Die Gewitter-Kerze – eine kurze Geschichte von Ursache und Wirkung

Essay zu Pfingsten 2020 von Rainer Noll

Wer kennt eine „Gewitter-Kerze“? Mir ist sie in unseren hessischen Gebreiten noch nie begegnet. Bei uns weiß man dagegen, was ein „Gewitter-Oos“ ist (eigentlich „Gewitter-Aas“ mit mehrdeutiger etymologischer Herkunft): das ist eine zänkische Frau, mit der nicht gut Kirschen essen ist.

Da ist die Bekanntschaft mit einer Gewitter-Kerze wesentlich angenehmer. Doch dazu muss man nach Bayern. Am besten gleich nach Bad Bayersoien im Pfaffenwinkel (unweit von Oberammergau). Dort verbrachte ich seit 1997 immer wieder schöne Urlaube. Bei Anni und Georg Meier wohnte ich in einem heimeligen Zimmerchen mit Seeblick. Mit bombigem Frühstück zahlte ich zuerst 12,50 DM/Tag, zuletzt 14,50 €. 2013 starb plötzlich Herr Meier und 2015 im Spätsommer die Anni, nachdem ich im Frühling noch ihr Gast gewesen war, ganz liebe Menschen, beide erst in den 60ern.

Durch Anni Meier lernte ich die Gewitter-Kerze kennen. Sie wurde im Keller aufbewahrt und war schwarz. Geweiht worden musste sie sein von einem Priester, und zwar an Mariae Lichtmess (2. Februar), sonst sei sie wirkungslos.

Zog nun ein Gewitter auf, was im Voralpenland unerwartet rasch und heftig geschehen kann, dann konnte Frau Meier sich gar nicht schnell genug beeilen, um diese Kerze aus dem Keller hochzuholen und sie anzuzünden. Gleichzeitig verbrannte sie im Ofen bestimmte Kräuter oder Zweige, deren Namen ich vergessen habe (auch ein Vaterunser gehörte dazu). Aber der Rauch dieser Hölzer und die brennende Gewitter-Kerze waren das Zaubermittel gegen das Gewitter. Damit war man auf der sicheren Seite und die Gefahr gebannt. Denn, und darauf schwor Anni Meier: “ ‚S hat  no immer g’holfen und das G’witter zog ab, das war schon bei meiner Mutter und Großmutter so.“ Eine unwiderlegbare Erfahrung, seit Generationen unzählige Male erprobt und gefestigt – und es stimmte ja auch immer, unumstößlich! Dagegen halfen keine Einwände. Dieses bei jedem Gewitter praktizierte Ritual bestätigte sich sozusagen selbst: die Erfahrung, dass das Gewitter auch ohne Gewitter-Kerze irgendwann abgezogen wäre, konnte nie gemacht werden. Die Einsicht, dass es sich hier um eine selbst herbeigeführte Koinzidenz zweier unabhängiger Ereignisse handelt, die nicht im Ursache-Wirkung-Verhältnis stehen, lag außerhalb des Horizontes. Ja, dieses Verhältnis wirkte hier eher umgekehrt: nicht die Kerze war Ursache für den Gewitterabzug, sondern ihr Einsatz war die willentlich vollzogene Wirkung des aufziehenden Gewitters als Ursache.

Merken Sie was? Manchmal müssen wir wohl einer lieb gewonnenen „Erfahrung“ misstrauen, und sei sie noch so plausibel, dann nämlich, wenn wir uns von einer bloßen Koinzidenz täuschen lassen und sie als ein Ursache-Wirkung-Verhältnis interpretieren. Dieses zu konstruieren, damit uns die Welt nicht ins Unfassbare entgleitet, ist dem Menschen im Laufe der Evolution angeboren.

