von Rainer Noll (März/April 2014)
Heute, am 10. April 2014, wäre Pfr. Wolfgang Lichtenthaeler, Ehrenbürger der Stadt Kelsterbach, 80 Jahre alt geworden. Er ist am 21. Januar d. J. verstorben, sozusagen kurz bevor meine eigene Dienstzeit als Kantor an St. Martin in Kelsterbach sich nach fast 42 Jahren dem Ende zuneigt – ein Zusammentreffen, das mich berührt hat.
Ohne ihn wäre mein Leben anders verlaufen – anders: ob besser oder schlechter, sei dahingestellt, man kann die Begegnung aber getrost schicksalhaft nennen. So will ich mit diesen Zeilen seiner gedenken im Sinne des lateinischen Sprichwortes „de mortuis nihil nisi bene“, das sicher einem Menschen angemessen erscheint, der die lateinische Sprache liebte (einmal las er mir nach einem anstrengenden Konzert in Frankfurt nachts um 3 Uhr im Pfarrhaus lautmalerische Verse von Ovid zur Entspannung beim Tee, seinem bevorzugten Getränk, vor). Ja, er verstieg sich sogar zu der überspitzten und sicher nicht wörtlich gemeinten Äußerung, dass der Mensch erst bei Latein begänne.
„De mortuis nihil nisi bene“: meist wird das Wort falsch verstanden als „über die Toten (soll man) nichts, es sei denn nur Gutes (sagen)“. Aber wenn schon Latein, dann richtig: „bene“ ist hier adverbial, die Art und Weise betreffend, und meint „auf gute, bzw. angemessene Weise“. Dies bedeutet mehr als „nur Gutes sagen“, denn es schließt auch kritische Worte nicht aus, wenn sie wohlwollend und die Würde des Toten, der sich nicht mehr verteidigen kann, nicht verletzend gesagt werden. In diesem Sinne will ich versuchen, unsere Begegnung und Beziehung zu würdigen. Und wieder ist es, wie schon in meinen Nachrufen für Pastor Reinhold Becker und Pfr. Max Beck (siehe https://erbacher-hof.de/reinhold-becker und https://erbacher-hof.de/max_beck), unmöglich, über ihn zu reden ohne zugleich über mich selbst.
Zu seinem 75. Geburtstag am 10. April 2009 sandte ich ihm einen Brief, der eigentlich in komprimierter Weise alles Wesentliche sagt (siehe unten, hier erstmals veröffentlicht). Dieser Geburtstag war genau an Karfreitag, als meine Passionsmusiken zu Karfreitag in St. Martin sich gerade zum 30. Mal jährten (1979 – 2009). Ich nahm dies zum Anlass, alle vorhandenen Live-Mitschnitte dieser Musiken zu bearbeiten und auf CD zu brennen, was eine große Arbeit bedeutete. Sie gelang, und ich legte die ca. 20 CDs dem Brief bei als Geburtstagsgeschenk. Die meisten enthielten ja seine Stimme bei den Lesungen, die er in den Passionsmusiken von 1979 bis 1999 hielt. Er rief mich später an und bedankte sich herzlich. Er nannte diese CDs eine „Sensation“, er könne die Musik jetzt besser würdigen als damals als durch die eigene Beteiligung Abgelenkter. Sie machten sogar schon die Runde in seinem Bekanntenkreis außerhalb Kelsterbachs, wo sie mit großer Begeisterung gehört würden. – Zum 80. Geburtstag nun dieser Text:
Es war im März 1972. Ich studierte damals in Hamburg Klavier als Hauptfach, nachdem ich das Kirchenmusikstudium dort vorerst mit der C-Prüfung abgeschlossen und hinter mir gelassen hatte (wobei die C-Prüfung in Hamburg seinerzeit etwa dem Anspruch von B in Hessen entsprach). Nun war ich in den Frühjahrsferien bei meinen Eltern in Nordenstadt. Ein Schüler von mir (Günter Bär) wusste von einer neuen Orgel in Frankfurt-Niederrad, zu der wir fuhren, und die wir enttäuscht verließen. Aber man hatte uns dort gesagt, dass in der Martinskirche in Kelsterbach, das sozusagen auf dem Heimweg lag, eine wirklich gelungene neue Orgel zu finden sei. Im Pfarrbüro empfing uns schon damals die Sekretärin Helga Rehwagen, die noch Jahrzehnte dort wirkte, und schickte uns zum Pfarrer ins „Sälchen“ hinter der Kirche, wo die Frauenhilfe Kaffee trank (es muss also ein Mittwoch gewesen sein – heute noch trinkt die Frauenhilfe mittwochs Kaffee). Nur den Pfarrer konnten wir nicht finden, wir sahen nur weißhaarige Frauenköpfe in der Runde. Wie ein Schock wirke es auf uns, als sich plötzlich ein relativ junger Mann (damals 37) mit den Worten „ei hier isser doch!