Letzte „Musikalische Meditation zur Todesstunde Jesu“ – Rainer Nolls Abschied in Meisterschaft

Erschienen in „Kelsterbach Aktuell“ am 23. Mai 2014

Selten hat Rainer Noll in seiner 42jährigen Zeit als Kantor an St. Martin in Kelsterbach, die nun endet, Werke wiederholt. Eine der Ausnahmen ist das „Stabat mater“, das der mit nur 26 Jahren verstorbene Giovanni Battista Pergolesi (1710 – 1736) auf dem Sterbebett vollendete und das den Schmerz der unter dem Kreuz stehenden Mutter Maria thematisiert, an dem ihr Sohn Jesus stirbt. Diese geniale Komposition – die bekannteste des 18. Jahrhunderts – dirigierte Noll am vergangenen Karfreitag zum dritten Mal (nach 1993 und 2001) in seiner letzten musikalischen Darbietung in vollendeter Meisterschaft.

Die herausragenden Solisten waren die Heidelberger Sängerinnen Eva Lebherz-Valentin, Sopran, die seit 19 Jahren in St. Martin mitwirkt, und ihre gerade mal 21 Jahre alte, in Köln studierende Tochter Esther Valentin, Alt, der eine große sängerische Karriere bevorsteht. Die beiden harmonierten in idealer Weise, wobei die Stimme der Mutter noch die Jugendlichkeit der Tochter hatte, während die Tochter bereits die Reife der Mutter aufwies. Das „Mainische Collegium Musicum“ begleitete elegant und makellos, im kontrastreichen Wechsel der lyrischen wie der dramatischen Partien überzeugend. Klaus Preußner las dazu die Passionsgeschichte nach Johannes.

Ebenfalls meisterhaft hatte Rainer Noll an der herrlichen Orgel die Meditation eröffnet mit Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge in f-moll. Er arbeitete durch geschickte Registrierung wechselnde Beleuchtungen und Schattierungen der klagenden Komposition subtil heraus bis hin zur gewaltigen Schlussapotheose der melancholischen Fuge. In seinen Programmerläuterungen nannte er das Werk „den Inbegriff des Leidens“, ein tapferes Ringen mit dem Schmerz, dem kein Sieg folgt, sondern Ergebung ins Unvermeidliche: „Über ergreifende Resignation kommt es nicht hinaus.“ Vielleicht hatte er diese Thematik ganz bewusst gewählt, weil es in ihm selbst bei diesem Abschied ähnlich ausgesehen haben mag.

Eckard B. Gandela, Frankfurt am Main

Meditative Karfreitagsmusik – vor 34 Jahren von Rainer Noll begründet

Erschienen in „Kelsterbach Aktuell“, 12.4.2013

Rainer Noll, der Kantor der St. Martinsgemeinde in Kelsterbach, spielte 1979 seine erste Karfreitagsmusik an der Orgel der St. Martinskirche. Später nahm er auch gelegentlich Gesangssolisten und weitere Instrumente hinzu.

In diesem Jahr bestritt er die „Musikalische Meditation zur Todesstunde Jesu“ wieder allein an der wunderbaren Förster & Nicolaus-Orgel, ergänzt durch die Lesungen der Passionsgeschichte durch Pfarrvikarin Inga von Gehren. Werke von Johann Seb. Bach umrahmten die feierliche Stunde. Ganz dem Tag angemessen, begann Noll mit dem in „Grautönen“ gehaltenen Präludium und Fughette d-moll, Bachwerkeverzeichnis (BWV) 899. Es folgten das ursprünglich für Laute komponierte Präludium c-moll BWV 999 und die Fughette c-moll BWV 961, die sich beide, wie das vorherige Werk, unter Bachs Klavierwerken finden, aber gerade auf der Orgel einen besonderen Reiz entfalten.

Von dem zeitgenössischen Komponisten Lothar Graap (geb. 1933) erklang die Choralpartita über „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?“, die weniger durch ihre gar nicht moderne Tonsprache als vielmehr durch Nolls subtile Klangfarbenwahl und feinsinnige Interpretation überzeugte.