Ob die politisch verordneten Vorsichtsmaßnahmen, wenn auch in der konkreten Situation fast alternativlos, der alleinige Grund für unser bisheriges glimpfliches Abschneiden bei der Coronapandemie sind, d.h. ob hier nachweislich eine kausalbedingte Korrelation besteht oder nur eine Koinzidenz, muss unter dem genannten Gesichtspunkt hinterfragt werden dürfen. Die beiden Ereignisse korrelieren zweifellos, wie weit sie aber kausal verbunden sind, müsste nicht nur als Plausibilität vermutet, sondern wissenschaftlich nachgewiesen werden. Diese Gedanken brachten mir die Gewitter-Kerze wieder in Erinnerung und wurden zum Anlass, diese Geschichte als Parabel niederzuschreiben.

Das mit der Gewitter-Kerze ist ja eine harmlose Sache, über die ein aufgeklärt Denkender erhaben, aber keinesfalls herablassend lächelt. Das kann aber auch ganz anders ausgehen mit dieser Art zu denken und zu handeln. Und dazu abschließend zwei Beispiele aus ferner Vergangenheit und naher Gegenwart.

Die Sonne als unser lebenspendendes Zentralgestirn wurde in vielen antiken Kulturen auf verschiedene Weise als Gottheit verehrt, so z.B. in Ägypten und Südamerika. Andere Kulturen richteten sich nach dem Mond, so die spätere Mississippi-Kultur mit der Anordnung der Cahokia-Mounds (einer davon größte Erdpyramide der Welt) nahe St. Louis, die ich persönlich bestiegen habe. Die Hauptstadt Cahokia war zwischen 1000 und 1200 größer als die größten europäischen Städte (z.B. Paris oder London) und zählte bis zu 40000 Einwohner.

Im Glauben der Azteken-Hochkultur zog die Sonne tagsüber ihre Bahn über den Himmel und ver­weilte nachts in der Unterwelt, um am nächs­ten Morgen als Tagesgestirn wiedergeboren zu werden. Tonatiuh, der Sonnengott, trat als Krieger auf. Sein Kult erforderte die Opferung von Kriegsgefangenen und menschlichen Her­zen, um die Welt weiterhin in Bewegung zu halten. Die größte Angst war nämlich, dass diese Gott-Sonne am anderen Morgen nicht mehr „aufgehen“ könnte, wenn man sie nicht befriedigend „fütterte“ und ihr nicht gebührend huldigte durch tägliche Opfergaben. Deshalb war eine Sonnenfinsternis eine erschreckende Katastrophe: der Gott musste erzürnt worden sein und entzog sich sogar bei hellichtem Tage.

Mehreren Mythen zufolge wurden die Menschen hauptsäch­lich dazu geschaffen, der Sonne zu essen und zu trinken zu geben, weshalb diese Gottheit besonders viele Opfer­gaben an Blut und Her­zen erhielt. Jeden Tag wurde die Sonne mit Musik und Opfergaben begrüßt. Priester rezitierten Gebete und töteten Rebhüh­ner, die sie der Gottheit zum Opfer darboten. Diese Zeremo­nien wurden vier Mal während des Tages und fünf Mal während der Nacht wiederholt. Das wichtigste Fest der Sonne fand am Tag »Vier Bewegung« (nahui ollin) des Ritualkalenders statt und wurde von den ranghöchsten Kriegern began­gen, deren Schutzgottheit sie war. Zur Vorberei­tung musste das gesamte Volk strenge Fasten­regeln befolgen. Zugleich wurde unter den Gefangenen der hervorragendste Krieger ausge­sucht, um geopfert zu werden und so dem Son­nengott die Botschaft der Krieger zu überbrin­gen. Auf der erhöhten Plattform des Tempels rissen die Priester dem auserwählten Gefange­nen das Herz aus der Brust und opferten es dem Sonnengott. Junge Krieger zapften sich zu Ehren der Sonne mit Schilfrohren selbst Blut ab und brachten es der Gottheit dar.

