Improvisation über ein aktuelles Thema
Ein Essay von Rainer Noll
Das Grundgesetz der BRD beginnt mit den Worten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Letztens hörte ich den Satz:
Der Mensch hat diese Würde aus sich heraus.
Das konnte ich nicht so stehenlassen. Was hat denn „der Mensch“ schon „aus sich heraus“? Ohne diese „Würde“ ist er nicht mehr als ein intelligentes Tier. Hat er sie „aus sich heraus“ – oder was gibt ihm eigentlich diese Würde? Diese im Grundgesetz verankerte Würde geht doch wesentlich auf unsere jüdisch-christliche Tradition zurück, auch wenn dies von Atheisten geleugnet werden mag und mancher sie eher von Kant abgeleitet sieht (aber steht Kant nicht selbst schon in dieser Tradition?). Es ist doch diese Metapher der Gottesebenbildlichkeit in der alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte und der damit gegebenen Gotteskindschaft, die allen Menschen erst diese Würde einpflanzt – von selbst hätten wir sie nicht. Niemand, auch der Atheist nicht, verdankt sich sich selbst: wir alle sind Geschaffene und damit Geschöpfe aus einem unergründlichen gemeinsamen Urgrund (egal wie man den nennt). Wir wurden nicht gefragt und haben nichts dazugetan, als wir ins Leben traten, und wir werden auch nicht gefragt, wenn wir dieses wieder verlassen müssen. Alles, was wir haben, haben wir empfangen, wirklich alles, und deshalb betont Paulus immer wieder, dass wir uns nichts rühmen können außer dessen, von dem wir empfangen haben – auch unsere Würde. Luthers letzte Worte sollen ja gewesen sein: „Wir sind Bettler, das ist wahr“ – Habenichtse!
Schon bei Jeremia 9,23 lesen wir: „So spricht Jahwe: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, und der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, noch rühme sich ein Reicher seines Reichtums,“ … noch ein Schöner seiner Schönheit, ein Intelligenter seiner Intelligenz usw. Die Begabungen haben wir empfangen, sie sind uns unverdient gegeben als Gaben, Geschenke, ohne die wir mit leeren Händen dastünden. Das Leben selbst, dessen Teil wir ohne unser Zutun sind, ist uns das größte Rätsel. Unsere Verantwortung ist es, daraus zu machen, was wir sein wollen, sein sollen und letztlich sind! Selbst das gelingt uns nicht allein: zum Ich-Werden brauchen wir das Du (Karl Jaspers: „Wahrheit beginnt zu zweit“). Augustinus drückt dies sehr schön aus: „Wir müssen unseren Nächsten lieben, entweder weil er gut ist oder damit er gut werde.“ Wir sind durch und durch bedingte, eben nicht absolute Wesen, die rundherum von Bedingungen abhängen.
Ohne alles empfangen zu haben, könnten wir auch nicht daraus machen, was wir werden und sind – dies sollte uns bewahren vor der Hybris des Stolzes auf unsere Leistungen, deren Voraussetzungen wir so gerne vergessen. Würde aber können wir weder machen, noch haben wir sie aus uns heraus, sondern nur, weil wir sie als „Ebenbilder“ und Kinder Gottes empfangen haben: die Würde eint uns in Demut als Geschwister, die sich nicht sich selbst verdanken (und wenigstens letzteres können sogar Atheisten nicht leugnen).
Psalm 8, 4+5: “ … 4 was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschenkind, dass du sich seiner annimmst? 5 Du hast ihn wenig niedriger gemacht denn Gott, und mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt.“ Eben „Mit Würd und Hoheit angetan“, wie es in Haydns „Schöpfung gesungen wird.
Aber schon Blaise Pascal warnte: „L’homme n’est ni ange ni bête, et le malheur veut que qui veut faire l’ange fait la bête.“ (Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will, dass, wer ihn zum Engel machen will, ihn zur Bestie macht).
