„Musicalisches Opfer“ BWV 1079 –
Vortrag zum jährlichen, 35. Bachkonzert
zu Bachs Todestag (28.7.) am 29.7.2012 in St. Martin Kelsterbach
mit Solisten des „Main-Barock-Orchesters“
von Rainer Noll
… während des Konzertes …
Friedrich II. von Preußen (1712 – 1786)
Sonate e-moll für Traversflöte und Basso continuo
Grave – Allegro assai – Presto
Meine sehr verehrten Damen und Herren, von dieser galanten Musik wurden Sie soeben hier begrüßt, und ich begrüße hier im Gegenzug ganz herzlich die Solisten des heutigen Abends. –
Es war ein wahrhaft königlicher Gruß, denn kein Geringerer als Preußens König Friedrich II. hat diese Musik komponiert. Ich denke, man muss lange suchen, einen König zu finden, der neben seinen Regierungsgeschäften – und denen widmete er sich akribisch! – persönlich als Flötist mit seinem Orchester musizierte und darüber hinaus noch über 120 solcher Sonaten zu Papier gebracht hat, dazu noch 4 Flötenkonzerte mit Orchester. Um dies alles zu schaffen, stand er um 4 Uhr auf und ging um Mitternacht zu Bett. Welch eine Begabung! Ein wahrer Musensohn … denkt man.
Ein wenig Zeit müssen wir uns noch für ihn nehmen, denn wir feiern einen runden Geburtstag.
Hier möchte ich ein persönliches Wort einfügen zu meiner Beschäftigung mit Friedrich II.. Auf dem Dachboden unseres Hauses (eines Bauernhauses!) fand ich mehrere Bücher, die mich schon mit 11, 12 Jahren faszinierten. Darunter war das Buch von Friedrich dem Großen „Seine sämmtlichen Werke in einer Auswahl des Geistvollsten“, Stuttgart, Originalausgabe von 1835, die ich hier mitgebracht habe. Irgendjemand meiner Vorfahren hatte es durchgearbeitet und mit roter Tinte Anstreichungen gemacht. Ich habe es sogleich eingebunden, wie man damals Schulbücher einzubinden pflegte, und las begeistert darin. Und nachdem wir in der Schule das Kunstschreiben (Kaligraphie) in Frakturschrift mit Feder und Tusche erlernt hatten und gerade der Lateinunterricht begonnen hatte, schrieb ich eigenhändig auf den Einband den Titel, natürlich in Latein, weil mir das der Würde des Buches angemessen erschien: „Omnia opera Friderici Magni regis Preußeniensis“. Sie werden es kaum glauben, mein Lateinlehrer sitzt jetzt hier im Publikum, und er möge mir eventuelle Fehler in dieser frühesten Anwendung dieser Sprache verzeihen.
300 Jahre ist es her, dass Friedrich am 24. Januar 1712 in Berlin geboren wurde. 32 Neuveröffentlichungen löste dieses Jubiläum im Jahr 2012 aus. Kaum eine historische Persönlichkeit wird so kontrovers diskutiert. Es scheint, als habe er alle nur denkbaren Gegensätze in sich vereint. Er war Schöngeist und Draufgänger, feinsinnig und grob, Dichter und Feldherr, Gerechter und Rechtsbrecher, Musiker, Philosoph, vernunftgeleiteter Freigeist und launischer Misanthrop, Aufklärer und Despot nach dem Motto: „Räsoniert so viel Ihr wollt – aber gehorcht!“ Alles ganz, wie es ihm in den Kram passte. Und böse Zungen behaupten gar (allen voran Voltaire): er war Mann — und Frau.
Sein Vater, der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I., liebte außer Bier und Wein stattliche junge Männer über alles: „Gardemaß“ mussten sie haben, d.h. über 1,88 m groß sein. Er ließ sie sogar illegal in ganz Europa jagen und fangen, um sie in die Spezialgarde seiner „langen Kerls“ zu stecken. Hinter dieser militärischen Institution, die ein einziges Mal in einen kriegerischen Einsatz kam und ansonsten fast wehruntauglich war, konnte er seine heimliche Neigung verstecken. Und für sie gab dieser ansonsten notorische Geizhals Unsummen aus. Wenn ihn die Schwermut überfiel, wirkte eine Parade von ein paar hundert „Langen Kerls“ wie ein zuverlässiges Stärkungsmittel.