Dabei war man sich ganz sicher: hätte man diese die Gottheit positiv stimmenden Rituale auch nur ein einziges Mal unterlassen, so hätte sich die verärgerte Sonne am nächsten Morgen nicht wieder gezeigt. Der „Beweis“ für die Richtigkeit dieser Annahme war der vermeintlich durch diese Opfer bewirkte tägliche Sonnenaufgang: man konnte offenbar nicht allzuviel falsch gemacht haben – eine aus bloßer Erfahrung nicht zu widerlegende Tatsache, aber dennoch nur eine Koinzidenz, deren Wirkung nicht mit der angenommene Ursache verknüpft war. Aber genau das entzog sich ja der Erfahrung, da man aus Angst die Rituale nie unterließ (ähnlich dem Ritual mit der Gewitter-Kerze).

Durch die Gewitter-Kerze sollte das Gewitter vertrieben werden, bei den Azteken beschwor man durch blutige Rituale mit Menschenopfern den allmächtigen Sonnengott täglich zu erscheinen – das Prinzip bleibt in beiden Fällen das gleiche: das Ergebnis ihres Handelns gab den Menschen nicht nur scheinbar, sondern augenscheinlich recht – es funktionierte.

Das abschließende Beispiel entnehme ich einer aktuellen Predigt eines bekannten Hamburger Pastors einer großen reformierten Freikirche: Er behauptete, dass Beten immer hilft, ja, dass Gott jedes Gebet erhört und auf seine Weise erfüllt, auch wenn uns Gottes Wege nicht unmittelbar einsichtig sind und Gott manchmal ein Deus absconditus, ein verborgener Gott ist. Aber dieser Pastor scheint Gottes geheime Gedanken zu kennen: für ihn ist er ein Deus revelatus, ein sich offenbarender Gott.

Nehmen wir das Beispiel eines Ehepaares, dessen einer Partner schwer erkrankt ist und der andere um seine Genesung betet. Wird dann der eine gesund, so hat Gott die Gebete des anderen erhört und sie erfüllt – für ihn ein klares Ursache-Wirkung-Verhältnis: das Beten half. Stirbt aber der Erkrankte trotz allen Betens, was dann? Nach diesem Pastor hat Gott selbst dann die Gebete erhört, und zwar ganz besonders: gibt es denn eine größere „Heilung“, als von Gott in sein Reich berufen zu werden, entrückt zu werden in die ewige himmlische Herrlichkeit und so von seinem irdischen Leiden „ge-heilt“ zu werden? Und wenn nun zudem der Verstorbene noch viel zu jung war? Dann soll der überlebende Partner froh sein, weil Jesus den Verstorbenen schon eher im Himmel als hier auf Erden brauchte – eine Auszeichnung! Widerlegbar ist das nicht, aber auch nicht beweisbar: es muss eben „geglaubt“ werden.

Ich will keinesfalls das Beten lächerlich machen und bekräftige: Beten hilft immer – vor allem dem Beter selbst und seiner Psychohygiene (ebenso wie das Beichten). Beten kommt von Bitten, und allein, dass wir um etwas bitten, bewahrt uns vor dem „Gottes-Komplex“ (so der Titel eines Buches von Horst Eberhard Richter), selbst Gott spielen zu wollen und bringt uns in die Haltung der Demut als bedürftiges, unvollkommenes Mangel-Geschöpf, dessen Leben endlich und immer lebensgefährlich ist.