Natürlich muss Menschenwürde unabhängig von ihrer Herkunft allgemein gefordert werden (im Kantschen Sinn) – und dennoch verdankt sich diese Forderung letztlich dem jüdisch-christlichen Erbe. Auch wenn sie davon entkoppelt auftritt und dieser Ursprung abgelehnt wird: diese alttestamentliche Ursprungs-Metapher hat sich zum Wohl aller Menschen verselbstständigt, sie wurde wirk- und geschichtsmächtig in dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Doch wie sieht es z.B. im Krieg aus? Da gelten offenbar andere Regeln: Kriegsrecht – also ein anderes Recht im Krieg als im Frieden (das kommt mir so vor wie die Unterscheidung von Moral und Sexualmoral: mir genügt schlicht Moral als Umfassendes auch im Sexuellen!). Zivilisten sollen beschützt werden und behalten ihre „Würde“. Doch ist jemand in irgend einer Weise am Kriegsgeschehen beteiligt, wird er zum Kombattanten und verliert sie: der Kombattant ist zum Abschuss freigegeben und zum Abschießen gegnerischer Kombattanten verpflichtet – Getötetwerden gereicht zur Helden-Ehre und Töten wird zur Helden-Tat! Im Kriegsfall wird dies wie selbstverständlich hingenommen als alte Regel im Kriegsspiel, als sei das alternativlos – seit Menschengedenken. Krieg sozusagen als Naturgewalt, die ihren eigenen unumstößlichen Gesetzen folgt wie Naturgesetzen.
Nochmals Kästner (aus „Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag“, 1930):
Die Menschen wurden nicht gescheit.
Am wenigsten die Christenheit,
trotz allem Händefalten.
Hier wird nicht nur die Menschenwürde verletzt, sondern es ist auch ein Angriff auf Gottes „Ebenbilder“ und damit indirekt auf Gott selbst. Und diese „Ebenbilder“ selbst wenden sich hier in der ihnen zugestandenen Freiheit gegen Gottes Schöpferwillen mit Liebe als Vollendung: Sünde. Dafür ist nicht Gott verantwortlich zu machen, sondern der Mensch in seiner gottgegebenen Freiheit (Ruth Lapide fragt: „Nicht: wo war Gott in Auschwitz, sondern: wo war der Mensch?“). Spitzfindig könnte man natürlich sagen, Gott sei letztendlich doch dafür verantwortlich, denn hätte er ihm diese Freiheit nicht gegeben, dann gäbe es dieses „laissez-faire“ nicht. Aber dann wäre der Mensch für Gott kein Gegenüber (Ebenbild), sondern nur ein programmierter „Spielzeugautomat“ ohne Freiheit, ohne Verantwortung und auch ohne Würde.
Deshalb ist Krieg nicht durch seine menschlichen Spielregeln entschuldigt oder gerechtfertigt, sondern muss grundsätzlich geächtet werden als Kapitalverbrechen. Der Begriff „Kriegsverbrechen“ dient nur dem Schönreden des Verbrechens des Kriegs als Ganzem. So nötig Kriegsverbrecherprozesse sind, so sind sie doch nur ein Trostpflaster der Hoffnung, dass in dem grundsätzlich Grausamen und Ungerechten doch noch ein Funke Gerechtigkeit zu finden sei.
Waffen: Sie dienen nur einem Zweck (ob im Angriff oder der Verteidigung): möglichst andere zu töten oder deren Eigentum zu zerstören! Das darf keine Sekunde vergessen werden! Dies wird aber bei aller ständigen kriegstreiberischen Rhetorik verschleiert: es wird darüber debattiert, als sei das Ganze ein Videospiel. Man ist stolz auf die Effektivität seiner Waffen und schlägt damit den Gegner wirkungsvoll zurück. Dass dabei unweigerlich Menschen getötet werden, gerät aus dem Blickfeld. Wenn Menschen leider schon getötet werden, ist es dann sinnvoll als Antwort noch mehr Menschen zu töten? Mehr Waffen = mehr Tote – natürlich für unsere „Werte“! Aber was sind das für Werte, wenn die Würde des Menschen (beidseitig durch Kriegsrecht sanktioniert!) außer Kraft gesetzt wird? Auf einmal ist der Mensch nur noch „Kanonenfutter“, das verheizt werden darf. Öfter heißt es: „Dieser Krieg kann nur auf dem Schlachtfeld entschieden werden.“ Man mache sich einmal klar, was das heißt: ein Feld, auf dem „geschlachtet“ wird – wer? – Menschen, die sich gegenseitig abschlachten! Welche Werte und Ziele sind zur Rechtfertigung dafür hoch genug? Fragen über Fragen und kaum befriedigende Antworten …
Da ist es leicht (fast wie eine Entschuldigung) zu sagen, ein Krieg sei immer ein moralischer Bankrott – natürlich! Und dann heißt es, wie froh wir doch sind, dass die Alliierten Hitlerdeutschland besiegt haben. Ob deren Moral oder ihre wirtschaftlichen Interessen dabei größer waren, lasse ich einmal dahingestellt sein.