Es waren wohl diese verdrängten Neigungen, die er in seinem Sohn Friedrich so heftig bekämpfte. Ein anderer Sohn, Prinz Heinrich, lebte sie offen aus. Doch dem Kronprinzen Friedrich wollte er seine „effeminierten“ (d.h. französischen, verweichlichten, um nicht zu sagen verweiblichten) Vorlieben austreiben, wozu z.B. das Bücherlesen und vor allem das unnütze Flötenspielen gehörten. Friedrich hatte es heimlich erlernt (einmal musste sich sein Flötenlehrer Johann Joachim Quantz in einem Schrank vor dem tobenden Vater verstecken). Zum Musizieren hielt er sich schon vor der Thronbesteigung eine eigene Kapelle, die er mit geliehenen ausländischen Geldern bezahlte (die er später allerdings wider Erwarten der Gläubiger auf Heller und Pfennig zurückzahlte). Dem militärischen Drill seines Vaters war er dagegen ganz abgeneigt.
Doch 1740 kaum auf den Thron gekommen, marschierte er noch im Winter desselben Jahres ohne Vorwarnung und ohne Kriegserklärung mit seiner Armee in das österreichische Schlesien ein. 1740 – 45 führte er die zwei Schlesischen Kriege, und 1756 – 63 den Siebenjährigen Krieg, die Hunderttausende seiner Soldaten und Teile der Bevölkerung das Leben kosteten. Auch Sachsen war besetzt, auch Bach erinnert sich noch 1748 an die Zeit, „da wir leider! die Preußische Invasion hatten“. Mit der Mottete „Singet dem Herrn ein neues Lied“ gab er seiner Freude über den Abzug der Truppen Ende 1745 unverhohlen Ausdruck. Widerrechtlich, d.h. mit dem Recht des frech die Gunst der Stunde nutzenden Überlegenen verleibte Friedrich sich Schlesien ein und erhielt gleich nach seinen Erfolgen als Feldherr den Beinamen „der Große“ – nicht etwa für seine humanitären Reformen, wie z.B. die stufenweise Abschaffung der Folter. Später rechtfertigt er sich mit seiner Jugend, der Leidenschaft, der Ruhmsucht: „Die Genugtuung, meinen Namen in den Zeitungen und einmal in der Geschichte zu finden, hat mich verführt.“ Selten sind es Geistesgrößen, die „groß“ genannt werden, wie etwa Albertus Magnus. „Groß“ nennt die Geschichte meist militärisch Erfolgreiche, wie Alexander den Großen, der Friedrich ein Vorbild war – wie dieser kämpfte er selbst mit an vorderster Front und feuerte seine Soldaten an. Und allein ihr Erfolg wandelt Unrecht in vermeintliches, aber anerkanntes Recht. Erfolg rechtfertigt fast alles, und die Masse folgt, solange ihr ein Vorteil winkt!
Friedrich war einem anderen selbsternannten „größten Feldherrn aller Zeiten“ (deshalb hinter vorgehaltener Hand „Gröfaz“ genannt) ein Vorbild, sein Porträt hing über seinem Schreibtisch, und auch er hatte ohne Kriegserklärung ein Land überfallen – Polen –: es war – – – Adolf Hitler. Nicht auszudenken, wenn er den damit ausgelösten 2. Weltkrieg gewonnen hätte – hier waren es bereits Millionen, die ihr Leben lassen mussten – dank des enormen „Fortschritts“ der Technik der Kriegsführung, die das möglich machte! Hätte er, dieser „Gröfaz“, gewonnen, hätte man ihn dann womöglich auch … „den Großen“ genannt?