“ erhob, dessen prächtiger weißer Haarschopf sich in nichts von dem der alten Damen unterschied. Er führte uns in die Kirche. Ich spielte Bachs D-Dur-Präludium auswendig (wie schon 1967 in Siena bei Germani) und war hin und weg von der Klangschönheit der Orgel, die mich an den Klang der großen Michaelis-Orgel in Hamburg erinnerte, wo ich zuvor konzertiert hatte („Liebe auf den ersten Klang“ wurde einmal ein Zeitungsinterview darüber betitelt). Aber nicht nur ich war hin und weg: auch der Pfarrer war es von meinem Spiel, erwartete mich unten mit vor Staunen offenem Mund und bot mir auf der Stelle das Kantorenamt an, das gerade vakant sei. Nun blieb mir der Mund offen stehen vor Überraschung. Dies war ja keine Entscheidung für einen Moment, zumal ich schon für das Sommersemester in Hamburg eingeschrieben war. „Wir warten auf Sie,“ sagte der Pfarrer und hielt Wort: am 1. August 1972 trat ich das Kantorenamt an St. Martin als Dreiundzwanzigjähriger an. Als dritter Hauptamtlicher auf dieser B-Stelle nach Lore Hübner und Sieglinde Hohn, obwohl ich ja erst die C-Prüfung für das Nebenamt hatte (wäre bei heutiger Bürokratie nicht mehr möglich und war es auch damals nur dank der unglaublichen Raffinesse des Pfarrers). Und obwohl sich zuvor schon einige hauptamtliche Kantoren und Kantorinnen beworben hatten (wie ich erst viel später erfahren habe, darunter z.B. auch die früh verstorbene Dr. Christine Finkbeiner, Frau des Frankfurter Organisten und Komponisten Reinhold Finkbeiner, 1929 – 2010). Natürlich wurde auch mein geringes Alter kritisiert – dazu Lichtenthaeler weise: „Das gibt sich von selbst und wird mit jedem Tag besser!“ – wie recht er hatte (auch, wenn inzwischen ein Wendepunkt erreicht ist, an dem sich diese Aussage langsam ins Gegenteil kehrt)!
Zu sehr günstigen Konditionen erhielt ich die Wohnung im Kindergarten, die idealer nicht sein konnte, da man hier Tag und Nacht üben kann, ohne zu stören. Ein Klavier konnte ich mir anfangs jedoch noch nicht leisten, denn ich erhielt einen sehr geringen Lohn, wofür mich aber die Begeisterung für die wunderbare Orgel mehr als entschädigte, die ich heute noch liebe wie am ersten Tag.
Nun musste ich wieder Kirchenmusik studieren und wollte zunächst ganz bescheiden die B-Prüfung an der Kirchenmusikschule in Frankfurt nachholen … und fiel bei der Aufnahmeprüfung durch (tat nicht „fromm“ genug). Darauf ging ich direkt zur Staatlichen Hochschule für Musik zum A-Studium … und wurde sofort aufgenommen. Dort legte ich 1977 die A-Prüfung ab, wodurch ich plötzlich für die B-Stelle an St. Martin überqualifiziert war, während ich die Jahre zuvor zumindest auf dem Papier als „unterqualifiziert“ galt (Gott sei Dank nur den Prüfungspapieren nach!). Diese „Papiere“, ohne die man in unserer Gesellschaft „nichts“ ist, waren mir so egal, dass ich fast auf das Weiterstudium verzichtet hätte und wie durch ein Wunder diesen Abschluss hinter mich brachte, den ich für mich nicht gebraucht hätte, um zu wissen, was ich konnte (dafür wurde mir in der Hochschule bewusst, was man dort alles nicht lernte und deshalb so schnell wie möglich da raus musste – Nikolaus Harnoncourt äußert sich oft ähnlich). Aber der Pfarrer drängte mich zu dieser formalen Erfüllung (wofür ich ihm dankbar bin, denn ohne sie kann man können, was man will, es zählt heute nichts – selbst ein Bach wäre unter diesen Bedingungen heute nichts: er hatte weder Studium noch Abschluss auf dem Papier!).
