Geglückter Bach in beglückender Vollendung

Erschienen in „Kelsterbach Aktuell“ am 12.8.2011

Seit vielen Jahren investiert der Magistrat der Stadt Kelsterbach in das Konzert zu Bachs Todestag in St. Martin, das diesmal am 31. Juli zum 34. Mal unter der Leitung seines Gründers, Kantor Rainer Noll, statt fand. Wieder wurde mehr als deutlich, wie verantwortungsvoll Noll mit den ihm anvertrauten „Pfunden“ wuchert, mit welchem Einsatz und Können er das investierte Geld in ein Vielfaches an künstlerischer Gegenleistung verwandelt (auch Bürgermeister Manfred Ockel brachte seine Wertschätzung allein schon durch seine Anwesenheit zum Ausdruck).

Auf dem abwechslungsreichen Programm standen drei Dialogkantaten von Johann Sebastian Bach, die man der barocken „ars moriendi“ (Sterbekunst) zurechnen kann. Die bedrängte Seele (Sopran)  führt ein Zwiegespräch mit ihrem Geliebten Jesus (Bass), der ihr Trost und Zuversicht zuspricht.

Zur Eröffnung erklang die Kantate „Ach Gott, wie manches Herzeleid“ BWV 58 in feierlichem, punktiertem Rhythmus der französischen Ouvertüre. Über allem schwebte die gerade in der Höhe glasklare, schnörkellose Sopranstimme Birgit Völkers mit der Choralmelodie, während Erik Frithjof (Bass) sich darunter eifrig um die Trostworte bemühte – mit besonders schönem Timbre in hoher Lage. Eine ausgefallene Besetzung hörte man in der folgenden Kantate „Tritt auf die Glaubensbahn“ BWV 152, in der der Hamburger Blockflötenprofessor Martin Nitz zu Oboe, Viola d’amore, Viola da Gamba (beide von Viola und Violoncello adäquat ausgeführt) und Continuo mit betörendem Ton, in dem man die Wärme und Süße von edlem Holz zu vernehmen glaubte, seine kostbare Altblockflöte hören ließ. Auch hier strahlend und anmutig der glockenreine Sopran der Grazer Sopranistin in der Arie „Stein, der über alle Schätze“, und zauberhaft das abschließende Liebesduett „Wie soll ich dich, Liebster der Seelen, umfassen“, in dem die Seele mit ihrem Jesus (dargestellt vom Augsburger Bass mit angenehmem Baritontimbre) „verzückt in den Himmel hinein“ tanzt (Zitat aus Nolls wieder ausgefeiltem Programmheft).

Als Programmkontrapunkt wurde die Kantatenfolge unterbrochen vom Doppelkonzert für Oboe und Violine in c-moll BWV 1060. Hier entfachten sowohl die Solisten (Jeanine Krause mit rundem Oboenton und Katrin Ebert mit zarter Violine) als auch das Orchester ein hinreißendes, rhythmisch prägnantes Feuerwerk in den Ecksätzen, während sie in dem Mittelsatz (Adagio) bezaubernden Schmelz über den begleitenden Pizzicati entfalteten.

In der letzten, dramatischsten Kantate „Selig ist der Mann“ BWV 57 mit lyrischen und kämpferischen Arien kam Hongxia Cui als Solo-Violinistin glänzend zur Geltung. Aber auch das eigens für diesen Anlass gegründete, auf historischen Instrumenten in internationaler Besetzung spielende „Mainische Collegium Musicum“ mit den noch nicht genannten Musikern Zsusanna Hodasz (Violine), Claudia Drechsler (Viola), Lydia Blum (Violoncello), Ichiro Noda (Violone) und Olaf Joksch (Orgel) überzeugte durch hohe Musikalität und ebensolches Können. Rainer Noll dirigierte das Collegium mit einer ausgewogenen Mischung aus Disziplin und Spontaneität, die alle mühsame Vorarbeit vergessen machte. So wurde die St. Martinskirche wieder zum Forum eines einzigartigen musikalischen und religiösen Erlebnisses höchsten Ranges.