Doch nach dieser Ausweichung in die Weltgeschichte moduliere ich etwas gewaltsam zurück zur Musik.
An Voltaire, den er später an seinen Hof in Potsdam holte, schrieb Friedrich: „In der Musik wollen wir also beim Ausdruck der Empfindungen der Seele bleiben.“ (Friedrich der Große: „Seine sämmtlichen Werke in einer Auswahl des Geistvollsten“, Stuttgart, 1835, S. 472) Und damit beschreibt er genau die neue Zeit, die damals anbrach und der er angehörte, wie auch die Söhne Bachs: das Zeitalter der Empfindsamkeit. Man hatte die „Schwülstigkeit“ des alten, komplizierten Kontrapunktes satt, den man als „verworren“ empfand. Das „Natürliche“ wurde gegen das „Künstliche“ ausgespielt. Man suchte die Einfachheit der schönen Melodie mit Begleitung, das Galante, das Anrührende. „Edle Einfalt, stille Größe“ sind das Ideal, wie der Zeitgenosse Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768) sie den antiken Kunstwerken zuschreibt.
Überdeutlich wird dies an der Kritik von Bachs Hauptgegner Johann Adolf Scheibe (1708 – 1776): „Dieser große Mann würde die Bewunderung ganzer Nationen sein, wenn er mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzu große Kunst verdunkelte.“ (zit. nach James R. Gaines: „Das Musikalische Opfer“, Frankfurt am Main, 2008, S. 221)
Vor allem: man wollte „gefallen“, die Musik sollte „gefällig“ sein und ankommen beim Publikum. Johann Mattheson (1681 – 1764), Komponist und Musikschriftsteller in Hamburg und ein zeitgenössischer Kritiker Bachs, gibt davon beredtes Zeugnis: „Inzwischen sollten wir doch nicht unserm Sinn, sondern der Zuhörer ihrem folgen. Oft habe ich ein Ding gesetzet, das mir gar gering vorgekommen und dennoch über Vermuten zu großen Gnaden gelanget ist. Das habe ich mir hinter ein Ohr geschrieben und dergleichen mehr gemacht, ob es schon, nach der Kunst zu urteilen, wenig Ansehen hatte.“ (a.a.O., S. 260) Und Mattheson weiter zu seinen Schülern: „Mache dir nur nach allem Federkauen und saurem Fleiß keine Rechnung, dass dir die Mühe belohnt werde. Unter 2000 Zuhörern wird kaum einer sein, der die Finesse merke, er wäre denn vorher gewarnet worden.“ (a.a.O., S. 148) Was ich hier gerade tue? Ich will Sie „warnen“! Klingen Matthesons Worte nicht wieder ganz modern, fast wie das Programm der vor allem kommerzialisierten (ich wiederhole: kommerzialisierten!), floppig-poppigen Musikindustrie unserer Tage, die nach Einschaltquoten und Kasse statt nach künstlerischer Qualität gemessen wird und deren „Songs“ sich auch die Kirche wie ein trojanisches Pferd in die Kirchenmauern holt?
Für Bach war eine Gesinnung wie die eines Mattheson nur übelstes Banausentum, ja musikalische Gotteslästerung. Heute wie damals ist genau hier die Bruchstelle zur Haltung eines Bach, größer kann ein Gegensatz kaum sein. Er komponierte sozusagen bewusst am herrschenden Musikbetrieb seiner Zeit vorbei – salopp gesagt war er ein Auslaufmodell. Dies befreite ihn von jeglicher Rücksicht auf bloße äußerliche Publikumswirksamkeit.