Meine liturgiewissenschaftliche Staatsexamensarbeit über „Die Entwicklung des Eucharistischen Hochgebetes“ ließ er bei seinem Buchbinder als Buch in geringer Auflage binden.
Einmal hatte ich beim Studium in Frankfurt mein Portemonnaie mit 200 DM (ca. 1/3 meines Monatseinkommens) verloren – der Pfarrer ersetzte mir sofort und ungebeten den großen Verlust aus der „Portokasse“!
Er selbst war immer, ob dienstlich oder privat, äußerst korrekt (und oft teuer) gekleidet, von klassisch bis manchmal auch auffallend exzentrisch, aber meine bescheidene Kleidung passte ihm nicht. So fuhr er mit mir zum Einkleiden ganz nach der damaligen Mode nach Mainz und Frankfurt: bunte Hemden und Krawatten, dazu passende Jacken, enge Hosen mit breitem Bund und weitem Schlag, Schuhe mit hohen Absätzen usw. – aber zahlen musste ich natürlich selbst, es kostete mich fast zwei Monatseinkommen, ja, allein die Pelzmütze aus sibirischem Biber fraß einen Monatslohn, aber sie ist heute noch wie neu (Qualität!).
Gleich im zweiten Jahr meiner Tätigkeit ließ er auf meinen Wunsch das gerade Orgelpedal gegen ein radiales auswechseln, das meiner „Germani-Pedaltechnik“ sehr entgegen kam – und er ließ es die Frauenhilfe bezahlen. Überhaupt legte er immer Wert darauf, dass jeder „gutes Handwerkszeug“ hatte, denn er sei ja selber „Handwerker“ (er war auch gelernter Schlosser).
Er nannte es eine „Spielwiese“, die er mir neben dem Studium in Kelsterbach bieten wollte. Denn er dachte, dass ich danach andere Wege ginge und ihm nicht in die Quere kommen würde. Schützend hielt er seine Hand über mich, was manchmal einer „Schutzhaft“ gleichkam und mich isoliert und (zu meinem Glück damals!) blind für die niederziehende Realität meiner unmittelbaren Umgebung und damit frei und ungehemmt in meinem künstlerischen Elan machte (er war sich immerhin dessen bewusst, was er tat – manchmal zahlt man für die Kunst mit geradezu notwendigem Realitätsverlust). Nie wurde ich in diesen ersten fünf Jahren (und leider auch später kaum) zum Kirchenvorstand eingeladen (man muss fast sagen „vorgelassen“), damit die grundverschiedenen Welten sich nicht gar zu hart im Raume stießen. Dem Kirchenvorstand erzählte er: „So en Künstler is für uns wie so e fremd Dier, dem mir besser aus’m Wech gehe!“ (er sprach „mänzerisch“ und war auch im Mainzer Carneval aktiv). Er selbst schätzte meine Kunst, war sich aber immer bewusst, dass sie nicht recht zur Umgebung passte (in der er ja selbst eigentlich ein „Exot“ war – Solidargemeinschaft eigener Art!). Primitive Angriffe aus dem Kirchenvorstand ließ er einfach abblitzen oder verteidigte mich, was die Kirchenvorsteher gegen mich aufbrachte – denn gegen ihn waren sie letztlich machtlos. Diesbezüglich sagte mir einmal ein älterer Kirchenvorsteher (ich nenne bewusst keine Namen – viele sind längst tot) in einem der seltenen offenen Momente bildhaft: „Wenn wir den ,Schwarzkittel‘ vor uns haben, dann gehen wir automatisch auf die Knie – das ist bei uns einfach drin von Jugend an.“ Der Pfarrer wusste sehr wohl, weshalb er die Kirchenvorstandssitzungen nur im „Schwarzkittel“ (priesterliches schwarzes Gewand mit weißem Kragen, das er auch bis zuletzt bei offiziellen Anlässen trug, siehe Fotos) und streng hierarchischer Sitzordnung abhielt!