Als kompositorische Schwergewichte müssen die drei Brahms-Werke gelten: die beiden Choralvorspiele „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?“ und „O Haupt voll Blut und Wunden“, Op. posth. 122 Nr. 2 und 9, sowie vor allem die kontrapunktisch dichte und komplexe Fuge as-moll, die allein schon durch ihre entlegene Tonart mit sieben b als Vorzeichen höchste Anforderungen an Konzentration, Intensität, Gestaltungskraft und Technik des Interpreten stellt. Hier muss man außerdem das Zusammenspiel von Orgel und Registrierkunst Nolls bewundern, das immer wieder neue, überzeugend romantische Klangbilder in glutvoller Darstellung hervorzauberte.

Nicht weniger beeindruckte Nolls ausgereifte Interpretationskunst in Bachs abschließender Choralfantasie BWV 665 über den Abendmahlschoral „Jesus Christus, unser Heiland“ in prächtigem barockem Plenumklang, deren triumphaler Schluss den wieder aus dem ganzen Umland angereisten Besuchern einen Ausblick auf Ostern eröffnete.

Eckard B. Gandela, Frankfurt am Main

Musikalische Meditation zur Todesstunde Jesu (2013)

Wie schon in den vergangenen Jahren, so lädt die St. Martinsgemeinde auch in diesem Jahr wieder zu einer

Musikalischen Meditation zur Todesstunde Jesu

am Karfreitag, dem 29. März 2013, um 15 Uhr

in der St. Martinskirche zu Kelsterbach.

 

Diese Passionsmusiken an Karfreitag hat Kantor Rainer Noll vor 34 Jahren begründet.

Diesmal spielt er Orgelwerke zur Passionszeit aus drei Epochen (Barock, Romantik und Moderne) von Johann Sebastian Bach, Johannes Brahms und Lothar Graap.

Die Lesungen hält Pfarrvikarin Inga von Gehren.

 

Diese Musikalische Meditation zu Jesu Leiden und Sterben bietet eine intime Alternative zu den großen Passionsaufführungen.

Der Eintritt ist frei, am Ausgang  wird um eine Spende für die Kirchenmusik gebeten


Programm

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)

Präludium und Fughette d-moll BWV 899

GEBET

Präludium und Fughette c-moll BWV 999 + 961

LESUNG

Lothar Graap (* 1933)

Choralpartita „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?“

(Thema – Variation 1+2+3 – Fantasie)

LESUNG

Choralpartita „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?“

(Interludium – Caprice – Sarabande – Duo – Choral)

LESUNG

Johannes Brahms (1833 – 1897)

„Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?“  Opus posthumum 122, 2

LESUNG

„O Haupt voll Blut und Wunden“ Opus posthumum 122, 9

LESUNG

Fuge as-moll

VATERUNSER UND SEGEN

Johann Sebastian Bach

Choralfantasie „Jesus Christus, unser Heiland“ BWV 665

STILLE

Lesungen: Pfarrvikarin Inga von Gehren

Wir bitten um eine Kollekte zur Pflege der Kirchenmusik

 

 

