkapellmeister in Köthen. Ab 1723 Kantor der Thomaskirche und „Kirchenmusikdirektor“ der Stadt Leipzig, wo er am 28. Juli 1750 starb.

Im Jahre 1723 wurde Johann Sebastian Bach, seit sechs Jahren „hochfürstlicher“ Hofkapellmeister zu Köthen, zum Thomaskantor und Musikdirektor der Stadt Leipzig gewählt. Er blieb sozusagen übrig, nachdem berühmtere Musiker wie Telemann und Graupner abgesagt hatten, und so kam es denn auch zu der bekannten Äußerung des Dr. Platz, festgehalten im Protokoll der Sitzung des Leipziger Stadtrates: „Da man die besten nicht bekommen konnte, müsse man mittlere nehmen.“ Allein Bürgermeister Lange hatte den größeren Durchblick: „Wann Bach erwehlet würde, so könnte man Telemann … vergessen“. Dennoch: Niemand wurde sich im damaligen Leipzig (und ebenso andernorts) bewusst,  dass ihr Kantor, den man immer wieder von amtswegen „subalternieren“ zu müssen glaubte, unter oft verdrießlichen Umständen in stetigem, stillen Fleiß Werke von Weltrang schuf, für deren Überlieferung er selbst wenig tat. Stattdessen musste er sich noch von kleinkarierten Ratsherren, von denen nichts als ihre wichtigtuerische Bedeutungslosigkeit der Nachwelt zu berichten bleibt, vorwerfen lassen: „Nicht allein tue der Kantor nichts, sondern wolle sich auch diesfalls nicht erklären … es müsse doch einmal brechen.“ Man drohte ihm das Gehalt zu  „verkümmern“, da er „incorrigibel“ (unverbesserlich) sei. Und 1730 hieß es im Rat bei der Wahl eines neuen Rektors für die Thomasschule, man möge hier besser fahren als mit der Wahl des Kantors. Bei der schon zu Bachs Lebzeiten geschmacklos betriebenen Wahl seines Nachfolgers resümierte man im Stadtrat: „… man brauche einen Cantorem und keinen Capellmeister!“ (auf heutige Verhältnisse übertragen: einen „Gemeindemusiker“ – aber bitte ohne künstlerische Ambitionen!). Fast hundert Jahre sollte es dauern, bis Bachs Größe in breiteren Kreisen erkannt  zu werden begann.

Zu Bachs Aufgaben gehörte es u. a., für jeden sonntäglichen Hauptgottesdienst eine Kantate zu liefern und aufzuführen, die als Antwort auf das Evangelium erklang. Dieser Gottesdienst begann um 7 Uhr in der Frühe und dauerte 3-4 Stunden (je nach Jahreszeit in der stets unbeheizten Kirche!). Er stellte ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis dar und wurde regelmäßig von über 2000 (!!) Menschen besucht (und dies, obwohl um 11:30 Uhr die hauptsächlich von Handwerksburschen und Gesinde besuchte „Mittagspredigt“ und um 13:30 Uhr die „Vesper“ folgten – beide ebenfalls stark frequentiert wie die täglich stattfindenden Werktagsgottesdienste!).
Die Gesangssolisten:

Birgit Völker, Sopran, stammt aus der Weststeiermark in Österreich. Sie studierte Romanistik und Gesang in Florenz und Graz bei Mia Fracassini, Gina Lichtenberg und Prof. Rosemarie Schmied. Meisterkurse bei Emma Kirkby, David Brock und Kurt Widmer.

Die Sopranistin ist Stipendiatin des „American Institute of Musical Studies“.

Während ihres Studiums war sie Mitglied des Zusatzchores der Grazer Oper.

Ihre sängerische Leidenschaft gehört der „Alten Musik“. Zu ihren Partien gehören Euridice aus „Orfeo ed Euridice“ von J. J. Fux, Belinda aus H. Purcells „Dido and Aeneas“ und Poppea aus „L’incoronazione di Poppea“ von C. Monteverdi.