Ein harmloses Beispiel solcher Angriffe, wie sie öfter vorkamen, eigentlich zum Schmunzeln, wenn es nicht zu traurig wäre: Gleich in meinem ersten Ostergottesdienst 1973 spielte ich Bachs D-Dur-Präludium (ein Osterstück par excellence). Als ich an die erregenden Schlusstakte mit Doppelpedal und fast Regerschen Akkordballungen kam, stand ein alter Kirchenvorsteher, sich sicherlich nicht leichtfertig in seine Verantwortung nehmend, auf und wandte sich besorgt und um noch größeres Unheil abzuwenden an den vorne auf der Seitenbank lauschenden Pfarrer: „Jetzt wird’s aber Zeit, dass Sie einschreiten – der macht ja die ganze Orgel kaputt!“ Offenbar nichts so Ungewöhnliches und nicht neu für mich: 1967 spielte ich César Francks a-moll-Choral in einem Konzert in Delkenheim, worauf mir auch der dortige Kirchenvorstand das Spielen auf „unserer“ Orgel aus gleichem Grund verbot, so „modern“ erschien ihnen die Harmonik! – In meinem Antrittsgottesdienst 1964 in Nordenstadt bekamen nach eigener Aussage einige fromme Frauen „fast einen Herzinfarkt“, so elementar wirkte damals noch Bachs d-moll-Toccata auf schlichte Gemüter (und wie dann erst zur Bach-Zeit!). Der Kirchenvorstand ließ sogleich die Register Mixtur und Trompete lahmlegen vom Orgelbauer, damit ich nicht mehr so „dramatisch“ spielen konnte! Eigenhändig machte ich das rückgängig…
Ich war quasi des Pfarrers „Geschöpf“ und bis zu jener A-Prüfung eigentlich nur als „Kantor von seinen Gnaden“ und zu seiner Freude angestellt (wie Künstler früher an Adelshöfen). Das sollte sich nach der A-Prüfung, die mich zumindest anstellungsmäßig von ihm unabhängig machte, ändern (auch erhielt ich nun besseren Lohn, der mich aber ebenso wenig interessierte wie diese „Prüfungspapiere“). Denn befreit von der Hochschule legte ich gleich mit einzelnen Konzerten und Konzertreihen los, die ja fast alle noch bis heute bestehen (damals von einigen Musikvereinen, die im Jahr nur ein Konzert zustande brachten, als „Konkurrenz“ beneidet und angefeindet). Damit stieg auch mein Ansehen, besonders außerhalb Kelsterbachs, was sich auch in steigenden Besucherzahlen von auswärtigen Konzertgästen zeigte (von Kirchenvorstehern, die nie in die Konzerte kamen, hörte ich dann: „Was haben denn die Auswärtigen hier zu suchen, das sind doch unsere Veranstaltungen.“ Einmal allerdings ereilte mich unvorhersehbares Lob bei der Bekanntgabe meiner Konzerttermine: „Bravo! Da haben wir doch was, um die Christuskirche [Nachbargemeinde] zu übertrumpfen!“). Hier gerieten dann doch des Pfarrers ehrlicher Stolz auf den Kantor einerseits und andererseits Eitelkeit und Eifersucht in inneren Konflikt (unausgesprochen galt „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“). Wie mir versichert wurde, gab es in Sitzungen solche und ähnliche Äußerungen von Kirchenvorstehern: „Der Noll darf uns hier nicht zu groß werden, dem müssen wir die Flügel stutzen, bevor er abhebt.“ … was ihnen in Kelsterbach gelungen ist. Der Pfarrer hielt sich zurück, aber widersprach solchen Tendenzen nicht mehr, wodurch er sie passiv und indirekt gedeihen ließ – es war nun leider willkommener Wind auf seine Mühlen. Statt sich meine Erfolge auf die eigene Fahne zu schreiben, ließ man in der Gemeinde meine Bemühungen einfach ins Leere laufen (ein Kirchenvorsteher sagte einmal richtig, man ließe mich „am ausgestreckten Arm verhungern“). Nun prallten also doch noch die verschiedenen Welten zunehmend aufeinander – nur jetzt war die „schützende Hand“ bewusst abgezogen und die Dinge stießen sich desto härter im Raum (aus „Liebe“ sei „Hassliebe“ geworden, wurde gesagt).
