Zu Erich Kästner: „Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag“
Weihnachtsrundmail
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde,
was gibt es unter der Sonne (und sogar unter dem Mond) an Wesentlichem, das nicht schon gesagt, mehrfach wiederholt und manchmal als „neu“ angepriesen, aber ebenso oft auch vergessen worden wäre?
Besseres und Neueres als in meiner Weihnachtsrundmail von 2012 kann auch ich nicht sagen, und so erlaube ich mir, diese Gedanken von vor sieben Jahren noch einmal zu wiederholen, da sie nie ihre Aktualität verlieren werden.
Bereits im letzten Jahrhundert widmete Erich Kästner (1899-1974) Weihnachten ein Gedicht mit etwas anderen, dissonanteren Tönen, als man sie heute oft in der vom Münchener Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf beklagten Infantilisierung, Bildungsferne und der Verkündigung eines „Kuschelgottes zum Aufwärmen“ und einer „Wellness-Religion zum Wohlfühlen“ vernimmt:
Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag
Zweitausend Jahre sind es fast,
seit du die Welt verlassen hast,
du Opferlamm des Lebens!
Du gabst den Armen ihren Gott.
Du littest durch der Reichen Spott.
Du tatest es vergebens!
Du sahst Gewalt und Polizei.
Du wolltest alle Menschen frei
und Frieden auf der Erde.
Du wusstest, wie das Elend tut
und wolltest alle Menschen gut,
damit es schöner werde!
Du warst ein Revolutionär
und machtest dir das Leben schwer
mit Schiebern und Gelehrten.
Du hast die Freiheit stets beschützt
und doch den Menschen nichts genützt.
Du kamst an die Verkehrten!
Du kämpftest tapfer gegen sie
und gegen Staat und Industrie
und die gesamte Meute.
Bis man an dir, weil nichts verfing,
Justizmord, kurzerhand, beging.
Es war genau wie heute.
Die Menschen wurden nicht gescheit.
Am wenigsten die Christenheit,
trotz allem Händefalten.
Du hattest sie vergeblich lieb.
Du starbst umsonst. Und alles blieb –
beim alten.
Ganz richtig: „die“ Menschen werden nie gescheit! Das kann immer nur der einzelne, und der bin ich selbst und nicht die anderen, „die“ Menschen. Ich selbst kann gescheit werden, ich selbst muss in eigener Bildungsarbeit etwas dafür tun – Bildung ist immer zweckfreie Selbst-Bildung um ihrer selbst willen, aus reiner Freude an der Erkenntnis und der Vervollkommnung. Dann kann ich vielleicht auch andere anregen, Resonanz hervorrufen, andere in Schwingung versetzen bei gleichen Frequenzen wie bei einer frei schwingenden Saite (vorausgesetzt man ist kein „tönend Erz oder eine klingende Schelle“, wie es in Korinther 13,1 im Hohelied der Liebe heißt).
Am 20. Oktober 2012 hörte ich in der Samstagabendmesse in der Abtei Ebrach (im Steigerwald zwischen Würzburg und Bamberg), die wir auch bei meiner letzten Orgelfahrt am 1.9.2013 auf dem Rückweg von Regensburg besucht haben, die Predigt von Dekan Albert Müller. In der Kürze lag auch hier die Würze: beim Hinausgehen wusste man, was gepredigt worden war, und man behält es für immer. Der ganze Inhalt war in einem kurzen Text von Gisbert Kranz (kath. Theologe, Pädagoge und Schriftsteller, 1921-2009) zusammengefasst, den er zitierte (und hier muss ich neidvoll hinzufügen, wie Brahms sich über den Donauwalzer von Strauss äußerte: „Leider nicht von mir“):
Nur bei Anwendung
Ein Seifenfabrikant sagte zu einem Priester: „Das Christentum hat nichts erreicht. Obwohl es schon über zweitausend Jahre gepredigt wird, ist die Welt nicht besser geworden. Es gibt immer noch Böses und böse Menschen.“ Der Priester wies auf ein ungewöhnlich schmutziges Kind, das am Straßenrand im Dreck spielte, und bemerkte: „Seife hat nichts erreicht. Es gibt immer noch Schmutz und schmutzige Menschen in der Welt.“ „Seife“, entgegnete der Fabrikant, „nutzt nur, wenn sie angewendet wird.“ Der Priester antwortete: „Christentum auch.“
Dies mag eine der möglichen Antworten auf Kästners Gedicht sein.