Ja, dann hätten wir „Adolf den Größten“ bekommen, der aber sicher bald an innerem Widerstand zerbrochen wäre – wenn nicht, hätte das deutsche Volk nichts anderes verdient. Hitler allerdings formulierte das umgekehrt so: Wenn das deutsche Volk nicht siegt, dann sei es nicht mehr wert, als mit ihm unterzugehen.
Aber waren die Millionen Tote das alles wert?
Man sehe sich auch einmal Hitlers Krankenakte an: von Dr. Morell (sein Leibarzt 1936-45) vollgepumpt mit Medikamenten, tägliche Spritzen, Beruhigungs- und Aufputschmittel zugleich, beginnender Parkinson und vieles mehr – ein menschliches Wrack. Lange hätte der es nicht mehr gemacht.
Und Putin? Auch hier ist zu hoffen, dass dieses Regime bald zusammenbricht, von innen, so oder so. Doch schon höre ich Stimmen, ein toter Putin sei gefährlicher als ein lebender. Das kann ich nicht beurteilen.
Egal wie lange Putin sein böses Spiel noch treibt: mit Sicherheit gibt es Russland auch noch nach Putin. Jetzt, in dieser Kriegssituation, soll Russland so geschwächt werden, dass es praktisch keine Rolle mehr spielen kann. Nie wieder Handel mit Russland heißt es vollmundig, selbst wenn nur Abhängigkeit gemeint ist! Alles Russische wird z.Z. in der westlichen Welt boykottiert und diffamiert: Musiker wie Schriftsteller aller Zeiten (bei Völkerrechtsverletzungen der USA hörte man nichts von solchen Boykotten). Das läuft auf eine Demütigung Russlands (eine Kulturnation wie Deutschland) hinaus, vor der Macron warnt – und er wird dafür als „Putin-Versteher“ beschimpft (für Russland zu sein ist eben nicht gleich für Putin zu sein!). Hier wäre mehr Weitblick angebracht.
Ist Putins Handeln nicht schon jetzt aus einem Gefühl der Demütigung, einem Minderwertigkeitskomlex zu verstehen, das ihn Macht und Stärke demonstrieren lässt? Ronald Reagan nannte Russland „die Achse des Bösen“ – Barack Obama gestand Russland nur noch den Status einer „Regionalmacht“ zu. Der Verlust einiger Territorien aus dem Gravitationsfeld der ehemaligen Sowjetunion kommt Purin wie eine Amputation vor. All dies entschuldigt nicht Putins Aggressionskrieg. Dies soll deshalb bei weitem keine Rechtfertigung sein, aber vielleicht eine Erklärung.
Der Versailler Vertrag nach dem 1. Weltkrieg war eine solche Demütigung für Deutschland (obwohl dieser Krieg nicht direkt von Deutschland ausging). „Gewaltfrieden“ – „Dolchstoßlegende“ usw. Wir wissen heute, dass u.a. dies einem Hitler an die Macht verhalf, der Deutschland das verlorene und ersehnte Selbstwertgefühl zurückzugeben versprach – und diese Sehnsucht des gedemütigten Volkes ebenso geschickt wie skrupellos ausnutzte. Eine gedemütigte Nation ist eine größere Gefahr für die Zukunft als eine besiegte.
Im 2. Weltkrieg war schließlich Hitler-Deutschland der Aggressor: nun war es Hitler, dessen erstrebtes Selbstwertgefühl für Deutschland zum Größenwahn pervertiert war und der diesen Krieg der Welt aufgezwungen hat wie Putin derzeit den seinen. Und es war ja nicht nur der Krieg, der Deutschland verachtungswürdig machte: dazu kam der Holocaust mit Millionen unschuldiger Juden, Sinti, Roma, Behinderten und Homosexuellen!
Man stelle sich einmal vor, Deutschland wäre nach all diesen Verbrechen ebenso kaltgestellt und von der Völkergemeinschaft gedemütigt und ausgeschlossen worden (mit besten Gründen!), wie einige es jetzt mit Russland vorhaben! Es wäre quasi ausgelöscht worden – und dies nicht ganz zu unrecht. Doch damals war die Weltgemeinschaft klüger als nach dem 1. Krieg: man half dem abgrundtief gefallenen Land zunächst wirtschaftlich auf die Beine, verordnete die Demokratie und nahm es wieder in die Völkergemeinschaft auf. Von deutschem Boden sollte nie wieder Krieg ausgehen – erreicht nicht durch Demütigung, sondern durch Aufbau, Stärkung und Bündnisse!
