Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Musikfreunde und Bekannte,
noch ehe dieses Jahr (2019) zu ende geht (in die „Rauhnächte“ zw. Weihnachten und Dreikönig passt es gut), will ich des 90. Geburtstages (er wäre bereits am 6.8.19 gewesen) eines der ungewöhnlichsten, für manche auch unmöglichsten Menschen der Kirchenmusikszene als Zeitzeuge gedenken:
Komponist Reinhold Finkbeiner (1929 – 2010)
Wer ihn nicht (mehr) persönlich kannte, möge die folgenden Zeilen als hoffentlich amüsante Erzählung lesen.
Wer sich vorab einen Überblick über sein Leben verschaffen möchte, kann dies hier tun:
https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhold_Finkbeiner
Ich würdige diesen schöpferischen Komponisten mit einer weiteren Live-Aufnahme seiner 1954 komponierten Toccata und Fuge, von mir gespielt im Konzert am 4.4.1976, zugleich ein Dokument der nicht mehr existierenden Walcker-Orgel von 1965 der heute als Jugendzentrum umgenutzten St. Peterskirche in der Frankfurter Bleichstraße:
Besondere Authentizität erhält diese Aufnahme dadurch, dass der Meister mir höchstpersönlich blätterte und registrierte.
Eine aufnahmetechnisch bessere Live-Aufnahme von 1974 ist hier auf der von mir geplanten Steinmeyer-Orgel in Wiesbaden-Bierstadt zu hören, ebenfalls vom Komponisten „abgesegnet“:
Das Werk zählt zu den schwierigsten, die ich je gespielt habe.
Finkbeiner selbst hatte auf der Orgel eine Vorliebe für schräge Registrierungen mit Terz- und, wenn die Orgel es hergab, auch Septim- und Non-Obertonregistern, solistisch oder gar im Plenum. Besonders erfreute ihn (wie alles irgendwie „Verquere“), wenn ich solche Klänge abfällig „Schmutz“ nannte, er darauf: „Ich liebe Ihren Schmutz!“; alles nur „Schöne“ war ihm verhasst, seine schöpferische Energie speiste sich auch aus Destruktionswillen.
Früh lernte ich Finkbeiner durch seinen Studienfreund Peter Schumann kennen, 1964 mein Orgellehrer in Wiesbaden und nach Hamburg später Kirchenmusikdirektor an Heiliggeist in Heidelberg, der manche Finkbeiner-Werke aus der Taufe hob und für den Rundfunk einspielte (er war für Finkbeiner, was Straube für Reger war). Er war einer der wenigen Menschen, mit denen Finkbeiner „konnte“. Bald zählte auch ich zu diesem kleinen Kreis (dem gesellschaftlichen Ansehen nicht unbedingt förderlich). Dies lag wohl daran, dass ich schon immer einen verständnisvollen Zugang zu „Schwererziehbaren“ und gesellschaftlichen Außenseitern aller Arten hatte, mit denen der „Normalbürger“ schwer zurecht kam (immer suchte ich das Herz der Menschen und ließ mich nicht von äußerem Gehabe und Erscheinung täuschen oder durch Beleidigungen abschrecken – und meist fand ich es).
In den 70er Jahren lud er mich ein zu Orgelkonzerten in die Frankfurter Peterskirche, seiner Wirkungsstätte. Er war ja der einzige Kirchenmusiker in Frankfurt, der den Mut zu wirklicher Avantgarde und experimenteller Musik hatte (mit Mühe wurde manchmal seine Entlassung abgewendet, die fristlose sogar, als er im Abschiedskonzert das Braten von Speck und Eiern auf dem Altar in seine Komposition einbezog – aber der Rundfunk schätzte ihn). Er legte es darauf an, ein „Bürgerschreck“ zu sein und hatte geradezu seine Lust an Provokation allen Spießern gegenüber – und an „Deformation“ und „Zerarbeiten“, so der Titel einer Einspielung von Bachs berühmter d-moll-Toccata BWV 565:
JottEsBach/Finkbeiner – Deformation eines Publikumslieblings – Be We Vau 565 – eine Zerarbeitung (1973).