Nicht nur mit herzlichem, sondern nicht enden wollendem begeisterten Applaus dankten beglückt die zahlreichen, wieder zum Teil weit angereisten Zuhörer den Künstlern nach dem schlichten Schlusschoral „Richte dich, Liebste, nach meinem Gefallen“ (Melodie „Lobe den Herren, den mächtigen König“).

Eckard B. Gandela, Frankfurt/Main

Rede von Dr. Ball (1997)

Zum Andenken an Dr. Werner Ball († 18. Mai 2002), den Gründer, Leiter und Cellisten des Heidelberger Kantatenorchesters seit 41 Jahren.

Hier seine Rede beim Bach-Konzert am 27. Juli 1997 in der St. Martinskirche Kelsterbach anlässlich des 25jährigen Dienstjubiläums von Kantor Rainer Noll (Tonbandnachschrift):

Es ist sicher außergewöhnlich, wenn ein Instrumentalist bei einem Konzert sein Instrument zur Seite legt, aufsteht und spricht, statt zu spielen. Aber diese Besonderheit ist sehr wohl begründet, denn Rainer Noll wirkt nun seit 25 Jahren hier in St. Martin. Sein Lehrer und Freund, der Kirchenmusikdirektor Peter Schumann von Heidelberg, wollte ursprünglich heute hier Orgelcontinuo spielen und wäre jetzt statt meiner von der Orgelbank aufgestanden. Und drittens, statt Herrn Schumann sollte nun ein anderer Mitwirkender an diesem Jubiläumstag neben seinem Instrumentalspiel auch ein kurzes Wort an Sie, die Zuhörer, und an Sie, lieber Herr Noll, richten.

Weshalb nun auch sprechen, da wir durch das Musizieren doch genügend Dank und Anerkennung ausdrücken können? Wir Instrumentalisten spielen heute die Noten, die Johann Sebastian Bach komponiert hat. Was erklingt und wie es erklingt, hängt aber in hohem Maße von der Arbeit, den Fähigkeiten und dem Fleiß des Dirigenten ab. Dazu einige Sätze. Die Programme, die Rainer Noll zusammenstellt, sind inhaltlich bestens überlegt und auf einem zentralen Gedanken zusammengestellt. Zum Beispiel, an Bachs Todestag vor einem Jahr erklangen Kantaten über die Sehnsucht nach seligem Frieden und Erlösung von Sünde und Tod. Im Adventskonzert 1996 wurde die Erwartung, die in dem Lied „Nun komm, der Heiden Heiland“ liegt, in Ausdrucksweisen von mehreren Jahrhunderten musiziert. Und heute werden wir vertraut gemacht mit Texten und Musik, die auf das Leben im Jenseits ausgerichtet sind und das Sterben nicht als Schrecken, sondern als Trost empfinden.

Solche vorzügliche inhaltliche Gestaltung der Programme ist Rainer Noll nur möglich aufgrund seines immensen Wissens über die Literatur. Diese Programme müssen aber auch inhaltlich und musikalisch richtig interpretiert werden, und dafür ist Rainer Noll Experte. Sie sollten sich einmal die Noten ansehen, aus denen wir spielen: Was hat er da alles hineingeschrieben, weil er sehr sicher weiß, wie alles klingen soll! Kurz oder lang, selbstverständlich dem Text angepasst, mit Crescendo oder aber auch verklingend, gebunden oder einzeln gestrichen, bzw. geblasen: alles steht von ihm vermerkt in den Noten, wird von ihm in den Proben noch kommentiert und überzeugt, und wir folgen ihm, denn er ist Experte.

