Das Ende einer Ära

Erschienen in der Frankfurter Neuen Presse am 19.04.2014

Kantor Rainer Noll verabschiedet sich am Ostersonntag

Nach 42 Jahren geht der Kantor der St. Martinsgemeinde in Kelsterbach, Rainer Noll, in den Ruhestand. Wer die Nachfolge antritt ist ungewiss.

Ruhig und besonnen ertasten seine Hände die Notenblätter und ziehen einige Register. Noch einmal konzentriert durchatmen, dann beginnt er mit dem Orgelspiel. Das gehört bald der Vergangenheit an. Denn Kantor Rainer Noll wird nach fast 42 Jahren am Ostersonntag von 9.30 Uhr an in der evangelischen St. Martinskirche verabschiedet. Anschließend wird es noch einen Umtrunk geben.

Ob es einen Nachfolger geben wird, weiß er nicht. Er jedenfalls habe weder von der Kirche noch vom Dekanat etwas erfahren. – „Die Gemeinde wird dann sowieso keinen Unterschied feststellen.“ Bei diesen Worten liegt Wehmut in Nolls Stimme, und in seinem Blick. Er sieht, was das Orgelspiel anbelangt, in eine ungewisse Zukunft.

Bislang hat ihn niemand von der Stadt gefragt, ob er bereit sei, auch in seinem Ruhestand die von ihm ins Leben gerufenen Konzertreihen fortzusetzen. „Selbst wenn das jetzt noch der Fall wäre, gäbe es ein Jahr Pause“, sagt der Kantor. Denn die nächsten regulären Konzerte wären schon im Juli. Noll betont, dass er sie bis dahin nicht organisieren könnte. Jedenfalls hofft er, dass er sich auch in seinem Ruhestand ab und zu einmal an die Orgel in der Kirche setzen darf.

Rainer Noll ist ein vielschichtiger Mensch. „Mich interessierte stets weniger der äußere Erfolg als die innere Erfüllung.“ So würde der 65-Jährige niemals auf seine geistige Freiheit verzichten wollen. Funktionalität ist ihm zuwider, und Fraktionszwang und Gleichstellungen wie in der Politik stören ihn. Er setzt sich für Frieden und Freiheit ein und zeigt sich streitbar, wenn es um Anpassungszwang, Obrigkeitshörigkeit und Willkür geht.

Die Mitte der Musik

Die Liebe des gebürtigen Wiesbadeners zu Tasteninstrumenten erwuchs als Kind durch ein Klavier in der Grundschule. Auch der Klang von Kirchenorgeln prägten ihn früh. Als er den ersten Unterricht nahm, war er bereits elf Jahre alt. Alle seine Funktionen und Engagements aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen. Aber die Werke von Johann Sebastian Bach haben sein Schaffen sehr geprägt.

In Kelsterbach startete er 1977 die beliebten und stets resonanzträchtigen Konzerte zum Todestag von Johann Sebastian Bach, mit denen er in der Untermainstadt seitdem stets assoziiert wird. Noll sieht Bach als musikalischen Mittelpunkt, weil die gesamte Musikgeschichte von ihm weg und zu ihm hin gehe. Bach sei ein zentraler Komponist. „Er ist die Mitte der Musik, meine musikalische Heimat“, sagt er, und habe nicht nur Mozart und Beethoven beeinflusst. Aber Noll liebt auch Werke der französischen Spätromantik. Seine schönsten Erinnerungen an die Zeit als Kantor in der Martinskirche basieren deshalb auf den Bach-Konzerten, die ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Stadt nicht möglich gewesen wären.

Noll gründete auch eine Konzertreihe zu den Todestagen von Albert Schweitzer. Auch er ist eine zentrale Gestalt, mit der sich Noll seit seinem zehnten Lebensjahr intensiv befasst. Immerhin war Schweitzer auch Organist.

Im Jahr 1979 führte Noll in der St. Martinskirche musikalische Meditationen zur Todesstunde Jesu jeweils am Karfreitag ein. Er folgte damit dem Beispiel des Komponisten Johann Sebastian Bach. Darüber hinaus begründete Noll musikalische Andachten in der Passions- und Adventszeit.