Johann Nikolaus Forkel (1749 – 1818), Universitätsmusikdirektor in Göttingen, der noch mit den beiden Bach-Söhnen Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel in persönlichem Austausch stand, schrieb 1802 in der ersten Bach-Biographie: „(…) Beyfall der Menge suchte Bach nie. (…) Er arbeitete für sich, wie jedes wahre Kunstgenie; er erfüllte seinen eigenen Wunsch, befriedigte seinen eigenen Geschmack, wählte seine Gegenstände nach seiner eigenen Meinung, und war endlich auch mit seinem eigenen Beyfall am zufriedensten. (…). Er meynte, der Künstler könne wohl das Publicum, aber das Publicum nicht den Künstler bilden.“ (J. N. Forkel, „Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke“, Leipzig 1802, S. 124f)
Zudem war für ihn jede Musik, sofern sie gute Musik war, Lobpreis Gottes, auch die „weltliche“, die nicht für den Gottesdienst geschrieben war – also auch das „Musicalische Opfer“, in dem er uns allerdings besonders hohen Anspruch zumutet. Für Gott war ihm das Beste, das er bei allem demütigen Wissen um die eigene Unvollkommenheit hervorbringen konnte, gerade gut genug. Damit setzte er auch für seine Mitmenschen höchste und vom jeweiligen „Gebrauch“ der Musik unabhängige Maßstäbe: „Dem Höchsten Gott allein zu Ehren, / Dem Nechsten, draus sich zu belehren.“, heißt es in seinem Vorwort zum „Orgelbüchlein“. Er schuf in seiner Zeit doch nicht nur für seine Zeit, sondern immer auch zugleich sub specie aeternitatis (im Hinblick auf die Ewigkeit). Nicht eitles Perfektionsstreben bestimmte sein Bemühen um musikalische Vollkommenheit: Wie lebendigstes Wasser aus reinster Quelle, so floss Bachs höchster künstlerischer Anspruch aus tiefster Religiosität. Friedrich dagegen hatte ja bekanntlich mit Religion überhaupt nichts im Sinn.
Diese gerade dargelegten gegensätzlichsten musikalischen Weltanschauungen trafen an jenem denkwürdigen Abend des Jahres 1747 in Potsdam aufeinander: Bach bei Friedrich II.. Wie kam es dazu?
Hören wir wieder Forkel: „Der Ruf von der alles übertreffenden Kunst Johann Sebastians war zu dieser Zeit so verbreitet, dass auch der König sehr oft davon reden und rühmen hörte. Er wurde dadurch begierig, einen so großen Künstler selbst zu hören und kennen zu lernen.“ (a.a.O., S. 27) Mehrfach ließ er ihn laut Forkel über seinen Sohn Carl Philipp Emanuel, den Kammercembalisten des Königs, nach Potsdam bitten, bis er endlich einwilligte. Am Sonntag, dem 7. Mai, traf Bach in Begleitung seines ältesten Sohnes Wilhelm Friedemann, den er in Halle abgeholt hatte, in Berlin ein. Der König soll ihn laut Forkel sofort ins Schloss nach Potsdam beordert haben, so dass er nicht einmal die Zeit hatte, seine Reisekleidung gegen seinen schwarzen Kantorenrock zu tauschen. – Hatte er überhaupt schon etwas gegessen und getrunken? – Man bedenke: Bach war 62 Jahre alt (damals ein alter Mann, drei Jahre vor seinem Tod) und hatte eine mindestens zweitägige Kutschfahrt auf holprigen Straßen, womöglich mit schlechter, unruhiger Übernachtung, hinter sich. Forkel berichtet: „Eines Abends wurde ihm [dem König], als er eben seine Flöte zurecht machte, und seine Musiker schon versammelt waren, durch einen Offizier der geschriebene Rapport von angekommenen Fremden gebracht. Mit der Flöte in der Hand übersah er das Papier, drehte sich aber sogleich gegen die versammelten Capellisten und sagte mit einer Art von Unruhe: Meine Herren, der alte Bach ist gekommen! Die Flöte wurde hierauf weggelegt, und der alte Bach, der in der Wohnung seines Sohnes abgetreten war, sogleich auf das Schloß beordert. (…) der König gab für diesen Abend sein Flötenkonzert auf, nöthigte aber den damahls schon sogenannten alten Bach, seine in mehrern Zimmern des Schlosses herumstehende Silbermannische Fortepiano zu probiren. Die Capellisten gingen von Zimmer zu Zimmer mit, und Bach mußte überall probiren und fantasiren. Nachdem er einige Zeit probirt und fantasirt hatte, bat er sich vom König ein Fugenthema aus, um es sogleich ohne alle Vorbereitung auszuführen. Der König bewunderte die gelehrte Art, mit welcher sein Thema so aus dem Stegreif durchgeführt wurde (…).“ (a.a.O., S. 27ff)
Die damaligen Zeitungen berichteten in Berlin, Hamburg, Leipzig, Magdeburg und andernorts über diese Begegnung. Der „alte Bach“ war auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit.
