Essay von Rainer Noll (1.4.2023)
Welches Geschlecht in der Menschheitsgeschichte glaubte nicht, dass seine Epoche den Zenit, die einsame, nie zuvor erreichte Höhe in der menschlichen Entwicklung darstellt, ja, der Mensch an sich die Krone der Schöpfung sei? Man redete sich ein, alles Negative und Unvollkommene, was je in der Geschichte zuvor war, überwunden zu haben und auf dem Gipfel des Fortschritts zu stehen, in wissenschaftlicher, technischer und auch moralischer Hinsicht.
Einer, der sich von dem Rausch des Fin-de-Siècle-Optimismus am Ende des 19. Jahrhunderts nicht täuschen ließ und dennoch nicht in einem Fin-de-Siècle-Pessimismus versank, war Albert Schweitzer, der 1931 schrieb: „Als man gegen Ende des [19.] Jahrhunderts auf allen Gebieten Rückschau und Umschau hielt, um seine Errungenschaften festzustellen und zu bewerten, geschah dies mit einem mit unfasslichen Optimismus. Überall schien man anzunehmen, dass wir nicht nur in Erfindungen und im Wissen vorangekommen seien, sondern uns auch im Geistigen und im Ethischen auf einer nie zuvor erreichten und nie mehr verlierbaren Höhe bewegten. Mir aber wollte es vorkommen, als ob wir im geistigen Leben vergangene Generationen nicht nur nicht überholt hätten, sondern vielfach nur von deren Errungenschaften zehrten … und dass gar mancherlei von diesem Besitze uns unter den Händen zu zerrinnen begönne.“ (Aus meinem Leben und Denken, München und Hamburg 1965, S. 123f – deshalb lautete der ursprünglich geplante Titel von Schweitzers Kulturphilosophie „Wir Epigonen“) „Krieg, der Traum vom „ewigen Frieden“ und Holz und Kohle“ weiterlesen