Ich will hier aber nicht behaupten, dass jeder Glaube diesem verführerisch simplen Schema dieses Hamburger Pastors folgt, dessen „Erklärungen“ sich so angenehm plausibel und fugenlos ineinander fügen wie passend behauene Steinquader eines Bauwerkes. Aber Trost spenden können diese Gedankengänge einem Glaubenden schon: er begibt sich damit in eine unwiderlegbare Win-Situation (diesmal nicht Win-Win, denn Gott hat ja nichts davon): mit Gott ist er immer auf der richtigen Seite, selbst wenn alles schief geht – psychologisch gesehen ein unschlagbares Erfolgsrezept. Die Welt ist dann in Ordnung durch klare Ursache und Wirkung, nur so wird sie uns „Heimat“. Eine Welt aus unverknüpften Koinzidenzen ist dem Menschen eben schwer aushaltbar (aber genau das mutet uns auch die Quantenphysik zu und ist deshalb dem alltäglichen Denken und Erfahren so fern, obwohl ihre Anwendung fast allgegenwärtig ist: statistische Wahrscheinlichkeiten treten an die Stelle von direkter Ursache und Wirkung).

Den Glaubenden tröstet eine solche Win-Konstruktion, denn glauben heißt ja, auf etwas oder jemandem vertrauen und dem Treue zu geloben (was nicht unvernünftig sein muss, wie auch Hans Küng aufgezeigt hat, aber da ist mir Viktor E. Frankls logotherapeutischer Ansatz tröstlicher, das führt aber hier zu weit). Das wusste schon meine kluge, fromme Stemler-Großmutter, die mich immer wie in einem Orakel-Spruch warnte vor zu viel Denken, denn dann gingen „die einen Gedanken über die anderen“. Heute erst weiß ich, was sie meinte: das rein rationale Denken überlagert oder zerstört sogar dann die Gedankenwelt des Glaubensgebäudes, und wir drohen ins Ungeborgene, Unbehauste zu fallen, und dem muss man erst mal gewachsen sein (siehe Existenzphilosophie bei Jean-Paul Sartre, einem Großneffen Albert Schweitzers). Doch Vorsicht: hier lauert schon der Teufel um die Ecke, den Goethe in der Gestalt des Mephisto zu Faust sagen lässt: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft. Lass nur in Blend- und Zauberwerken dich vom Lügengeist bestärken, so hab ich dich schon unbedingt.“

Der Denkende muss die Welt in ihrer Widersprüchlichkeit unaufgelöst aushalten und kann nur ehrfürchtig staunen über die überwältigende Größe des unser Denkvermögen übersteigenden Kosmos (dem wir vermutlich völlig gleichgültig sind, weshalb hier ethisch nichts zu holen ist – Ethik müssen wir dem entgegen-setzen, d.h. „anders sein als die Welt“); einem Kosmos, der uns gerade in den Naturwissenschaften immer noch ein überwiegend unerforschtes Geheimnis bleibt – und dies müssen wir so stehen lassen können, ohne in alles gleich einen „Sinn“ hineinzuinterpretieren, um diesen wieder tröstlich herauszulesen, damit wir dieses unergründlich „Größere“, „Umgreifende“ (Karl Jaspers), dem wir zweifellos rätselhaft angehören, aushalten. Aber vielleicht ist ja dieses unnennbar „Größere“, die „Seele“ des Ganzen, im eigentlichen Sinn, was mit „Gott“ gemeint ist? Aber ist das dann der „persönliche“ Gott, das „Du“, das mich durch seinen Anruf zum „Ich“ werden lässt? Lesen wir nicht im Alten Testament, dass ein Mensch Gottes Anblick nicht aushalten kann und der Name des Unfassbaren, der sich selbst nicht weiter hinterfragbar „Ich bin, der ich bin“ nennt, nicht ausgesprochen werden darf? Offenbart sich dieser unnahbare alttestamentliche Gott – nicht in Buch und Wort (wie etwa Allah), sondern in der Person seines „Fleisch“ gewordenen „Sohnes“ Jesus, der mit dem „Vater“ und dem an Pfingsten mit Brausen herab gekommenen „Heiligen Geist“ als „Dreieinigkeit“ (am Sonntag nach Pfingsten feiern wir Trinitatis) wirkt? Was ist hier Ursache, was Wirkung – was Fakt, was Projektion, was Wirklichkeit, was Wunsch? Fragen über Fragen … und jeder kann nur seine Antwort finden.

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