Eure Majestät, wir bitten um das Thema:
Ein melancholisches Thema, das ihm Friedrich da vorspielte – es enthält alle schmerzlichen Elemente für eine Passionsmusik (für die Fachleute: saltus duriusculus = „harter Sprung“ in der fallenden verminderten Septime [Cembalo], passus duriusculus = „harter Gang“ in der abwärts schreitenden Chromatik [Cembalo] – bitte noch einmal das Thema im Zusammenhang:…).
Haben Sie das Thema erfasst und sich gemerkt? Mal ehrlich: könnten Sie es jetzt nachspielen oder singen? Nein? Verständlich, Sie sind natürlich vielleicht schon ein wenig erschöpft von meiner etwas längeren Einleitung. Aber der alte Bach war es auch von einer anstrengenden Reise, und er musste jetzt ohne alle Vorbereitung eine dreistimmige Fuge darüber improvisieren. Er nannte sie später „Ricercar“ (ich komme darauf zurück), und diese Fuge hat er für uns aufgeschrieben:
Ricercar a 3.
Lesen Sie einmal im heutigen Programmheft das Akrostichon über RICERCAR, das Bach auf Latein dem Werk voran gesetzt hat (er war ja auch mal Lateinlehrer an der Thomasschule!). Nie hat Bach eine seiner Fugen „Ricercar“ genannt, nur hier, und das hat seinen Grund. „Ricercar“ ist eine alte Bezeichnung für ein fugiertes Stück. „Ricercare“ heißt im Italienischen „suchen, erforschen“. Später schreibt er zu einem Kanon „Suchet, so werdet ihr finden“ [Querendo invenientis] (ein Wort aus der Bergpredigt). Es ist die subtile Aufforderung, nach den versteckten Künsten in seinem Werk zu suchen. Oder steckt hier gar eine geheime Botschaft für den König drin? –
Kanon und Fuge sind die strengsten Formen des der neuen Zeit verhassten Kontrapunkts, sind die Potenzierung des verabscheuten „Künstlichen“. Und ausgerechnet in diesen Formen präsentiert Bach seine Ausarbeitungen des königlichen Themas dem dieser neuen Zeit angehörenden Friedrich: ein Affront!
Jedermann wusste, dass Friedrich die deutsche Sprache verachtete, sie sei „für die Gäule“. Er schrieb und sprach Französisch. Ausgerechnet ihm verfasste Bach seine Widmung des „Musicalischen Opfers“ auf Deutsch, während er die „Brandenburgischen Konzerte“ dem Markgrafen von Brandenburg, wie bei Hofe üblich, auf Französisch dedizierte: ein weiterer Affront gegen Friedrich. Warum diese Ohrfeige? Wir werden noch sehen…
Einige Worte zu den Kanons, die wir gleich hören werden. Sie ranken sich eigentlich um das königliche Thema wie um einen Cantus firmus herum.
Zunächst allgemein. Das „Musicalische Opfer“ enthält insgesamt 10 Kanons. In der Zahlensymbolik der Bachzeit erinnert diese Zahl immer an die Zehn Gebote, und zwar doppelt, wenn es sich um Kanons handelt. Das Wort „Canon“ bedeutet ja selbst schon „Gesetz, Richtschnur“, und Bach gebraucht den Kanon immer symbolisch, wenn vom Gesetz oder der Nachfolge die Rede ist (eine Stimme folgt ja hier der anderen nach). Bach lebte und schuf in einem durch Maß und Zahl geordneten Kosmos. Er verweist mit diesen zehn Kanons den König auf die Zehn Gebote, und dass sie auch für ihn gelten.