Dem Verhältnis abträglich war auch meine Position als stellvertretender Vorsitzender der Mitarbeitervertretung des Dekanats ab 1979 (später sogar Vorsitzender), zumal ich nun amtlich gegen manchmal zu willkürliche Selbstherrlichkeit des Pfarrers gegenüber anderen Mitarbeiter vorgehen musste. Wieder versuchte mich ein alter Kirchenvorsteher in der Konfliktsituation wohlwollend aufzuklären: „Warum kriechen Sie dem nicht einfach hinten rein? Wir machen’s doch auch so und haben unsere Ruhe!“
Und dem allem zum Trotz hielt ich zäh an meinem musikalischen Anspruch fest, wenngleich meinem künstlerischen Elan das Leben zunehmend schwer gemacht wurde (später, 2003, dann noch durch die fast ungewollt, weil dilettantische „feindliche Übernahme“ ins Dekanat mit fast einjährigem Tauziehen per Anwalt um lähmende, vollkommen unkünstlerische Prozenteinteilungen der Arbeit, aber das wäre ein anderes Kapitel – immerhin hätte ein Pfr. Lichtenthaeler sowas nicht mit einem Mitarbeiter machen lassen: er stellte sich nach außen immer mit allen Mitteln vor seine Leute, auch wenn er intern „seine Hühner lieber selber sengte“, wie eine Mitarbeiterin einmal treffend sagte, eben fast wie bei einem absoluten Herrscher).
Bei all dem blieb in meinem Fall doch im Hintergrund immer die Achtung selbst in heftigem Streit (möge mancher Übereifer von beiden Seiten vergeben sein!), da er wusste, wen er vor sich hatte, aber er zeigte sie nicht mehr nach außen. Auch achtete er immer die Kompetenz des Kantors, redete in musikalische Fragen nicht hinein und verwies immer auf die alleinige Zuständigkeit des Kantors dafür (was nach ihm leider nicht mehr immer der Fall war).
Wie man mir ebenfalls glaubhaft versicherte, soll er mich in der Chronik der Martinsgemeinde, die ich selbst wohl nicht einsehen darf, als einzigen nur in höchsten Tönen lobend erwähnt haben, was manch einem (der dies aber lesen darf) gar nicht schmeckt.
Die Lieder erhielt ich immer vier Wochen voraus. Das Lied nach der Predigt durfte ich nach Belieben streichen, wenn ich dafür ein passendes Musikstück anzubieten hatte. Dazu schrieb ich dann immer einen kurzen erläuternden Text, den er ohne Abstriche wörtlich verlas (in letzter Zeit, ca. 2001-03, wurde dagegen sogar die Abkündigung des Nachspiels mit den Lebensdaten des jeweiligen Komponisten verweigert mit der Begründung, der Gottesdienst sei kein Konzert, wofür bei mir auch nie die geringste Tendenz vorlag!).