Einladungen führten sie zu „Festival Barocco di Viterbo“, „Rassegna Internazionale di Musica Antica del Collegio Ghislieri“ in Pavia und „Festival Internazionale di Musica Antica Monza e Brianza“.

2008/09 erhielt sie einen Lehrauftrag Gesang am Johann-Joseph-Fux-Konservatorium Graz.
Seit 2009 ist sie Mitglied im „Arnold Schoenberg Chor“ Wien, in dem sie unter Dirigenten wie Erwin Ortner, Nikolaus Harnoncourt, Ivor Bolton und Christophe Rousset musizieren darf.

Erik Frithjof, Bass, singt gerne und oft Musik von J. S. Bach, u. a. in Leiden (NL) die Matthäuspassion unter Roy Goodman, in Lourdes (F) die Johannespassion unter Pierre Cao und zuletzt in Augsburg die Johannespassion unter Michael Nonnenmacher.

Im Ensemble musizierte der gebürtige Münchner in den Rundfunkchören des BR, WDR und MDR sowie im Grazer Opernchor.

Nach seinem Gesangsstudium bei Albrecht Klora in Düsseldorf und Giuseppe Dillo sang sich der Bariton quer durch die Oratoriumsliteratur und Europa mit Klangkörpern wie National Orchester Belgien, Concertgebouw Kammerorkest und Anhaltische Philharmonie Dessau unter Wieland Kuijken, Golo Berg oder Patrick Davin.

Werke von Boudewijn Buckinx und Kris Defoort brachte er zur Uraufführung. Aufnahmen für Deutschlandradio und dem belgischen Rundfunk dokumentieren sein künstlerisches Schaffen.

 

Der Dirigent:

Rainer Noll, geb. 1949 in Wiesbaden. 1964 – 1968 erste Organistenstelle; zunächst Physik- und Mathematikstudium in Mainz und Hamburg, dann Musikstudium in Siena (1967 bei Fernando Germani, Organist am Petersdom in Rom), Hamburg (u. a. bei Jürgen Jürgens) und Frankfurt am Main (Staatsexamen für Kirchenmusiker, u. a. bei Helmuth Rilling – Meisterkurse u. a. bei Daniel Roth, Organist an St. Sulpice, Paris); seit 1972 hauptamtlicher Kantor an St. Martin in Kelsterbach; 1979 – 1993 Gründung und Leitung der „Kantorei St. Martin“. 1981/82 künstlerischer Leiter der „Airport Chapel Concerts“ des Rhein-Main Flughafens Frankfurt. Seit dem 10. Lebensjahr intensive Beschäftigung mit Albert Schweitzer; 1973, inspiriert vom Orgelideal Schweitzers, Entwurf der neuen Orgel der Evangelischen Kirche in Wiesbaden-Bierstadt und Begründung der dortige Konzerttradition. Seit 1995 projektweise Leiter der „Idsteiner Vokalisten“, die er bereits zu vielbeachteten Höhepunkten führte. Konzerte, Schallplatten- und Rundfunkaufnahmen, Vorträge und Veröffentlichungen (u. a. über Ethik und Musikauffassung Albert Schweitzers) im In- und Ausland (Europa, USA, Japan). 1982 – 1989 Katalogisierung des nachgelassenen Notenbestandes in Schweitzers Haus in Günsbach/Elsass, 1991 und 1992 die gleiche Arbeit an den von Schweitzer eingespielten Schallplatten. Er nimmt durch das jährlich seit 34 Jahren unter seiner Leitung stattfindende „Bach-Konzert“, der „Musikalischen Meditation zur Todesstunde Jesu“ am Karfreitag sowie der vor 29 Jahren von ihm begründeten „Abendmusik zum Weihnachtsmarkt“ einen bedeutenden Platz im Kulturleben der Stadt Kelsterbach und der ganzen Region ein.

Daneben erfreuen sich die 1990 begründeten „Torhauskonzerte“ sowie die jährlichen musikalischen Weinproben im Erbacher Hof, Nolls Wohnsitz in Wiesbaden-Nordenstadt, großer Beliebtheit (siehe auch www.erbacher-hof.de).