Johann Sebastian Bach wurde am 21. März 1685 in Eisenach geboren. 1703-07 Organist in Arnstadt. 1707-08 Organist an St. Blasius in Mühlhausen. 1708-17 Hoforganist, Cembalist und Violinist (seit 1714 auch Hofkonzertmeister) in Weimar. 1717-23 Hofkapellmeister in Köthen. Ab 1723 Kantor der Thomaskirche und „Kirchenmusikdirektor“ der Stadt Leipzig, wo er am 28. Juli 1750 starb. – Eine in mehreren Teilen erschienene Sammlung seiner Werke nennt Bach „Clavierübung“. Das Wort meint weder „Klavier“ noch „Übung“ (Etüde) im heutigen Sinn. Abgeleitet vom lateinischen clavis = Taste bezeichnet Bach mit „Clavier“ alle Instrumente, die Tasten haben und deren Namen sich direkt von clavis ableitet, also neben der Orgel auch Clavichord, Clavicembalo bzw. Clavizimbel und Klavier. Die Zuordnung der Werke war z. T. offen. So stehen die beiden Präludien und Fughetten d-moll und c-moll (Fughette = kleine Fuge) unter den Klavierwerken (aber nicht in der „Clavierübung“), entfalten aber auf der Orgel einen besonderen Reiz. Das Thema der d-moll-Fughette ist sicher eines der schlichtesten, die Bach je gewählt hat: aus solch bescheidener Keimzelle lässt er eine wundervolle Miniaturarbeit erblühen. Das c-moll-Präludium trägt den Zusatz „pour la lute“ (für die Laute) und eignet sich durch seine schmerzvolle Monotonie und den ständig „stürzenden“ Bass besonders für Karfreitag. Es endet in G-dur, also auf der Dominante, wie mit einem Fragezeichen – als „Antwort“ hänge ich eine alleinstehende zweistimmige Fughette in c-moll an. – Die Choralfantasie „Jesus Christus, unser Heiland“ steht in der Sammlung der „Achtzehn Leipziger Choräle“, die Bach am Ende seines Lebens angelegt hat. Das Besondere ist hier, dass Bach den Text Zeile für Zeile musikalisch ausdeutet, wobei die Choralmelodie durch alle Stimmen wandert. In der 2. Zeile wird der „Gotteszorn“ durch einen punktierten „Geißelrhythmus“ dargestellt, wie er auch z.B. im Rezitativ „Erbarm es Gott“ und der Arie „Können Tränen meiner Wangen“ in der Geißelszene der Matthäuspassion auftaucht. Die 3. Zeile ist ganz erfüllt von „bitterem Leiden“ durch gegeneinander laufende chromatische Gänge („Passus duriusculus“ = harter Gang) bei grausiger Harmonik. Zeile 4 reißt uns dann förmlich durch ein kurzes, kräftiges Aufwärtsmotiv aus der „Höllenpein“, während die anderen Stimmen uns immer wieder nach unten ziehen wollen. Den triumphalen Schluss erweitert Bach ganz bewusst zur Achtstimmigkeit: „Acht“ ist das Symbol der Taufe, der „neuen Schöpfung“ durch die Auferstehung, also ein versteckter Verweis auf Ostern (Taufsteine und Taufkapellen wurden oft achteckig gestaltet!). Bei Bach muss immer zum „gefühlten“ das „wissende“ Erleben hinzukommen, um die Tiefe seiner Aussage zu erfassen.

Lothar Graap wurde 1933 in Schweidnitz/Schlesien geboren. 1946 Unterricht am Konservatorium Görlitz. 1950-54 Studium an der Kirchenmusikschule Görlitz bei Eberhard Wenzel (Theorie und Komposition) und Horst Schneider (Orgel) mit Abschluss B-Prüfung. 1954 Kirchenmusiker in Niemegk/Kreis Belzig. 1957 Kantor an der Klosterkirche Cottbus. 1975 A-Prüfung. 1981 Kirchenmusikdirektor. 1991 Dozent für Orgelspiel am Cottbuser Konservatorium. Seit 1998 wohnhaft in Schöneiche bei Berlin. – Die zehnteilige Partita „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?“ spielt nach dem Choral in acht vielfältigen Variationen mit dem Themenmaterial des Liedes und schließt wieder mit dem schlichten Choral ab.

Johannes Brahms wurde 1833 im Hamburger „Gängeviertel“ als Sohn eines armen Berufsmusikers geboren. Mit sieben Jahren Klavierunterricht, mit zehn erstes öffentliches Auftreten. Als Zwanzigjähriger begleitet er den ungarischen Geiger Eduard Reményi auf einer Konzertreise und lernt den Geiger Joseph Joachim, Franz Liszt und Clara und Robert Schumann kennen, der ihn in seiner „Neuen Zeitschrift für Musik“ der Musikwelt bekannt macht. 1857 Chorleiter in Detmold, 1859 Leiter eines Frauenchores in Hamburg. 1862 erste Wienreise. 1863/64 Chorleiter der Wiener Singakademie, dann freischaffend tätig, ohne Not zu leiden. 1872-75 Leiter des Wiener Singvereins und Direktor der „Gesellschaft der Musikfreunde“. 1878 Ehrendoktorwürde der Universität Breslau. 1886 Ehrenpräsident des Wiener Tonkünstlervereins. 1887 Ritter des Ordens „Pour le mérite“ für Wissenschaften und Künste. 1889 Ehrenbürgerschaft seiner Geburtsstadt Hamburg. 1897 Tod in Wien. Er schrieb zahlreiche Werke für alle Musikgattungen außer der Oper, darunter aber nur wenige Orgelwerke. – Die posthum 1902 veröffentlichten „Elf Choralvorspiele op. 122″ für Orgel sind seine letzten Kompositionen überhaupt. Sie haben Bachs Choralvorspiele des „Orgelbüchleins“ zum Vorbild, atmen aber harmonisch ganz den Geist der Romantik. Ihnen entstammen die beiden Choralbearbeitungen „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?“  und  „O Haupt voll Blut und Wunden“. – Aus den Kontrapunktstudien der Jugendzeit ging die 1856 entstandene Fuge as-moll hervor, die 1864 als Beilage der „Allgemeinen Musikalischen Zeitung“ und 1884 als Einzelausgabe erschien. Dass Brahms sie 1890 bei der strengen, selbstkritischen Revision nicht wie manch andere seiner Werke vernichtete, zeugt von seiner Wertschätzung dieser Komposition. Trotz aller „barocker“ kontrapunktischer Kunstfertigkeit (Spiegelung, Verkleinerung und Vergrößerung des unsäglich klagenden Themas) ist auch sie in ihrem nur an wenigen Stellen aufgehellten düsteren Charakter und der Wahl der entlegenen Tonart as-moll (mit sieben b als Vorzeichen – sie kommt im regulären Quintenzirkel gar nicht mehr vor!) ganz von romantischem Geist erfüllt. Eine traurigere Musik lässt sich kaum denken. Sie wirkt wie eine in Töne gesetzte Pietà. Kurz vor dem in hoffnungsloser Resignation verharrenden Schluss bricht die Musik ab, nachdem das Fugenthema im Sopran in durchbrochener Technik über der Themenkopfvergrößerung im Bass zitiert worden war: hier meint man Tränentropfen der Mutter Jesu, die ihren toten Sohn unter dem Kreuz beweint, zu Boden fallen zu hören.