Programmatisch sind auch die Titel anderer Werke, um nur einige zu nennen:
„Pfaffenschreck“ (ausgerechnet seinem Lehrer Helmut Walcha gewidmet),
„Opas Gichtfinger“ (LKMD Philipp Reich mit böser Absicht zugeeignet),
„Des ungläubigen Organisten Orgelbüchlein“:
Unvergesslich ist mir die Mitwirkung bei der Aufführung der „Choralvorspiele für Orgel, Nebeninstrumente und Tonband“ von Dieter Schnebel (1930 – 2018), die äußerlich zunächst wie Chaos wirkten, aber nach intensivem Proben hörten wir jeden falschen Einsatz (das Werk war entstanden nach dem Suizid von Schnebels erster Frau Camilla – sie hatte sich vom Bad Homburger Schlossturm gestürzt). Ich glaube, ich „spielte“ dabei Autohupe oder Kettensäge oder beides. Constantin Gröhn schreibt darüber: „Die verfremdeten Choralmelodien und Geräusche (Hämmer, kratzende Steine, Bulldozer, Wühlmaschinen, Schrämmaschine, Sägen, Mahlgeräusche usw.) symbolisieren (…) ein düsteres menschliches Innenleben.“ (C. Gröhn, Dieter Schnebel und Arvo Pärt: Komponisten als „Theologen“, S. 45)
Menschliche Abgründe waren auch das Thema Finkbeiners, ja er selbst empfand seine ganze Existenz als „Abgrund“ („Hätte mein Vater mich doch lieber in einen Busch gespritzt“, war eine seiner stets negativen Redewendungen).
Abgründig, ironisch oder einfach skurril waren auch oft seine Texte, die er vertonte – einen Vers habe ich nie vergessen:
Katharina von Kastilien
mit den Wolllustutensilien
reizt‘ den Papst zum Koitus,
dieser spricht: Non possumus.
Meine Zusammenarbeit mit ihm ging solange gut, bis ich einmal (ich glaube 1978) ein Konzert aus ernsten gesundheitlichen Gründen (mit ärztlichem Attest) absagen musste (neben anderen Ängsten hatte er panische Angst vor Absagen engagierter Musiker) – es kam übrigens nie mehr vor in meinem Leben. Er verlangte, dass ich mich auf seine Kosten mit Spritzen nur für dieses Konzert aufputschen lassen sollte (ungeachtet späterer Schäden). Ich lehnte ab, und damit war ich für alle Zeiten für ihn gestorben und er behandelte mich seitdem wie Luft – bis doch noch über 20 Jahre danach eine Art „Aussöhnung“ stattfand, aber nur für die Dauer eines Abendessens bei der Sopranistin Bell Imhoff, die viele Uraufführungen bei ihm gesungen hatte.
Es ist hier unmöglich, die vielen Geschichten mit Finkbeiner, die ich erlebte, zu erzählen, zumal seine unflätigen Aussprüche nur mündlich und in seinem typischen schwäbischen Tonfall zu zitieren sind, so sarkastisch, grob, abstoßend, ja verletzend waren sie manchmal – allerdings nie mir gegenüber (dennoch: man musste was aushalten können, wenn man mit ihm klar kommen wollte). Hinter diesen oft anstößigen Verbalattacken steckte jedoch eine sensible, höchst verletzliche Seele voller existentieller Ängste und Nöte – er gestand mir einmal sogar nach einigem Rotwein, er sei „seelisch krank“.
Nur ein paar zahme Streiflichter seien mir erlaubt. Salonfähig scheint mir etwa dieses:
Finkbeiner besuchte manchmal Peter Schumann (und mich) in Hamburg. Nach einem Gottesdienst in der (heute ebenfalls umgenutzten) Hamburger Bugenhagenkirche (hier war auch mein Freund Pastor Reinhold Becker tätig – hier übte ich am Flügel) begegnete er dem alten Pastor Strege, der gerade Dienst getan hatte, mit den Worten: „Sind Sie der Direktor von dem Laden hier?“ (Das muss man eigentlich in Finkbeiners ureigener Diktion hören!) Der antwortete: „Weder Direktor, noch Laden“ und ließ ihn einfach stehen. Aber seitdem war Finkbeiner in Hamburgs Kirchenkreisen verrufen, wie übrigens Schumann selbst: allein, dass ich bei ihm wohnte, genügte dem Liturgikprofessor Otto Brodde, Hamburgs „grauer Eminenz“ der Kirchenmusik, mein weiteres Kirchenmusikstudium an der dortigen Musikhochschule zu verhindern, wie ich viel später durch meinen Lehrer und Freund Prof. Kurt Fiebig erfuhr, der in den geheimen Konferenzen saß („Der wird nie ein Kirchenmusiker. Dazu ist der zu sehr mit diesem Schumann verbandelt“, soll Brodde über mich gesagt haben). Ich wechselte daraufhin zu Klavier.