Bachkonzert am 31. Juli 2011

Dank der finanziellen Unterstützung der Stadt Kelsterbach ist auch in diesem Jahr wieder „große Kirchenmusik“ beim Bachkonzert möglich. Es ist das nunmehr 34. Konzert zu Johann Sebastian Bachs Todestag († 28.7.1750) und findet am Sonntag, dem 31. Juli 2011, um 20 Uhr in St. Martin Kelsterbach statt (seit seiner Begründung durch Rainer Noll im Jahre 1977 unter seiner Leitung).

Auf dem Programm stehen ausschließlich Werke von Johann Sebastian Bach. Neben dem Konzert in c-moll BWV 1060 für Oboe, Violine und Orchester erklingen diesmal drei sogenannte Dialog-Kantaten: „Ach Gott, wie manches Herzeleid“ BWV 58, „Tritt auf die Glaubensbahn“ BWV 152 und „Selig ist der Mann“ BWV 57. In allen drei Werken entfaltet sich ein Zwiegespräch zwischen der bedrängten Seele (Sopran) und dem tröstenden Jesus (Bass). Schließlich entbrennt die Seele in verzückter Jesusminne zu ihrem Geliebten, zu Jesus, der ihr Zuversicht und Trost spendet. Bachs Musik nimmt hier wie selten, inspiriert vom Text,  opernhaft-erotische Züge an. Sicher ist es die uns fremd gewordene barocke Sprache des 18. Jahrhunderts. Aber wer könnte schon der eröffnenden Aussage „Ach Gott, wie manches Herzeleid begegnet mir zu dieser Zeit!“ eine inhaltliche Aktualität absprechen? Mit den Worten „Nur Geduld, Geduld, mein Herze, es ist eine böse Zeit!“ richtet Jesus (Bass) die niedergedrückte Seele (Sopran) auf und verheißt uns allen „Nur getrost, getrost, ihr Herzen, hier ist Angst, dort Herrlichkeit!“.

Einmalig im Schaffen Bachs ist die Besetzung der Kantate „Tritt auf die Glaubensbahn“: das Instrumentalensemble besteht neben dem obligaten Continuo aus Blockflöte, Oboe, Viola d’amore und Viola da Gamba.

Im weitesten Sinne thematisieren auch diese Kantaten, wie schon die des Bach-Konzertes 2010, die Situation des Menschen, der sich inmitten von irdischer Not und Bedrängnis nach seligem Frieden, Erfüllung und himmlischer Freude durch Erlösung von Welt, Sünde und Tod sehnt. Sie gehören zur „ars moriendi“ („Sterbekunst“), die für den barocken Menschen immer zur rechten „ars vivendi“ („Lebenskunst“) als Kehrseite gehörte, während wir heute Endlichkeit und Ende eher verdrängen und einem Kult ewiger Jugendlichkeit huldigen. Anders bei Bach, der gerade in diesen Werken zu seiner innigsten und ergreifendsten Tonsprache findet. Und diese ist keineswegs düster und traurig, sondern heiter-verklärt.

Wieder konnten hervorragende Musiker gewonnen werden:

Birgit Völker (Graz), Sopran, Erik Frithjof (Augsburg), Bass, Mainisches Collegium Musicum mit Olaf Joksch (Offenbach), Orgelcontinuo. Leitung: Rainer Noll

 

Eintritt: 10  € im Vorverkauf,  12  € an der Abendkasse

 

Vorverkaufsstellen:   

Kelsterbach:

  • Schreibwaren Hardt, Marktstraße 3
  • A. Eckes, Café Maria, Mönchbruchstraße 45

Wiesbaden:

  • Musikalien Petroll, Marktplatz 5

35. Bach-Konzert in St. Martin – ein musikalisches Opfer

Die Kritik ist am 10.8.2012 in Kb. Aktuell erschienen

Rainer Noll 40 Jahre Kantor an St. Martin in Kelsterbach

Am Abend des 7. Mai im Jahre 1747 kam es in Potsdam zu einer denkwürdigen Begegnung. Der „alte Bach“ (62), wie er damals schon genannt wurde, traf den jungen Friedrich II. von Preußen (35), der selbst musizierte und komponierte. Er gab Bach ein Thema, über das dieser vor seinen versammelten Hofmusikern – die besten, die damals zu haben waren – eine dreistimmige Fuge improvisierte. Um zu sehen, wie weit er das Spiel treiben könnte, wünschte Friedrich nun eine sechsstimmige Fuge – und da musste selbst ein Bach passen, hatte er doch noch nie ein solche Fuge für Cembalo auch nur geschrieben. Der König hatte Bach aufs Glatteis geführt und ihm eine Niederlage verpasst, wie er sie noch nie erlebt hatte. Bach revanchierte sich, indem er gleich nach seiner Rückkehr nach Leipzig das „königliche Thema“ nach allen Regeln seiner kontrapunktischen Kunst ausarbeitete (einschließlich der sechsstimmigen Fuge), eine versteckte Botschaft einarbeitete und dem König als „Musicalisches Opfer“ widmete.

Was dabei herauskam, konnte man im 35. Bach-Konzert in St. Martin in Kelsterbach hören, und zwar in atemberaubend makelloser Interpretation der namhaften Solisten des „Main-Barockorchesters Frankfurt“: Jörg Halubek (Professor in Linz und Stuttgart) am prächtigen Barock-Cembalo, Hans-Joachim Fuss – Traversflöte, Martin Jopp und Konstanze Winkelmann – Violine, und Christian Zincke – Viola da Gamba. Sie alle sind Mitglieder weiterer renommierter Barockensembles und musizierten auf gleich hohem Niveau, das kaum zu überbieten ist.

Eröffnet wurde das Konzert mit der Sonate e-moll für Traversflöte und Basso continuo von Friedrich II. als königliche Begrüßung (eine der über 120, die der König komponierte), und moderiert wurde es von Kantor Rainer Noll, der auch ein musikalisches Opfer brachte, indem er erstmals auf das Selbermusizieren verzichtete. Aber seine mehr als nur amüsanten Erläuterungen standen dem Niveau der Interpreten in nichts nach und zeigten eine universelle Bildung und verblüffende Beherrschung der Materie nach allen Seiten: sprachlich, historisch, musikalisch und menschlich. Noll stellte das selten als Ganzes zu hörende „Musicalische Opfer“ in die Handlung der Begegnung in Potsdam und vor den Hintergrund der damaligen Zeit, in der Bach bereits als veraltet und „Auslaufmodell“ galt. Er verstand es bravourös, die Spannung zwischen den Einzelteilen des Werkes noch zu steigern, während ohne solche Moderation diese äußerst anspruchvolle Musik dem Hörer fremd und schwer zugänglich bleibt. So erlebten die zahlreichen, wieder zum Teil von weit angereisten Besucher den Abend der Begegnung am 7. Mai 1747 in Potsdam quasi als Zeitzeugen in Kelsterbach.

Mit diesem einmaligen Konzert feierte Rainer Noll zugleich seine vierzigjährige Tätigkeit als Kantor an St. Martin in Kelsterbach (bei bereits insgesamt 44 Dienstjahren als Kirchenmusiker) – ein seltenes Jubiläum! Ansprachen von Dekan Kurt Hohmann, Bürgermeister Manfred Ockel, Stadtrat Ernst Freese, Musikausschussvorsitzender Christel van Verre und Dr. Ute Ritz-Müller für den Kirchenvorstand ehrten den Jubilar bei einem anschließenden Empfang in der Kirche. Dabei bot sich auch die Bedeutung der Zahl 40 in der Bibel für Anspielungen an: das Volk Israel zog z.B. nach der ägyptischen Knechtschaft 40 Jahre lang durch die Wüste, worauf Noll ergänzte, dass es dann aber im Gegensatz zu ihm im „gelobten Land“ angekommen sei.