Bekannt war auch sein schlagfertiger, hintertgründig-schwarzer Humor, mit dem nicht jeder zurecht kam. Ein Beispiel: Bei Regen war ich auf dem Weg zum Gottesdienst ausgerutscht, gestürzt und hatte mich mit dem Schirm knapp neben dem Auge blutend verletzt. Als er mich so sah, sagte er ohne eine Sekunde zu überlegen: „Jetzt weiß ich, was wir heute singen: O Haupt, voll Blut und Wunden.“
Wolfgang Lichtenthaeler war Pfarrer an St. Martin von 1964 bis 1999. Gemeindeaufbau war bei ihm fast im wörtlichen Sinn eine vorbildliche Bautätigkeit, wofür er immer (wie, bleibt sein Geheimnis) zum richtigen Zeitpunkt die nötigen Mittel auftrieb. Als ca. 1998 der damals neue Landeskirchenmusikdirektor Michael Graf Münster bei mir in Kelsterbach seinen Antrittsbesuch machte, fiel diesem besonders „der für die EKHN untypische gepflegte Zustand aller Gebäude“ auf. Um nur einiges zu nennen: Kindergarten, Modernisierung des Pfarrhauses, das noch sehr lange nur mit Kohleöfen beheizt wurde, Haus Festeburg, Renovierung der Kirche, Schwesternstation, die Erweiterung des Geläuts auf fünf Glocken und nicht zuletzt eben die Förster & Nicolaus-Orgel von 1970, über die ich ausführlich schrieb (siehe https://erbacher-hof.de/orgel/kelsterbach/StMartin) – am 1. März 2014 ist nun auch der Erbauer der Orgel, Orgelbaumeister Manfred Nicolaus (geb. 1924), in Lich verstorben (bei der Planung öffnete der Pfarrer ganz bewusst eine Flasche Auslese und stieß mit Herrn Nicolaus an mit den Worten: „Ich verstehe nichts von Orgeln, aber wie dieser Wein soll die neue Orgel klingen.“).
Dieser Orgelartikel erschien dann zuerst in „Der Martinsbote“, Juli/August/September 2012, später auch etwas abgeändert in „Ars Organi“ (2/2013), wobei die Redaktion den Namen Lichtenthaeler, warum auch immer, gestrichen hatte. Ich sorgte dafür, dass er wieder aufgenommen wurde. Wieder rief er bei mir an, um sich zu bedanken. Sehr überschwänglich nannte er meinen Text „die schönste Liebeserklärung, die mir in Kelsterbach gemacht wurde“.
Er wusste, was er an „unserer“ Orgel hatte. Lange nach seiner Pensionierung kam er einmal zurück von Freiberg in Sachsen, wo er die berühmte Silbermann-Orgel gehört hatte, und schilderte mir pointiert seinen Klangeindruck: „Unne brummt’s, owwe klingelt’s, un in de Midd nix – da brauche mir uns nit zu verstecke.“ Ich stimme voll zu.
Er war eine dominierende Persönlichkeit. Und er war auch ein „bunter Vogel“ (oft sogar direkt durch auffallende Kleidung), eine unverkennbare Farbe in der oft tristen Landschaft. Manchmal ging er auch bis an die Grenze der Legalität – immer unter der Frage „cui bono?“, „wem nützt es?“ Leider gibt es immer weniger solcher Menschen, denn eine immer enger geschraubte Normierung, Überwachung (heute auch digital bis in die Privatsphäre) und Bürokratie lässt in Politik und Kirche fast nur noch allen spießigen und kleinlichen Kriterien genügende Stromlinientypen hochkommen, die so langweilig sind, dass sie einfach gegen nichts, aber auch gar nichts verstoßen können, auch nicht, wo es nötig ist, z. B. um Anstoß zu erregen um anzuregen, wie Jesus selbst es tat (und gerade deshalb so viel falsch machen und wirkungslos bleiben!), und deren einzige Farbe grau ist – Medaillen, die immer zwei Seiten haben müssten, hier aber nur eine haben, und die oft nicht mal geprägt. Aber keine Verklärung: Leicht ist es allerdings nicht, mit solchen geprägten Persönlichkeiten zu leben und zu arbeiten (einer seiner Söhne sagte einmal: „Wenn mein Vater ein Zimmer betritt, dann ist das Zimmer voll“). Aber aus der Distanz, nicht als gelebte, sondern erzählte Geschichte, wird daraus etwas wie erlebte Literatur, oft so unglaublich, wie sie sich kein Schriftsteller ausdenken könnte. Hier wäre noch viel von Pfr. Lichtenthaeler zu erzählen, wie es heute nur weniges zu erleben gibt (und wenn ich es immer wieder erzähle in gewissen Kreisen, fasziniert es die Menschen, eben weil man nicht mehr unmittelbar betroffen ist).
