Wahrheiten – Halbwahrheiten – Meinungen – Lügen

Wahrheiten – Halbwahrheiten – Meinungen – Lügen

Ein Essay zur medienpolitischen Praxis von Rainer Noll (11.10.2020)

Es gibt Menschen, die sagen mir: „Mehr als drei Zeilen lese ich sowieso nie – geh‘ mir weg mit Deinen langen Mails!“ Ich sehe ja, was von meinen Rundmails durchschnittlich gelesen wird, obwohl sie meist kürzer sind als ganzseitige Zeitungsartikel oder gar ein Buch. Andere lesen überhaupt nur die Überschriften, etwa in einer Zeitung. Aber dieselben Menschen reden dann munter ohne jede Hemmung bei allem mit. Ein Stichwort, ein Reizwort: zack, in eine Kategorie eingeordnet und ein Etikett draufgeklebt – fertig! Ich kann verstehen, dass man auf diesem Weg überhaupt nur durchkommt durch die Flut an Informationen und Reizen in der heutigen Welt. Meinungen, meist ziemlich beliebige, mögen sich so bilden lassen – aber tieferes Wissen und Verstehen, Erkenntnis, Wahrheit und Weisheit? Nicht umsonst bezeugen Studien, wie mangelhaft schon in den Schulen das Verständnis von Textzusammenhängen ist.

Das wörtlich nur unverständlich zu übersetzende Wort des Horaz (20 v. Chr.) „sapere aude“ gibt der Aufklärer Immanuel Kant so wieder: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Dies sei unser Motto.

Nebenbei: gegen die Tendenz, heute Kant wegen gewisser Reizworte ohne deren historische Einordnung zum „Rassisten“, „Antisemiten“ oder sogar „Nazi“ zu erklären, empfehle ich wärmsten das Kapitel »Was hieß bei Kant „Euthanasie des Judentums“?« in „Philosophie hat Geschichte“ Bd. 1 (Frankfurt, 2003, S. 354ff) von dem brillanten Philosophiehistoriker Kurt Flasch (*1930) – hier erfolgt Aufklärung über den Aufklärer.

Auch Albert Schweitzer brauchte ganz unschuldig die in seiner Zeit üblichen Worte „Neger“, „Primitive“ und „Eingeborene“ – heute Reiz- und sogar Tabuworte – also klar: Schweitzer ein Rassist!?

In Ulm gilt jetzt sogar Melchior, der schwarze und dritte der zwei anderen heiligen Könige Balthasar und Caspar aus dem Morgenland, als „rassistisch“ und soll von der Weihnachtskrippe entfernt werden. Abgesehen davon, dass diese namentlichen Figuren nicht biblisch, sondern Legendengut aus dem 3. Jahrhundert sind (das Neue Testament spricht nirgends von drei oder Königen, sondern von „magoi“ = babylonische Gelehrte, Astronomen), sollen durch die Dreizahl die damals bekannten Erdteile Europa, Asien und Afrika repräsentiert werden. Dass „Melchior, der Mohr“ dabei ist, ist keine Diskriminierung von Afrikanern, sondern im Gegenteil eine Ehrenbezeugung für den „schwarzen Kontinent“!

Der Kernsatz eines schwarzen Kieler Wirtes (er nennt sein Restaurant stolz „Zum Mohrenkopf“) kürzlich bei „Hart aber fair“ lautete: „Wir Schwarzen müssen uns nicht von Weißen sagen lassen, was uns beleidigt.“ Auch Jürgen von der Lippe hob dieses mutige Statement als „Satz des Abends“ besonders hervor – er ist auf viele parallele Fälle anwendbar.

Weitere endlose Beispiele könnten folgen.

Wir sollten uns doch im Klaren sein, dass eine Wahrheit wahr bleibt, auch wenn sie vom Gegner, einem Außenseiter oder Narren (selbst von Trump) ausgesprochen wird (von Lüge gilt natürlich umgekehrt das Gleiche). In der parteipolitischen Praxis erlebte ich tatsächlich selbst auf unterster Ebene, dass eine zuvor vehement vertretene Ansicht ebenso vehement bekämpft wurde, sobald die gegnerische Partei zur selben Erkenntnis kam und diese auch noch aussprach, anstatt genau dann bei gleicher Einsicht zum Wohle aller an einem Strang zu ziehen. Es ist charakterlich schwach, sich seine eigene Identität erst zu schaffen, indem man sich einen Feind erfindet. Dazu genügt dann oft nur ein Reizwort, das aus dem Zusammenhang zitiert wird, um den anderen zu diskreditieren (aktuelle Beispiele gäbe es genug). Es ist ein Operieren mit Halbwahrheiten, von denen Thornton Wilder sagte: „Von Halbwahrheiten wird immer die falsche Hälfte geglaubt.“ Und von dieser „geglaubten falschen Hälfte“ gilt, was Mark Twain äußerte: „Es ist leichter die Menschen zu täuschen, als davon zu überzeugen, dass sie getäuscht worden sind.“ Auch das lateinische Wort unbekannten Ursprungs spricht dies aus: „Mundus vult decipi“ – die Welt will betrogen werden. Doch der Satz geht weiter: „ergo decipiatur“ – also möge sie betrogen werden. Diesem Nachsatz zu folgen oder nicht, zeigt die moralische Qualität.

In diesem Zusammenhang fällt mir noch der Bundestagspräsident Philipp Jenninger (1932 – 2018) ein, der am 10.11.1988 die Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht hielt, die ich selbst hörte. Er versuchte zu erklären, wie damals Menschen dachten, dass es überhaupt soweit kommen konnte. Aber diese für Menschen damals positiv erscheinenden Gründe heute auszusprechen (ein vermeintlicher Tabubruch), wurde ihm fälschlich (um nicht zu sagen böswillig) als Rechtfertigung, ja sogar als Propaganda für das Naziregime ausgelegt. Viele Abgeordnete verließen unter Protest den Saal. So auch die in der ersten Reihe sitzende jüdische Schauspielerin Ida Ehre (1900 – 1989), was als besonders gewichtiger Protest gewertet wurde … dabei hatte sie einfach nur unerträgliche Kopfschmerzen. Das mediale Echo in Deutschland, bei dem es zu falschen Zitaten und unzulässigen Verkürzungen kam, war verheerend. Unter diesem Eindruck trat Jenninger bereits am darauffolgenden Tag vom Amt des Bundestagspräsidenten zurück (der Mann war erledigt).

Joseph Pulitzer (1847 – 1911, Stifter des nach ihm benannten Preises für Journalisten) hatte schon erkannt: „Das größte Problem des Journalismus liegt darin, einem Auflageninstinkt ohne Rücksicht auf Wahrheit und Gewissen zu widerstehen.“ Und Hannah Arendt wusste, warum das so schwer ist: „Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wahrheit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht.“ Ist das vielleicht auch der „Erfolgstrick“ des Donald Trump?

Bleibt mir als Schluss nur das alte jüdische Sprichwort: „Die halbe Wahrheit ist meistens eine ganze Lüge.“

 

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