Vielseitige Interessen

Wegen seines Mathematik- und Physikstudiums und seines ausgeprägten Interesses für Astronomie, gilt Noll eher als sachlicher Mensch mit kühlem Kopf. Doch wer ihn kennt, der weiß auch um die andere Seite des intelligenten Musikers, der sich auch für schöngeistige Dinge wie Theologie und Philosophie begeistert.

Ob und in welcher Funktion Rainer Nolls breitgefächerte Fähigkeiten und Talente erhalten bleiben, mit denen er sich all die Jahre rührend um die Orgel gekümmert und sie selbst vor jedem Konzert gestimmt hat, bleibt offen.

Artikel vom 19.04.2014, Orginal auf www.fnp.de

© 2014 Frankfurter Neue Presse

Rundmail Pfingsten 09.06.2014

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Musikfreunde,

hier finden Sie Links der Besprechung meiner letzten dienstlichen Musikveranstaltung an Karfreitag sowie Artikel zu meiner Verabschiedung am Ostersonntag:

https://erbacher-hof.de/karfreitag/meditation_2014_rezension

https://erbacher-hof.de/texte/das-ende-einer-aera

https://erbacher-hof.de/texte/innere-erfuellung-gesucht

Ich spielte Bachs Präludium und Fuge D-dur – sowie große alte und besonders neue Choralvorspiele.

Allen, die mich an diesem Ostersonntag, 20. April 2014, im Gottesdienst und beim nachfolgenden Umtrunk mit ihrem Besuch beehrt haben und mir Worte und Geschenke mit auf den Weg gaben, möchte ich hier von ganzem Herzen danken.

Wie alles begann mit Kelsterbach, können Sie in meinem Nachruf auf Pfr. Lichtenthaeler nachlesen (siehe https://erbacher-hof.de/texte/pfarrer-wolfgang-lichtenthaeler-10-april-1934-21-januar-2014-zum-80-geburtstag).

Die ersten Tage meines Ruhestandes, die ersten Maitage also, verbrachte ich in Bad Bayersoien im Hause von Frau Anni Maier. Ihr schrieb ich u. a. ins Gästebuch (wie immer in Versform):

Seit ersten Mai ich Rentner bin,
drum steht nach Dichten nicht mein Sinn
(andre mögen’s richten
und bessre Verse dichten).
Am „Tag der Arbeit“ war’s so weit,
dass ich von „Arbeit“ ward befreit.

Auch „Rentners Weisheit“ offenbarte sich mir dort in der herrlichen Voralpenlandschaft:

Man muss nichts mehr, darf alles, kann’s aber immer weniger

(letzteres allerdings – noch – mehr in die Zukunft blickend als die Gegenwart beschreibend).

„Rundmail Pfingsten 09.06.2014“ weiterlesen

Orgelkonzert in Colmar 2005

Lothar Graap (* 1933)

1. Fantasia A-(E)S (Hommage à Albert Schweitzer)

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)

2. “Allein Gott in der Höh sei Ehr BWV 663

Johann Gottfried Walther (1684 – 1748)

Concerto h-moll nach Vivaldi

3. Allegro 4. Adagio 5. Allegro

Dick Troost (* 1949)

6. – 11. Partita über “Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist“ (Choral mit 5 Variationen, Rainer Noll gewidmet)

Johann Ludwig Krebs (1713 – 1780)

12. Fantasia à gusto italiano in F

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847)

Sonate Nr. 2 c-moll op. 65,2

13. Grave-Adagio 14. Allegro maestoso e vivace 15. Fuga

 

Rainer Noll an der Silbermannorgel (1732) in St. Matthieu, Colmar (Elsaß), am 24. Juli 2005 (Live-Mitschnitt)

(Live-Situation: Die Orgel konnte vor dem Konzert nicht mehr gestimmt werden, da der Schlüssel zum Orgelgehäuse unauffindbar war) Aufnahme: Eckard Gandela – Tontechnik und Covergestaltung: Rainer Noll