Es ist manchmal besser und förderlicher, nur das Werk und nicht auch seinen Schöpfer zu kennen – vielen Bewunderern wäre dessen Gegenwart unerträglich (wie sich in vielen Fällen bezeugen ließe – man denke nur an Richard Wagner). Auf Finkbeiner könnte zugetroffen haben, was in einer vornehmen Wiesbadener Familie über Max Reger (1873 – 1916) überliefert wurde: die Familie bewunderte die schönen Weihnachtslieder Regers und kam auf die unglückliche Idee, ihn während seiner Wiesbadener Zeit („Zwischen Marktkirche und Ratskeller“, wie ein Titel darüber heißt) einmal zum Abendessen einzuladen. Bereits unten im Hausflur krakelte der stockbesoffene Reger so laut, dass die Bewohner des Hauses erschreckt zusammenliefen. Beim Essen dann (er soll den anderen fast nichts übrig gelassen haben – er fraß und soff maßlos) brachte er die Damen des Hauses durch derbste Zoten zum Erröten. Danach gefielen dieser Familie auch die Weihnachtslieder nicht mehr…
Auch mit Finkbeiner wollte jedenfalls kaum einer etwas zu tun haben, und wer mit ihm zu tun hatte, war bei den meisten „untendurch“, ganz besonders bei den kirchlichen „Autoritäten“.
Ich spielte einmal seine Toccata und Fuge (1954) im vollbesetzten Orgelsaal der Frankfurter Musikhochschule. Vorher gab ich Erläuterungen dazu, u.a. dass das kontrapunktisch gearbeitete Werk noch unter dem Einfluss seines Lehrers Kurt Hessenberg (1908 – 1994) entstanden sei. Der stille, bescheidene Hessenberg, der ohne mein Wissen unter den Zuhörern war, erhob sich darauf aus der Menge und rief, heftig mit den Armen abwehrend, in den Saal: „Ich bin daran unschuldig, ich habe damit nichts zu tun!“
Nebenbei: Finkbeiners Frau Christine, eine promovierte Musikwissenschaftlerin und musikalische Leiterin des Kirchenfunks beim Hessischen Rundfunk, machte noch Rundfunkaufnahmen mit mir in St. Martin in Kelsterbach und plante weitere, was durch ihren plötzlichen frühen Tod verhindert wurde.
Es ist das Verdienst des Pianisten Ernst Breidenbach, Finkbeiners Patenkind „Ernschtel“, ein Werkverzeichnis angelegt zu haben und seinen Nachlass zu verwalten:
https://www.ernstbreidenbach.de/daten/portrait%20finkbeiner-werk.htm
Interessant auch diese Beiträge:
https://www.ernstbreidenbach.de/daten/finkbeiner.htm
https://organ-journal.com/artikel/orgelwerke-1952-1973/
https://www.ernstbreidenbach.de/daten/portrait%20finkbeiner.htm
Finkbeiner, die Breidenbachs und Peter Schumann kannten sich von Hanau her, wo Schumann geboren wurde. Ernsts Onkel Gottfried Breidenbach war Bezirkskantor in Bad Orb – in den 70er Jahren lud er mich öfter ein, Konzerte zu spielen in seiner kleinen Kirche am oberen Rand von Bad Orb, links an der Ausfallstraße in den Spessart gelegen. Ernsts Nichte Stephanie Breidenbach spielte 2002 Solo-Violine in einer meiner 31 „Abendmusiken zum Weihnachtsmarkt“ in St. Martin in Kelsterbach. So ist alles irgendwie „in Familie“.
Mit besten Wünschen für das kommende Jahr 2020
herzlichst
Euer/Ihr Rainer (Noll)
Nachtrag: Ich schilderte hier mehr den „Un-hold“ statt des Reinholds. Finkbeiner konnte auch charmant, geistreich und geradezu liebenswürdig sein, wenn er sich verstanden und nicht angegriffen fühlte.