Und er ist auch ein Könner auf der Orgel – wir haben es vorhin gehört. Einem Künstler, der so viel kann, folgen Musiker gerne, besonders, wenn er sie, wie Rainer Noll, auch mitgestalten lässt. Darum setze ich mich nun gerne wieder hinter mein Cello und lasse mich, wie alle anderen Musiker, mit Freuden von unserem Rainer Noll führen, der neben seiner Fähigkeit zur Gestaltung von Konzerten auch in seiner Gemeinde durch seine Musik ermuntern, Trost spenden und Mut machen wird.

Rezension (2007)

(dieser Artikel erschien am 10.08.2007 in „Kelsterbach Aktuell“)

„Standhalten statt Flüchten“, so hatte Rainer Noll, seit 35 Jahren Kantor an St. Martin, in seiner kurzen Dankesrede nach dem Konzert das Zustandekommen von „30 Jahren Bach-Konzerte“ gleichermaßen geist- wie humorvoll kommentiert (in Abwandlung eines Buchtitels des berühmten Psychoanalytikers Horst Eberhardt Richter: „Flüchten oder Standhalten“). Der lutherische Kantor zitierte ausgerechnet Papst Benedikt XVI. und sieht sich wie dieser als ein „bescheidener Arbeiter im Weinberg Gottes“ (schon beim 25. Bach-Konzert hatte Noll den jetzt bei Radio Vatikan in Rom arbeitenden Dominikanerpater Maximiliano Cappabianca das Evangelium lesen lassen). Dieser Weinberg müsse allerdings kultiviert werden, je steiniger der Boden, desto mehr – genau dies habe er in den Jahrzehnten seiner Kelsterbacher Tätigkeit versucht. Und dieses Kultivieren habe schon vom Wort her etwas mit Kultur zu tun. Dahinter steckt unbedingter Wille zur Kultur. Diese Kultur dürfe die Kirche nicht vergessen (über allem Kult, möchte man hinzufügen). Noll machte damit für denjenigen, der Ohren hat zu hören, in knappen, aber hintergründigen Worten deutlich, dass für ihn Bach nicht einer Konfession gehört, sondern ein geistiges Gut der ganzen Menschheit ist, das sowohl der Kultur wie dem Kultus dienen kann. In jener Höhe des Geistes begegnen sich mühelos Kultur und Religion.

Entsprechend hoch war dann auch der Anspruch dieses 30. Bach-Konzertes „mit Pauken und Trompeten“.

Eine Ouvertüre in D-dur und zwei Orchestersuiten in C- und D-dur, das Festlichste und Feierlichste, was Bach zu bieten hat, umrahmten die virtuose Solosopran-Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ BWV 51, von der Heidelberger Sopranistin Eva Lebherz-Valentin bravourös gesungen, aber auch voller Wärme und Inbrunst in den meditativen Partien. Glanzvoll erstrahlte ihr hohes C, dem spontaner Beifall folgte!

Mit dieser Kantate wurde noch eine Sensation geboten: sie erklang in der völlig unbekannten Fassung für zwei Trompeten und Pauken des ältesten Bach-Sohnes Wilhelm Friedemann, die Noll dank seiner musikwissenschaftlichen Recherchen rekonstruieren konnte. So entsprach auch sie dem Motto des ganzen Konzertes „mit Pauken und Trompeten“. Unangetastet blieb dabei die originale Trompetenstimme des Vaters, brillant geblasen von Alexander Petry.

In den Ouvertüren arbeitete Noll die Gegensätze zwischen den gravitätischen Ecksätzen in feierlich-punktiertem Rhythmus und den flinken Fugatomittelteilen markant heraus. Alle Tanzsätze der Suiten wurden „con delicatezza“ zelebriert, lediglich das Passepied kam vielleicht ein wenig zu „menuettig“ daher.