Er residierte in dem stattlichen Pfarrhaus wie ein Fürstbischof in seinem Schloss (wozu auch sein prächtiger Siegelring passte), das er mit den kostbarsten Kunstschätzen angefüllt hatte, wie man sie sich selbst mit einem Pfarrergehalt kaum leisten konnte. Man konnte sich kaum vorstellen, dass er es je verlassen würde. Als einer seiner Söhne Theologie studierte, befürchteten alle, dass er so etwas wie eine „Familiendynastie“ mit seinem Sohn als Nachfolger einrichten wollte. Aber gerade hier zeigte er für alle unerwartet wahre Größe: nach seiner Emeritierung hat er sich nie mehr in Belange der Martinsgemeinde eingemischt, und dies, obwohl er in Kelsterbach wohnen blieb und ein Haus im Gebiet der Nachbargemeinde bezog. Lange genug hatte er selbst anfangs unter der Tyrannei seines Vorgängers gelitten, und das wollte er aus eigener Erfahrung seinem Nachfolger ersparen – und hielt Wort.
Nie war ihm ein Gottesdienst zu viel. Jahrelang betreute er die Friedensgemeinde mit und hielt selbst dort zusätzlich alle Gottesdienste und Kirchenvorstandssitzungen. In meinen ersten Jahren (es waren bestimmt fast 10 Jahre) fand zusätzlich zum Sonntagsgottesdienst jeden Mittwoch eine Andacht statt, später nur noch in der Advents- und Passionszeit (regelmäßig von mir musikalisch ausgestaltet). Im laufenden Jahr entfielen dann erstmals die Passionsandachten wegen der Vakanzzeit.. Eine kaum zu überschätzende Stütze war ihm allerdings bis zuletzt seine fähige Ganztagssekretärin Helga Rehwagen, die alles im Griff hatte.
Am Palmsonntag, dem 24. März 2013, hielt er als Vertreter seinen letzten Gottesdienst in St. Martin, wo er nur noch selten predigte (dagegen häufig im Dekanat). An der Liturgie wurde in seiner Amtszeit nie ein Jota geändert, und auch diesen Gottesdienst musste ich nach „seiner“ alten Ordnung spielen, wie ich es früher 27 Jahre lang getan hatte (so lange überschnitt sich unsere Dienstzeit). Diese Predigt ging einem unter die Haut, denn er sprach über die unausweichliche Gewissheit des Todes, besonders seines eigenen … und ließ eine leise Sehnsucht danach und Neugier darauf durchklingen (nur, wenn er seine Frau dahinten sitzen sähe, wolle er gern noch ein bisschen bleiben).
Bereits schwer von Krankheit gezeichnet, besuchte es das Bach-Konzert am 28. Juli 2013 und saß oben im „Halbmond“, wie er die rundbogenförmige rückseitige Emporennische nannte. Dies war auch zugleich mein letztes Bach-Konzert, das 36. in dieser Reihe (1977 – 2013). Später schickte ich ihm die CD dieses Konzertes mit besten Genesungswünschen und der Bemerkung, sein Besuch habe das Konzert „geadelt“.
Mit seiner Frau Berber (Pfarrerin und Tochter des Mainzer Theologieprofessors Eugen Ludwig Rapp und einer holländischen Mutter) besuchte er die Christmette in St. Martin um 22 Uhr an Heiligabend 2013. Am Ausgang hörte ich die letzten Worte, die er in diesem Leben zu mir sprach: „Das Bach-Konzert war ganz, ganz großartig.