25 Jahre Konzerte zu Bachs Todestag in St. Martin Kelsterbach (1977-2002)

Im August 1972, dreiundzwanzigjährig, trat Rainer Noll sein Amt als Kantor an St. Martin in Kelsterbach bei Frankfurt/Main an, bis dahin noch Student in Hamburg. 1977, gleich nach seinem A-Examen in Frankfurt, startete er hier die Reihe der Konzerte zu Bachs Todestag, jeweils am oder um den 28. Juli (Bachs Todestag). Zunächst waren es reine Orgelkonzerte auf der 1970 von Förster & Nicolaus (Lich) erbauten „idealen Bach-Orgel in idealer Akustik“ (so Noll). Werke aller Gattungen des Bachschen Orgelschaffens interpretierte Noll hier in der ihm eigenen beseelt-atmenden Weise, wie er sie bei seinen Forschungen über Albert Schweitzer kennengelernt hatte. Aber auch Kompositionen von Bach-Söhnen, Bach-Schülern und der weiteren Bach-Familie standen auf dem Programm, bis hin zu Uraufführungen von verschiedensten Bearbeitungen über die Tonfolge B-A-C-H, die Noll bei Kurt Fiebig (1908 – 1988), Harald Heilmann (* 1924) und dem französischen Komponisten Gaëtan Santa Maria (* 1957) in Auftrag gegeben hatte.

Dank städtischer finanzieller Unterstützung kam später eine stattliche Zahl Bach-Kantaten und Instrumentalkonzerte hinzu, aufgeführt mit namhaften Solisten, den „Idsteiner Vokalisten“ und dem „Heidelberger Kantatenorchester“ in einer eigenständigen Interpretation, die das Beste aus historischer und traditioneller Aufführungspraxis zu vereinigen sucht.

Die Konzerte werden inzwischen von einem zahlreichen Publikum aus einem Einzugsgebiet von ca. 100 km Umkreis besucht.

Die gesamte Reihe dieser Konzerte ist in Tonaufzeichnungen dokumentiert, und es spricht für ihr Niveau, dass in einer Live-Edition eine Folge von CDs daraus entstanden ist.

Eckard B. Gandela

Meine 30jährige Tätigkeit an St.Martin Kelsterbach (1972 – 2002)

Meine 30jährige Tätigkeit an St.Martin Kelsterbach (1972 – 2002)

Mein Schwerpunkt war und ist gerade die künstlerische Arbeit. Diese versuchte ich immer im Rahmen der Kelsterbacher Möglichkeiten zu intensivieren, so weit dies nur irgend ging (durch Qualität, und nicht Quantität). Stets hielt ich meinen künstlerischen Anspruch aufrecht, auch wenn es oft schwierig war, und dies ist in Zeiten kultureller Verflachung besonders wichtig.

1977 hatte ich mein A-Examen abgelegt und startete gleich mit einer ganzen Reihe von Konzerten, darunter das längst zur Tradition gewordene Konzert zu Bachs Todestag, dessen 25. wir am 28. Juli 2002 begingen (siehe dazu beil. Text von Eckard Gandela sowie die Rede von Dr. Werner Ball zu meinem 25jährigen Dienstjubiläum). – Diese Bach-Konzerte begannen als reine Orgelkonzerte, in denen ich alle Gattungen des Bachschen Orgelschaffens vorstellte. Erst dank städtischer finanzieller Mittel wurden auch Ensemble-Aufführungen mit hochrangigen Solisten, dem „Heidelberger Kantatenorchester“ und den „Idsteiner Vokalisten“, die ich seit 1995 projektweise leite, möglich. Erst diese städtische Unterstützung ermöglichte mir ein anspruchsvolles Tätigwerden als Dirigent. Eine weitere finanzielle Hilfe bietet der 1998 von mir gegründete Förderkreis.