Alle Solisten des Heidelberger Kantatenorchesters boten mit diesem ebenso anstrengenden wie anspruchvollen Programm eine grandiose Leistung unter dem spannungsvollen Dirigat Rainer Nolls, dem akribische Probenarbeit voran gegangen war. Dennoch wirkte die Musik nicht nur festlich, sondern auch heiter, kurzweilig und sogar mitreißend dank des hohen Niveaus, mit dem dieses sicher nicht alltägliche Jubiläum begangen wurde, das dann auch nahtlos in einen Weinempfang für die zahlreichen, z. T. wieder weit angereisten Zuhörer überging und beschwingt ausklang.

Eckard B. Gandela

Ausführende (2007)

Eva Lebherz-Valentin – Sopran

 

Mitglieder des Heidelberger Kantatenorchesters:

Alexander Petry, Egbert Lewark und Markus Seeger – Trompeten

Peter Kreckel – Pauken

Stefan Gleitsmann, Christina Mühleck und Olaf Gramlich – Oboen

Werner Köhler – Fagott

Jeanette Pitkevica und Ana Zivkovic – Violinen

Kascia Gasztecka – Viola

Valeria Lo Giudice – Violoncello

Mark Beers – Kontrabass

Martin Nitz – Orgelcontinuo

Die Solisten:

Eva Lebherz-Valentin, Sopran,

studierte in Frankfurt/M Gesang, Klavier und Oboe an der dortigen Musikhochschule. Seit 1988 wohnt sie in Heidelberg und lebt von ihrer Konzerttätigkeit im In- und Ausland. Neben dem allgemein bekannten Repertoire (von Bachs Passionen bis zu Haydns „Schöpfung“ und Verdis „Requiem“) befasst sie sich ausgiebig mit der Musik des 16. und 17. Jahrhunderts sowie der Zeitgenössischen Musik.

Zahlreiche CD- Produktionen mit außergewöhnlichen Programmen aus Mittelalter, Renaissance, Klassik und Moderne sowie Live- Konzertmitschnitte, auch von Rundfunk und Fernsehen, zeugen von ihrem untrügerischen musikalischen Stilgefühl.

 

Rainer Noll, Dirigent,

wurde am 29. Januar 1949 in Wiesbaden geboren, einer alten Bauernfamilie entstammend, deren Hof in Wiesbaden – Nordenstadt (Erbacher-Hof) er renovierte und wo er heute auch lebt. Seit 1990 richtet er die beliebten „Torhauskonzerte“ auf diesem Anwesen aus.

Kurzbiografie: 1964 – 1968 Organist in Nordenstadt; nach dem Abitur an der Gutenbergschule in Wiesbaden zunächst Physik- und Mathematik-Studium in Mainz und Hamburg, dann Musikstudium in Siena (1967), Hamburg und Frankfurt am Main (A- Prüfung/Staatsexamen für Kirchenmusiker); seit 1972 hauptamtlicher Kantor und Organist an St. Martin in Kelsterbach; 1979 – 1993: Gründung und Leitung der „Kantorei St. Martin“. Seit 1974 Dozent an der Musikschule Kelsterbach; 1976 liturgiewissenschaftliche Arbeit über „Die Entwicklung des Eucharistischen Hochgebetes“;

1979 – 1992 zunächst stellvertretender, dann Vorsitzender der MAV des Dekanates Rüsselsheim sowie Gründungs- und Vorstandsmitglied der „Historischen Werkstatt Nordenstadt“; 1981/82 künstlerischer Leiter der „Airport Chapel Concerts“ des Rhein-Main Flughafens Frankfurt. Seit seinem 10. Lebensjahr beschäftigt er sich intensiv mit Albert Schweitzer. Er entwarf 1973, inspiriert vom Orgelideal Schweitzers, die neue Orgel der Evangelischen Kirche in Wiesbaden-Bierstadt und begründete die dortige Konzerttradition. 1987 – 1993: Gründungsmitglied und Mitglied des „Wissenschaftlichen Beirates“ der „Wissenschaftlichen Albert-Schweitzer-Gesellschaft“; 1990 Leitung des Chores der Oranier-Gedächtniskirche in Wiesbaden, seit 1995 projektweise Leiter der „Idsteiner Vokalisten“, die er bereits zu vielbeachteten Höhepunkten führte. Konzerte, Schallplatten- und Rundfunkaufnahmen, Vorträge und Veröffentlichungen (u. a. über Ethik und Musikauffassung Albert Schweitzers) im In- und Ausland; 1993: USA-Tournee; Juni 2001: Konzertreise nach Tschechien; 1982 – 1989 ordnete er zudem den nachgelassenen Notenbestand in Schweitzers Haus in Günsbach/Elsaß und legte eine Kartei zur wissenschaftlichen Auswertung an. Im Herbst 1991 und Frühjahr 1992 erfolgte die gleiche Arbeit an dem von Schweitzer eingespielten Schallplatten, was eine Korrektur und Ergänzung der von Professor Erwin R. Jacobi (Zürich) und ihm 1975 erstellten Diskographie beinhaltete.