Zum Schluss ein Real-Gleichnis:
Täglich sterben in der Ukraine angeblich zw. 50 und 100 Ukrainer durch die Kriegshandlungen (es dürften weit mehr sein, von den Russen ganz zu schweigen).
Gleichzeitig werden in den USA täglich ca. 120 Menschen durch private Waffen getötet.
Durch Amokläufe in Schulen – wie gerade wieder – kommen dort weitere Menschen ums Leben.
Die Republikaner (und hinter ihnen die Waffenlobby) lehnen Gesetzesänderungen zu Waffen ab, da in der amerikanischen Verfassung das Recht der Bürger auf Selbstverteidigung (wie für Staaten heute) festgeschrieben ist (obwohl sich die Waffen seit der Formulierung 1787/88 verändert haben). Gerade sie fordern: nicht weniger, sondern mehr Waffen, um solche Attentate zu verhindern – wie in der Politik: aufrüsten, um durch Waffen Frieden zu schaffen. Trump wollte in diesem Zusammenhang schon früher die Bewaffnung des Lehrpersonals, damit sofort zurückgeballert werden kann. Wie der jüngste Amoklauf wieder zeigte, wären hier „einfache“ Waffen wie Pistolen fast wirkungslos gewesen. Da braucht es schon „schwerere“ Geschütze wie Schnellfeuerwaffen, also Maschinengewehre oder ähnliches. Um diese Waffen bedienen zu können, müsste das Lehrpersonal (und natürlich auch die Schüler, die „zur Sicherheit“ auch bewaffnet werden sollen) militärisch ausgebildet werden, sonst nützen ihnen die hochtechnisierten Waffen nichts. Das kostet Geld und vor allem Energie und kostbare Lebenszeit einer ganzen Nation als Waffenträger. Nur um für einzelne, unvorhersehbare Überfälle gerüstet zu sein – ein hoher Preis an Lebensressourcen. Käme es dann zum Ernstfall, entstünde eine panikartige Massenschießerei, die garantiert noch mehr Opfer fordern würde als durch einen Angriff allein. Man stelle sich dieses Szenario einmal vor: eine ganze (in diesem Fall zivile) Nation waffenstarrend, um eventuelle Morde durch Waffen zu verhindern! Das Ergebnis wäre eine heillose Aufrüstungsspirale – dazu nicht nur flächendeckend nutzlos, sondern brandgefährlicher als einzelne Morde. Wollen wir diese „schöne neue Welt“?
Dies sehe ich als ein in vielerlei Hinsicht hinkendes, aber dennoch erhellendes Gleichnis im Kleinen für die politische Weltlage im Großen und die Absurdität einer Aufrüstungsspirale.
Braucht die Welt ihre ohnehin beschränkten Ressourcen aller Art nicht für dringlichere Probleme?
Schlusswort von Carl Friedrich von Weizsäcker:
Das Ideal misst man vielleicht am besten an den Opfern, die es verlangt.
Und hier noch als Ergänzung meine Osterbotschaft 2022
(auch, wenn Überschneidungen mit dem vorherigen Text unvermeidbar sind):
Ein paar aktuelle Gedanken am höchsten Fest der Christenheit seien mir erlaubt – weil’s Ostern ist:
1) Nichts scheint uns dringlicher als die Bitte um Frieden – sie erklingt durch alle Jahrhunderte (auch in der Musik), vor 2000 Jahren verkündigten die Engel über dem Stall von Bethlehem „… Frieden auf Erden den Menschen guten Willens“ (… pax hominibus bonae voluntatis). Leider sind nicht alle Menschen „guten Willens“. Wird doch die ganze Geschichte der Menschheit immer wieder als Abfolge von Kriegen dargestellt, fast immer gilt das Recht des Stärkeren, und die „Helden“ der Geschichte sind Mörder oder Massenmörder. Die „Friedensmacher“, die in der Bergpredigt selig gepriesen werden, bleiben im Schatten oder werden verurteilt (siehe die Tafel in der Frankfurter Basaltstraße).