Rainer Noll

Musikalische Meditation an Karfreitag – Jahrtausende berühren sich

(erschienen in „Kelsterbach Aktuell“, 13.4.2012)

Vor 33 Jahren begründete Kantor Rainer Noll die Passionsmusiken an Karfreitag. Trotz so langer „Routine“ und kürzlicher schwerer Erkrankung ließ er es sich nicht nehmen, auch für die Musikalische Meditation zur Todesstunde Jesu am vergangenen Karfreitag in St. Martin in Kelsterbach wieder ein völlig neues Programm zu erarbeiten und in gewohnt ausgereifter Meisterschaft zu präsentieren und auch im Programmheft profund zu kommentieren.

Zu Beginn sang die Heidelberger Sopranistin Eva Lebherz-Valentin stilsicher und sauber intoniert ein einstimmiges gregorianisches „Kyrie“ aus dem 11. Jahrhundert, dem Noll an der Orgel Bachs 700 Jahre später komponierten Manualiter-Bearbeitungen dieser Melodie aus dessen „Clavierübung III“ hochexpressiv gegenüber stellte. 300 Jahre früher als die Kyrie-Melodie entstand die ebenfalls gregorianische Weise von „Christe, du Schöpfer aller Welt“ (9. Jahrhundert). 1200 Jahre später schrieb Lothar Graap (geb. 1933) seine zehn einfühlsamen Orgel-Variationen über dieses Lied, bei denen Noll wieder mit überraschenden Klangfarben sein Publikum zu fesseln wusste. Zwischen diese Variationen verwoben sang Eva Lebherz-Valentin a capella die sechs Strophen das Chorals. Damit alternierend las Pfarrvikarin Inga von Gehren die 2000 Jahre alte Passionsgeschichte nach Matthäus. Ein dreiteiliges Geistliches Konzert „Gott ist treu“, ebenfalls von Lothar Graap, nahm das zuvor gelesene Kreuzeswort Jesu „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ auf und verwendete weit über 2000 Jahre alte Texte aus dem Alten Testament, endend mit der Friedensvision des Propheten Micha. In diesem ausdrucksstarken, atmosphärisch-anrührenden Werk erklangen erstmals Sopran und Orgel als Steigerung zum Abschluss zusammen, wobei Eva Lebherz-Valentin ihre ausgefeilte Kunst der Deklamation und Rainer Noll sein Können als sensibler, präziser Begleiter zeigen konnten. Mühelos fügten sich alle Elemente dieser Meditation aus verschiedenen Jahrhunderten und Jahrtausenden zu einem tief beeindruckenden Gesamtkunstwerk.

Die hier gebotene hohe Qualität zog nicht nur Kelsterbacher, sondern auch wieder zahlreiche Besucher aus dem Umland in die Martinskirche.

Eckard B. Gandela, Frankfurt am Main