Darüber hinaus gilt sein Interesse besonders philosophischen und theologischen Problemkreisen. Er nimmt durch die Ausgestaltung und Leitung des jährlich seit 30 Jahren stattfindenden „Bach-Konzertes“, der „Musikalischen Meditation zur Todesstunde Jesu“ am Karfreitag sowie der vor 25 Jahren von ihm begründeten „Abendmusik zum Weihnachtsmarkt“ einen bedeutenden Platz im Kulturleben der Stadt Kelsterbach und der ganzen Region ein.

Rainer Noll wirkt nun seit genau 35 Jahren als Kantor an St. Martin Kelsterbach (siehe auch www.Erbacher-Hof.de).

Programmheft (2007)

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)

Ouvertüre D-dur BWV 1069
für Trompeten, Pauken, Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo

 Ouvertüre C-dur BWV 1066
für Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo

Ouverture – Courante – Gavotte I und II – Menuet I und II – Bourrée I und II – Passepied I und II

 „Jauchzet Gott in allen Landen“ BWV 51
Kantate für Sopran, Trompeten, Pauken, Fagott, Streicher und Basso continuo

in der Bearbeitung von Wilhelm Friedemann Bach (1710 – 1784)
(Arrangement: Rainer Noll)

Ouvertüre D-dur BWV 1068
für Trompeten, Pauken, Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo

Ouverture – Air – Gavotte I und II – Bourrée – Gigue

 

Das diesjährige 30. Bach-Konzert feiern wir ausgiebig „mit Pauken und Trompeten“. Es werden Werke geboten, die selbst bei Bach an Glanz und Festlichkeit kaum zu überbieten sind.

Von Bach sind vier Ouvertüren (Suiten) für Orchester überliefert. Ob er weitere komponiert hat, bleibt Spekulation. Es handelt sich eigentlich um Orchestersuiten, also eine Folge von stilisierten Tanzsätzen. Als Einleitung ist diesen eine ausladende Ouvertüre nach französischem Vorbild in feierlich-punktiertem Rhythmus und mit fugiertem Mittelteil vorangestellt, die schließlich als pars pro toto dem Ganzen seinen Namen gab. Mit der Form dieser Folge von Tanzsätzen bewegt Bach sich ganz in traditionellen Bahnen, während er mit seinen Solo-Konzerten zum Wegbereiter dieser neuen Gattung wurde.

So dient zur Eröffnung des Konzertes tatsächlich nur die Ouvertüre, also der erste Satz, der Orchestersuite BWV 1069, während die beiden Suiten BWV 1066 und 1068 vollständig musiziert werden (die Suite h-moll BWV 1067 für Solo-Flöte und Streicher kam im Bach-Konzert 2005 hier zur Aufführung).