Dann speziell. Dazu zitiere ich aus dem Buch „Das Musikalische Opfer“ von James R. Gaines, S. 277f: „Zwischen dem vierten und fünften Kanon finden sich zwei an den König gerichtete Epigramme. Der vierte Kanon ist ein Kanon in der Vergrößerung und der Gegenbewegung – per augmentationem, contrario motu – das heißt: die zweite Stimme spielt in der Gegenbewegung zur ersten, und dabei sind ihre Notenwerte verdoppelt. Der Sinnspruch lautet: »Wie die Noten wachsen, so wachse des Königs Glück.« [„Notulis crescentibus crescat Fortuna Regis.“] Den fünften Kanon nennt Douglas Hofstadter […] den ,endlos aufsteigenden Kanon’ [er moduliert ganztonweise aufwärts]. (…) Wenn man ihn sechsmal gespielt hat, ist man wieder an seinem tonalen Ausgangspunkt, nur eine Oktave höher, und ohne dass unterwegs der Eindruck entstanden wäre, er hätte die Ausgangstonart verlassen. Diesen Kanon begleitet der Sinnspruch: »Mit der aufsteigenden Modulation möge der Ruhm des Königs aufsteigen.« [„Ascendenteque Modulationae ascendat Gloria Regis.“] Wie der Musikwissenschaftler Eric Chafe als erster bemerkt hat, passen beide Sinnsprüche schlecht zu ihren jeweiligen Stücken – der vierte Kanon über das Glück des Königs ist von einer durchgängigen Melancholie geprägt, und der Zauber des fünften, angeblich vom steigenden Ruhm des Königs handelnden Kanon besteht darin, dass er gerade nicht aufzusteigen scheint.“ Gaines fasst die versteckte Botschaft so zusammen (S. 280): „Nimm dich in acht vor dem falschen Glück, Friedrich; verharre in Ehrfurcht vor einem Schicksal, das schrecklicher ist als alles, was die Welt an Schrecken aufzubieten vermag: suche den Ruhm jenseits des Ruhms, den diese verworfene Welt verleiht; und wisse, es gibt ein Gesetz, das über dem der Könige steht, das unwandelbar ist und nach dem auch du wie wir anderen allesamt gerichtet werden.“
Canon perpetuus super Thema Regium [ewiger Kanon über das königliche Thema]
(Violine, Flöte, Cembalo)
Canon 1. a 2 cancrizans [im Krebsgang] (Violine, Cembalo)
Canon 2. a 2 Violini in unisono [im Einklang] (2 Violinen, Viola da Gamba)
Canon 3. a 2 per Motum contrarium [in Gegenbewegung] (Flöte, 2 Violinen)
Canon 4. a 2 per Augmentationem, contrario Motu [in Vergrößerung und Gegenbewegung] (Violine, Cembalo)
Canon 5. a 2 per Tonos [modulierend] (2 Violinen, Cembalo)
Fuga canonica in Epidiapente [kanonische Fuge in der Oberquinte]
(Flöte, Violine, Viola da Gamba, Cembalo)
Wir sind nun wieder bei jenem denkwürdigen Maiabend in Potsdam. Im Stadtschloss übrigens, und nicht im Schloss Sanssouci, das gerade erst eine Woche zuvor eingeweiht worden und noch nicht ganz fertiggestellt war. Bach hatte mit Bravour eine dreistimmige Fuge über das königliche Thema improvisiert (wir hörten sie). Folgen wir wieder Forkels Bericht (S. 29): Der König „äußerte nun, vermuthlich um zu sehen, wie weit eine solche Kunst getrieben werden könne, den Wunsch, auch eine Fuge mit 6 obligaten Stimmen zu hören. Weil aber nicht jedes Thema zu einer solchen Vollstimmigkeit geeignet ist, so wählte sich Bach selbst eines dazu, und führte es sogleich zur größten Verwunderung aller Anwesenden auf eine eben so prachtvolle und gelehrte Art aus, wie er vorher mit dem Thema des Königs gethan hatte.“
Friedrich hatte Bach mit dem Wunsch nach einer sechsstimmigen Fuge über dieses Thema aufs Glatteis geführt, hier musste selbst ein Bach passen – eine Niederlage, wie er sie noch nie erlebt hatte (noch nie hatte er eine sechsstimmige Fuge für Cembalo auch nur geschrieben!). Douglas R. Hofstadter, Autor des Buches „Gödel, Escher, Bach”, vergleicht eine solche Leistung mit dem Spielen und Gewinnen von 64 simultanen Schachpartien.