Auch andere Anlässe wurden musikalisch ausgestaltet in Konzerten, musikalischen Andachten und Kantatengottesdiensten mit der Kantorei St. Martin, so der Todestag von Albert Schweitzer, die Passionszeit und Karfreitag, der Reformationstag, der Bußtag oder der Totensonntag, die Advents- und Weihnachtszeit mit manchmal mehreren Veranstaltungen (am 7. Dezember 2002 musizierten wir die 20. „Abendmusik zum Weihnachtsmarkt“). Dazwischen fanden verschiedene Konzerte statt, z.B. mit Gastchören (Sulzbacher Kantorei, Alsfelder Vokalensemble, Dillenburger Kantorei, Rundfunk- und Fernsehchor St. Petersburg – jetzt „Stimmen der Newa“), oder auch mit Gastorganisten aus Deutschland, Holland, der Tschechischen Republik, Israel, England, Japan und den USA. Hierbei, und natürlich auch bei meinen anderen Konzerten, bewährte sich immer wieder die besondere Akustik und die klanglich herausragende Orgel der Martinskirche, die im Oktober 2002 mit einer Setzeranlage optimal aufgerüstet wurde. Ich selbst spielte und dirigierte natürlich auch außerhalb Konzerte in mehreren europäischen Ländern und den USA. Dazu kamen noch Vorträge, Veröffentlichungen in Fachzeitschriften sowie das Ordnen und Katalogisieren des gesamten musikalischen Nachlasses von Albert Schweitzer, das sich über Jahre hinzog und für das ich eine Freistellung für wissenschaftliches Arbeiten erhielt. Als künstlerischer Leiter der „Airport Chapel Concerts“ des Flughafens Frankfurt nahm ich sofort die Gelegenheit wahr, mit Konzerten ins unmittelbare Umfeld zu gehen (1981/82, in Zusammenarbeit mit Flughafenpfarrer Lindenmeyer).

Selten wiederholte sich ein Werk in den Programmen meiner Konzerte, jedes Programm wurde ganz neu erarbeitet. Mein Repertoire umfasst Musik mehrerer Jahrhunderte. Dabei war mir auch immer besonders wichtig, dass das Schaffen der Gegenwart vertreten war. Namhafte Komponisten aus Deutschland, Holland und Frankreich widmeten mir sogar Werke für Uraufführungen und reisten dazu meist persönlich an.

Besonderen Wert lege ich auf die Gestaltung der Programme sowie der Programmhefte, in die ich möglichst den neuesten Stand der musikwissenschaftlichen Forschung einbeziehe (persönliche Kontakte zu führenden Forschern wie z.B. Ton Koopman, Christoph Wolff und Albert Clement waren dem nur förderlich).

Inzwischen haben sich musikalische Schwerpunkte herauskristallisiert, zu denen das stets zahlreiche und sehr interessierte Publikum aus ca. 100 km Umkreis und weiter anreist. Sein Publikum sollte man allerdings auch pflegen, und dies tue ich durch persönliche Einladungen und sonstige möglichst persönliche Kontaktpflege. Dazu habe ich über Jahre eine Interessentenkartei aufgebaut, die ich ständig aktualisiere und verwalte. Auch eine intensive Medienarbeit sei hier erwähnt.

Fast alle Konzerte seit meinem Amtsantritt (1972) sind als Tondokumente in bester Klangqualität aufgezeichnet, was eine Seltenheit sein dürfte. Hierfür habe ich mir eine hochwertige Aufnahmeausrüstung sowie ein Tonstudio zugelegt, so dass bisher über zehn CDs aus diesem Fundus veröffentlicht werden konnten, die ich tontechnisch und teils gestalterisch selbst betreue. Es handelt sich ausschließlich um Live-Aufnahmen, die somit wie nichts anderes meine bisherige Arbeit sowohl als Organist wie als Dirigent dokumentieren.

Wer wirklich künstlerisch arbeitet, der tut dies in völliger Selbstvergessenheit und ohne zu fragen in totaler Hingabe, einzig im Hinblick auf die Freude an der Vollkommenheit des Ergebnisses, womit er sein Publikum beglückt, erhebt und bessert.

Daneben gründete ich 1990 die „Torhauskonzerte“, die einmal jährlich im „Erbacher Hof“ in Wiesbaden-Nordenstadt, dem mittelalterlichen Bauernhof meiner Vorfahren, stattfinden und deren 10. Elmar Gunsch moderierte. Dort finden auch seit 2000 musikalische Weinproben statt.

Rainer Noll