Wann genau diese Suiten (Ouvertüren) entstanden sind, ob schon in Bachs Jahren als Hofkapellmeister zu Köthen (1717 – 1723) oder danach in Leipzig, muss offen bleiben. Sie sind uns bei sehr geringem autographen Anteil nur in späteren Abschriften, und auch da nicht als Partitur, sondern nur als Einzelstimmenmaterial, überliefert. Von der Suite C-dur BWV 1066 existiert ein Stimmensatz wahrscheinlich von 1723/24. Sie dürfte somit die älteste und einzige im Originalzustand erhaltene sein. Die Quellenlage der Suite D-dur BWV 1069 ist so spärlich, dass man sie erst für echt hielt, als man die Weihnachtskantate BWV 110 „Unser Mund sei voll Lachens“ entdeckte, deren Einleitungssatz eine Umarbeitung der Ouvertüre ist (Hinzufügung von Trompeten und Pauken, Choreinbau in den fugierten Mittelteil). Diese Kantate wurde am 1. Weihnachtstag des Jahres 1725 aufgeführt. Von der Suite D-dur BWV 1068, die unser Konzert beschließt, existiert ein Stimmensatz von 1730/31. Auch hier ist offensichtlich, dass Bach die Trompeten und Pauken erst später wie eine zweite Schicht über eine Erstfassung gelegt hat, wohl nach dem gelungenen Experiment mit BWV 1069.

Wozu Bach diese Festmusiken brauchte, ist ungewiss. Sicher dürfte lediglich sein, dass er sie wieder aufführte, als er 1729 für über zehn Jahre das studentische Collegium Musicum übernahm, das 1701 von Georg Philipp Telemann gegründet worden war. Man nannte es von da an das „Bachische“ Collegium.

1736 vermerkt Mizlers „Musikalische Bibliothek“ dazu: „Die Glieder, so diese Musikalischen Concerten ausmachen, bestehen mehrerentheils aus den allhier Herrn Studirenden, und sind immer gute Musici unter ihnen, so daß öffters, wie bekandt, nach der Zeit berühmte Virtuosen aus ihnen erwachsen.“ Da es überdies „jedem Musico vergönnet [war], sich in diesen Musikalischen Concerten öffentlich hören zu lassen“, hatte Bach den zusätzlichen Reiz, mit reisenden Virtuosen von internationalem Format zusammenzuarbeiten. Lobend wird auch das Publikum erwähnt: „…und sind auch mehrerentheils solche Zuhörer vorhanden, die den Werth eines geschickten Musici zu beurtheilen wissen.“ Hier liegt der Keim für ein in Deutschland sich entwickelndes öffentliches Konzertleben.

Musiziert wurde im Zimmermannschen Kaffeehaus, auf dem Programm standen weltliche Vokal- und Instrumentalwerke aller Art. Im Sommer fanden die Konzerte im Wirtsgarten statt, jeden Mittwoch um 16 Uhr. Im Winter spielte man im Kaffeehaus, regulär freitags von 20 bis 22 Uhr, zu Messezeiten sogar zweimal wöchentlich, dienstags und freitags. Insgesamt zeichnete Bach hier für mehr als fünfhundert zweistündige Programme verantwortlich. „Zur Bürde des Kantorats standen diese Nebenbeschäftigungen im reziprok proportionalen Verhältnis: je weniger Interesse Bach an der Weiterentwicklung der Kirchenmusik und ihres Repertoires hatte, desto mehr schienen ihn die weltlichen Verpflichtungen anzuziehen.“ (Karl Böhmer, Programmheft der Wiesbadener Bachwochen 1995, S. 32)

Es war Mendelssohn, der die vier Ouvertüren 1838 im Leipziger Gewandhaus erstmals seit Bachs Tod wieder aufführte (1829 hatte er erstmals wieder die Matthäuspassion dirigiert). Bereits als Elfjähriger spielte er dem über achtzigjährigen Goethe aus der D-dur-Ouvertüre BWV 1068 auf dem Klavier vor. Goethe bemerkte dazu, „es gehe darin so pompös und vornehm zu, dass man ordentlich die Reihe geputzter Leute, die von einer großen Treppe heruntersteigen, vor sich sehe“.