Bach aber setzte seinen Ehrgeiz darein, das „königliche Thema“ nach allen Regeln seiner kontrapunktischen Kunst auszuarbeiten, die Friedrich eigentlich zuwider war – er hatte sie an seinem Hof sogar verboten. Sogar die sechsstimmige Fuge lieferte Bach nach, wie wir gleich hören werden. Die Widmung des Druckexemplars, das er an Friedrich schickte, trägt das Datum des 7. Juli 1747 und den Titel „Musicalisches Opfer“. Schmeichelhaft beginnt sie mit den Worten: „Allergnädigster König, Ew. Majestät weyhe hiermit in tiefster Unterthänigkeit ein Musicalisches Opfer, dessen edelster Theil von Deroselben hoher Hand selbst herrühret. Mit einem ehrfurchtsvollen Vergnügen erinnere ich mich annoch der ganz besondern Königlichen Gnade, da vor einiger Zeit, bey meiner Anwesenheit in Potsdam, Ew. Majestät selbst, ein Thema zu einer Fuge auf dem Clavier mir vorzuspielen geruheten, und zugleich allergnädigst auferlegten, solches alsobald in Deroselben höchster Gegenwart auszuführen.“ Dieses „Musicalische Opfer“ ist ein „Opfer“ im doppelten Wortsinn: Bach „weiht“ (nicht einfach „widmet“, wie man es in profanerer Sprache gesagt hatte), er weiht also dem König seine Musik und bringt sie dem areligiösen Monarchen dar wie ein religiöses Opfer, nachdem er selbst ein musikalisches Opfer dieses durchaus manchmal zynischen Königs geworden war. Dies ganze Werk ist seine subtile Revanche am König in musikalischer Form.
Das sechsstimmige Ricercar ist selbst in dieser anspruchsvollen Sammlung die schwierigste Kost, sowohl für den Spieler als auch für den Hörer. Albert Schweitzer urteilt darüber in seinem Bach-Buch (S. 368f): „Das sechsstimmige Ricercare ist das wohl satteste Fugengewebe, das je unter Bachs Hand entstanden ist. (…) Vom Standpunkt der Kompositionskunst aus betrachtet, steht dieses Werk einzig da. Die Inspiration und den poetischen Gehalt, die die Schönheit der Fugen des Wohltemperierten Klaviers ausmachen, sucht man aber vergebens darin. (…) Wir haben es mit einer Fuge zu tun, die aus jener letzten Schaffensperiode stammt, in der die kontrapunktische Technik für Bach zwar nicht Selbstzweck ist, aber doch so im Vordergrund steht, dass die rein musikalische, unmittelbare Erfindung notwendig zurücktritt.“ Zur Ehrenrettung sei nochmals Gaines zitiert (S. 272): „Aber dieses Stück erfordert jenes andere Hören, und so aufmerksam man ihm mit weit offenen oder ,weit geschlossenen’ Augen folgt – es bietet immer wieder neue Überraschungen. Ein prägnanteres, schöner gebautes Werk von eindringlicherer Kontrapunktik ist nie geschaffen worden – auch nicht von Bach selbst.“
Ricercar a 6 (Cembalo)
Quaerendo Invenietis [Suchet, so werdet ihr finden]: Canon a 2 (Cembalo)
Canon a 4 (2 Violinen, Cembalo zweistimmig)
Die Satzfolge der folgenden Triosonate entspricht dem viersätzigen Stil der sonata da chiesa, also der „Kirchensonate“ – und das für einen König, dem alles missfiel, was auch nur entfernt „nach der Kirche schmeckte“! Er hatte keine einzige Kirchensonate in seiner umfangreichen Musikbibliothek. Wieder ein Affront – ja, die ganze Sammlung ist trotz ihrer untertänigen Widmung ein einziger, äußerst subtiler Affront gegen Friedrich.