(hier folgt mein Brief zum 75. Geburtstag von Pfr. Wolfgang Lichtenthaeler am 10. April, dem Karfreitag des Jahres 2009):
Sehr geehrter, lieber Herr Pfr. Lichtenthaeler,
zu Ihrem 75. Geburtstag möchte ich Ihnen herzlich gratulieren, und zwar wie es dem besonderen Tag angemessen ist. Am Karfreitag Geburtstag haben: da kann man wirklich nicht sagen „Alle Jahre wieder…“. Bisher hatten Sie das erst zweimal im Leben, 1936 und 1998. Das nächste Mal wird es 2020 sein. Also durchhalten, sonst müssen Sie bis 2093 oder gar 2099 warten!In meinem Alter (und von Alter muss ich ja nun wahrlich schon reden) fängt man wie der alte Bach an, zu sichten, zu sammeln, zu sichern und zu sehen, was bleibt (vielleicht!!). Dies ist eine mühsame Arbeit (die letzten Wochen gab es wenig Schlaf), und als ein Zwischenergebnis lege ich Ihnen als erstem zum Geburtstag an diesem Karfreitag alle in St. Martin stattgefundenen Karfreitagsmusiken der letzten 30 Jahre vor (nicht jedes Jahr fand anfänglich eine statt), davon 20 Jahre immerhin im Zusammenwirken mit Ihnen. Es sind Dokumente, die in dieser Geballtheit zumindest bezeugen, dass da spirituell und kulturell nicht nichts war, um es einmal bescheiden auszudrücken. Ich gebe zu, ich war beim jetzigen (zwangsweisen) Durchhören selbst von dem Ergebnis überrascht, manchmal bewegt. Allein die Summe dieser Karfreitagsmusiken könnte man als befriedigende (weil gelungene) Lebensleistung betrachten – etwas, das sich nur im Rückblick sagen lässt. Aber dies ist ja nur eine Teilsumme, dazu eine noch offene.Das Besondere daran ist, dass sozusagen alles „aus einer Hand“ kommt, angefangen von der Musik über die Tontechnik, die Covergestaltung, die Herstellung (Brennen und Drucken) bis hin zum Schneiden und Einlegen der Cover (das tue ich ja alles ohne jede Hilfe, und es ist ein Glück, dass ich auch dies selbst kann). So hat alles eine persönliche Note, auch in mancher Unvollkommenheit.Man kann von einer Ära sprechen, deren Grundstein Sie gelegt haben. Zum einen, indem Sie dieser Kirche u. a. eine einmalig schöne Orgel besorgten. Aber auch (und das ist mindestens ebenso wichtig), indem Sie dieser Orgel den Organisten hinzufügten, der mit ihr umgehen kann, ja mehr noch: der sie liebt (immer noch!) – auch dies mögen die Aufnahmen bezeugen. Sie taten dies auf unkonventionelle Weise, in einem heute nicht mehr vorhandenen „Freiraum“, in dem sich sicherlich Freiheit und Willkür manchmal berührt haben mögen. Aber dies ist näher am Prinzip des Lebendigen, als toter und tötender Bürokratismus, mit dem man heute Probleme lösen will, der dabei aber oft selbst Ursache der Probleme ist.Und dann wussten Sie, was Kunst ist, vor die Sie sich schützend stellen konnten, auch wenn dies manchmal einer Schutzhaft ähnelte. Aber auch dies ist besser, als der un- oder (schlimmer noch!) halbgebildeten Masse schutzlos preisgegeben und zum Fraß vorgeworfen zu sein oder sich täglich vor plebejischen Geistern immer wieder erneut rechtfertigen zu müssen (ein heutiger Zug falsch verstandener Demokratisierung, die ihre Grenzen nicht kennt und vor allem das Wesen von Kunst verkennt).Und noch was, was vielleicht das Wichtigste ist (und dies blieb auch später als Grundton stets hörbar wie ein Orgelpunkt, auch wenn sich darüber zunehmend Dissonanzen türmten wie in spannungsvoller Musik): Sie wussten bei der allerersten Begegnung an der Orgel der Martinskirche nach wenigen Minuten Orgelspiel, wen Sie vor sich hatten, und boten mir die freie Organistenstelle an, ja hielten sie mir frei, bis ich vom Klavierstudium in Hamburg frei war, sie anzutreten – zur Schande muss hier gesagt werden, dass man in Kelsterbach bis heute nicht weiß, wen man da seit fast 40 Jahren als Musiker angestellt hat … und will es auch gar nicht wissen (erst recht im Dekanat nicht, das ja seit 2003 mein Anstellungsträger ist – ich bin ja nur noch „ausgeliehen“ an die Gemeinde für 5000 € jährlich!).So nehmen Sie denn mit meinen Glückwünschen diese Anerkennung und Danksagung als Zugabe hin.
Mit allen besten Wünschen,
Rainer Noll