Den „Sanftmütigen“ scheint das Erdreich nicht zu gehören: wer siegt hat recht und bekommt oft noch den Beinamen „… der Große“ dazu – nicht auszudenken, wenn Hitler gesiegt hätte! Er hätte sich wohl selbst „… der Größte“ genannt (einige nannten ihn schon damals spottend „Gröfaz“ = „größter Feldherr aller Zeiten“).
2) Und damit komme ich zum 2. Punkt: Beten – fast das einzige, was man in letzter Hilflosigkeit tun kann. Allerorten wird gegenwärtig in den Gottesdiensten gebetet – für den Frieden, aber auch für die Ukrainer. Ihnen gehört zu recht unser ganzes Mitleid und unsere Hilfe. Aber absolut nirgendwo höre ich beten für die Russen, die als (oft unfreiwillige!) Täter oder Opfer in diesem Krieg sterben (mehr Waffen heißt mehr Töten – auch wenn dies angeblich zum Frieden führen soll). Das ist einseitig, eigentlich unchristlich und nahe dran an „Gott mit uns“ (wie es im 1. Weltkrieg auf den Koppelschlössern der Soldaten stand) und gegen die bösen anderen. Christen ist ja nach der Nächstenliebe sogar die Feindesliebe aufgegeben: eine übermenschliche Forderung – anders sein als die Welt, und damit ihr „Salz“! So weit müssen wir gar nicht gehen, aber auch für sie beten ist das Mindeste, was getan werden kann (Jesus tat es am Kreuz für seine Möder): auch die Aggressoren sind Menschen, auf beiden Seiten kämpfen und töten Menschen, denen von der Gegenseite die Menschenwürde abgesprochen wird (die sie oft auch selbst verspielt haben), und deshalb, ja nur deshalb dürfen, ja müssen sie wie Vieh abgeknallt werden. Menschen (religiös gesprochen: Kinder Gottes – also Geschwister!), denen unser Beten, Bitten und Fürbitten gelten sollte (unabhängig von deren Wirksamkeit): Gott sei ihrer Seele gnädig. Ja, auch beten für Putin (und mag es nur symbolisch sein): dass dieser Verbrecher zur Vernunft kommen möge oder zur Rechenschaft gezogen wird. Heißt es nicht in den Evangelien, nicht die Gesunden, sondern gerade die Kranken bedürften des Arztes? Sind das alles nur schöne Worte, die den erodierende dünnen Lack für unsere Zivilisation abgeben?
In einem Midrasch aus dem Talmud (Megilla 10b) lesen wir zum Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft durchs Rote Meer (kommt nicht von rot, sondern von Reed = Schilf, wurde zu red = rot verkürzt):
„In dem Augenblick, als die Ägypter im Schilfmeer ertranken, wollten die Engel Gott Lobpreis singen. Doch Gott schalt sie und sagte:‚Meine Kinder ertrinken im Meer und ihr wollt singen?!’“
Zu der Ägypten-Erzählung passt genau das wunderbare Wort im chinesischen Weisheitsbuch „Daodejing“ aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert (fälschlich dem wohl im 6. Jahrhundert v. Chr. lebenden Laotse zugeschrieben): „Wer im Kampf gesiegt, der soll stehen wie bei einer Trauerfeier.“
Trotz all der schönen Worte, jahrhundertealt: „Die Menschen wurden nicht gescheit …“
3) „Nie wieder …“, hieß es nach dem letzten, von Deutschland ausgehenden Weltkrieg in der neuen Demokratie (zusammen mit „Wehret den Anfängen!“). Aus diesem völlig überzogen interpretierten „Nie wieder“ wollen nun ukrainische Politiker einen Wortbruch ableiten und Waffenlieferungen erpressen. Natürlich müssen wir der Ukraine in dieser Not beistehen, wo es geht – aber sicher nicht so, dass wir einen dritten Weltkrieg riskieren. Sich in diesem Fall auf dieses „Nie wieder“ für Waffenlieferungen zu berufen, ist hier der falsche Hebel: Wir müssen das Wort vollständig hören: „Nie wieder … auf und von deutschem Boden aus„. Deutschland kann nicht für die Verbrechen aller Schurken in dieser Welt haftbar gemacht werden, höchstens für die eigenen.
Mit solchen Sätzen ist es wie mit dem vermeintlich von Bert Brecht stammenden Satz: „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.“
Jemand hat ihn ergänzt: „Dann kommt der Krieg zu Euch!“
Es gibt keine einfachen Schwarz-Weiß-Lösungen, allerdings auch keine blau-gelben.