Albert Schweitzer schreibt zu den Ouvertüren: „In den Tanzweisen dieser Suiten ist ein Stück einer versunkenen Welt von Grazie und Eleganz in unsere Zeit hinübergerettet. Sie sind ideale musikalische Darstellungen der Rokokozeit. Der Reiz dieser Stücke beruht in der Vollendung, mit der Kraft und Anmut sich in ihnen durchdringen.“ („J. S. Bach“, Wiesbaden 1960, S. 354)
BWV 51 Jauchzet Gott in allen Landen!

1. Aria
Jauchzet Gott in allen Landen!
Was der Himmel und die Welt
An Geschöpfen in sich hält,
Müssen dessen Ruhm erhöhen,
Und wir wollen unserm Gott
Gleichfalls itzt ein Opfer bringen,
Dass er uns in Kreuz und Not
Allezeit hat beigestanden.

2. Recitativo
Wir beten zu dem Tempel an,
Da Gottes Ehre wohnet,
Da dessen Treu,
So täglich neu,
Mit lauter Segen lohnet.
Wir preisen, was er an uns hat getan.
Muss gleich der schwache Mund von seinen Wundern lallen,
So kann ein schlechtes Lob ihm dennoch wohlgefallen.

3. Aria
Höchster, mache deine Güte
Ferner alle Morgen neu.
So soll vor die Vatertreu
Auch ein dankbares Gemüte
Durch ein frommes Leben weisen,
Dass wir deine Kinder heißen.

4. Choral
Sei Lob und Preis mit Ehren
Gott Vater, Sohn, Heiligem Geist!
Der woll in uns vermehren,
Was er uns aus Gnaden verheißt,
Dass wir ihm fest vertrauen,
Gänzlich uns lass’n auf ihn,
Von Herzen auf ihn bauen,
Dass uns’r Herz, Mut und Sinn
Ihm festiglich anhangen;
Drauf singen wir zur Stund:
Amen, wir werdn’s erlangen,
Glaub’n wir aus Herzensgrund.

5. Aria
Alleluja!

 

Diese virtuose Kantate wurde höchstwahrscheinlich zum 15. Sonntag nach Trinitatis, dem 17. September des Jahres 1730, komponiert. Bachs eigener Zusatz „et in ogni tempo“ (und zu jeder Zeit) entbindet sie aber von dieser speziellen Verwendung. Der Text ist ein jubelnder Lobpreis und Dank für Gottes Beistand, verbunden mit der Bitte um künftige Treue. Der Textdichter ist unbekannt, den Schluss bildet die Zusatzstrophe (Königsberg, 1549) zu Johann Gramanns Lied „Nun lob, mein Seel, den Herren“, der ein „Alleluja“ angehängt ist. Bei aller Knappheit der Form vereint diese Kantate fünf charakteristische Satzprinzipien des Barock: Konzert (Satz 1), Monodie (Satz 2), Ostinatovariation (Satz 3), Choralbearbeitung (Satz 4) und Fuge (Satz 5).

Die eigentliche Sensation der heutigen Aufführung aber ist, dass das Werk in der unbekannten, noch nicht edierten Fassung des ältesten Bach-Sohnes Wilhelm Friedemann erklingt. Er hat zur Komposition des Vaters eine zweite Trompeten- und eine Paukenstimme dazu komponiert. In mein Arrangement habe ich noch das Fagott einbezogen, wie Bach es sicher auch getan hätte, wenn eines vorhanden war.

Johann Sebastian Bach wurde am 21. März 1685 in Eisenach geboren. 1703 – 07 Organist in Arnstadt. 1707 – 08 Organist an St. Blasius in Mühlhausen. 1708 – 17 Hoforganist, Cembalist und Violinist (seit 1714 auch Hofkonzertmeister) in Weimar. 1717 – 23 Hofkapellmeister in Köthen. Ab 1723 Kantor der Thomaskirche und „Kirchenmusikdirektor“ der Stadt Leipzig, wo er am 28. Juli 1750 starb.