Dazu kommt die Tonart c-moll: sie bedeutet eine Herausforderung an technischer Schwierigkeit für den Flötisten – immer hin sollte der König ja selbst die Flöte spielen.
Eine anschauliche Deutung der Triosonate finden wir wieder bei Schweitzer, indem er sie einer Triosonate aus Bachs frühem Schaffen gegenüber stellt (S. 369): „Welch ein Unterschied zwischen beiden Werken! Das erste gehört der naiven, einzig auf den klanglichen Wohllaut bedachten Schaffensperiode an. Beim Anhören glaubt man an einem Waldbach entlang zu wandeln, über Wiesen, die der Morgentau mit Diamanten besät hat. Die letzte Schöpfung versetzt den Hörer in die Regionen des Hochgebirges, wo die Vegetation aufhört und die Kämme der hintereinander aufgebauten Bergrücken sich in scharfen Linien vom blauen Himmel abheben. Solcher Art ist die Schönheit der Trio-Sonate des Musikalischen Opfers. Sie ist tief und herb, besitzt aber nichts mehr von dem anmutigen Reize, der die Schöpfungen der Jugendzeit auszeichnet.“
Recht hat Schweitzer: wir befinden uns gerade auf einer musikalischen Hochgebirgstour.
Zumindest auf einen Satz der Sonate trifft Schweitzers Urteil jedoch nicht zu: auf das Andante. In diesem Stück mit seinen schmachtenden Seufzermotiven zeigt Bach, dass er auch „modern“ kann im neuen Stil der Empfindsamkeit – ja, er kann es sogar besser als die „Modernen“! Er kann nämlich mehr, als nur zu „amüsieren“, wie es Voltaire von allem Galanten fordert. Aber hören Sie selbst…
Sonata Sopr’Il Soggetto Reale a Traversa, Violino e Continuo (Violine, Flöte, Basso continuo)
Largo – Allegro – Andante – Allegro
Canon perpetuus [ewiger Kanon] (Violine, Flöte, Basso continuo)
Trotz aller „ewigen Kanons“ geht hier das Programm zu Ende.
Nach allem, was uns bekannt ist, erhielt Bach vom Preußischen König keine Belohnung oder auch nur eine Entschädigung für all seine Mühen in Potsdam, wie es sonst üblich war. Wir wissen noch nicht einmal, ob Friedrich jemals eine Note aus dem „Musicalischen Opfer“ gesehen, gehört oder gespielt hat. Wenn ja, hat er vielleicht die versteckte Botschaft verstanden – intelligent genug war er ja. Das könnte ein Grund für seine Reaktion sein, nicht zu reagieren. Das Widmungsexemplar gab er jedenfalls weiter an seine jüngste Schwester, Prinzessin Amalie, die Cembalo und Orgel spielte und ebenfalls komponierte, wie auch Friedrichs Lieblingsschwester Wilhelmine, Markgräfin von Bayreuth – sie hat sogar eine Oper geschrieben. Amalie sammelte leidenschaftlich Bachsche Noten und Manuskripte – ihre Sammlung ist bedeutend für die Bach-Forschung.
Der alte Bach hat von Friedrich nie die geringste Reaktion auf sein „Musicalisches Opfer“ erhalten. Wir wollen es ihm heute hier nicht gleichtun und bedanken uns ganz herzlich bei unseren Musikern für die wunderbare Interpretation dieses einzigartigen Werkes.