Albert Schweitzer meinte, auf einer gewissen Höhe des Geistes müssten sich Glauben und Denken, Religion und Philosophie begegnen und ergänzen, statt sich zu widersprechen oder gar auszuschließen. So schreibt er, ins idealistisch-philosophische abgewandelt, am Ende seiner Erinnerungen „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit“: „Die Macht des Ideals ist unberechenbar. (…) Ideale sind Gedanken. Solange sie nur gedachte Gedanken sind, bleibt die Macht, die in ihnen ist, unwirksam, auch wenn sie mit größter Begeisterung und festester Überzeugung gedacht werden. (…) Ihnen wird die Welt gehören, wenn nur genug Menschen die Gedanken der Liebe, der Wahrheit, der Friedfertigkeit und der Sanftmut rein und stark und stetig genug denken und leben.“
Auf das „Leben“ kommt es an! Wenn wir z.B. in den gottesdienstlichen Fürbitten Gott um alles Mögliche bitten („lieber Gott, mache, dass …“ – sollte man nicht ehrlicher sagen „sei doch bitte so nett…“?), so z.B., dass er Frieden und mehr Gerechtigkeit machen soll in der Welt, die Menschen besser machen soll, den Hungernden Nahrung geben soll und die Trauernden trösten usw., dann kommt mir das vor wie ein Alibi, es nicht selbst von ganzem Herzen und ganzer Kraft tun zu müssen aus unausweichlicher innerer Notwendigkeit, wo es konkret möglich ist. Der liebe Gott soll’s richten, und wir sind so aktiv, ihn darum zu bitten. Fromm und zufrieden, es gesagt zu haben, verlassen wir den Gottesdienst wie wir hinein gingen.
Wirken des Heiligen Geistes ist für mich dagegen, wenn dieser von unseren Herzen derart Besitz ergreift, dass wir sensibilisiert werden zu erkennen, wo wir, oft mit geringem Aufwand, einem anderen wahrhaft zum Engel (= Bote Gottes) werden können: wo ich nicht mutig eintrete für Frieden und Gerechtigkeit, wo ich einen, den ich hungern sehe, nicht speise, wo ich nicht einem Trauernden oder auch nur Traurigen zum Trost werde und Leiden lindere, wo ich einem Suchenden nicht zum Licht auf seinem Wege werde usw., da bleibt all dies ungeschehen („.Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“, Mt. 25,40b). Nicht „den“ Hunger in der ganzen Welt kann ich stillen, aber den „Hunger“ (auch symbolisch für alles Leid und alle Bedürftigkeit gemeint) eines konkreten Menschen, der mir konkret in seiner Not begegnet. Gott wirkt durch uns oder gar nicht. Bereit und offen sein dafür heißt, in der „Gemeinschaft der Heiligen“ leben – dies mag sich innerhalb einer Organisation wie der Kirche ereignen, muss es aber nicht – „Heil“ (das in „Heiligen“ bereits drinsteckt) ist auch außerhalb zu finden – „heil“ ist das Gegenteil von „kaputt“, aber wieviel ist neben Gutem gerade in religiösen Organisationen kaputt oder kaputtmachend!
Wie oft auch schon ist dieser „Gott“ als der starke Kumpel oder der große Bruder (ein starker Partner – Zweckgemeinschaft!) missbraucht worden, indem man seinen Beistand und sein Eingreifen erflehte für seine ganz eigenen, sogar egoistischen Ziele und Interessen, z.B. von Kriegsparteien aus Zeiten des Alten Testaments bis in unsere Tage (noch auf Koppelschlössern der Soldaten des 1. Weltkrieges stand „Gott mit uns“ – wir spielten als Kinder noch damit – und es gab hochgelehrte Theologieprofessoren, die feuerten die Soldaten in diesem Sinne an).
Diesem infantilen Wunsch nach Gottes Handeln entspricht dann auf der anderen Seite die Frage, warum Gott so viel Unrecht und Leid überhaupt zulässt (Theodizee-Frage). Es sind die Menschen, die das alles tun (von Naturkatastrophen und Krankheiten abgesehen, mit denen oft genug als „Strafe Gottes“ gedroht wurde), und man sollte nicht die Verantwortung für das eigene Tun und Unterlassen Gott in die Schuhe schieben. Auch hier der naive Wunsch, Gott möge doch handeln und eingreifen, ja wenigstens verhindern – und uns damit entlasten oder gar entschuldigen (Gott als Vater- oder Mutterersatz, bzw. Gerechtigkeits-Polizist – der „Himmel“ als Ort ausgleichender Gerechtigkeit gegenüber dem „Jammertal Erde“). Aber handeln und eingreifen können nur wir, natürlich ohne Allmachtsphantasien, innerhalb unserer engen Grenzen, nicht „weltweit“, im Guten wie im Bösen, und es wird sich zeigen, ob ein Segen oder ein Fluch darauf liegt – in Demut müssen wir es dahingestellt sein lassen, denn dies entzieht sich dann unserer Macht:
Hier hilft nur die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Mit Erich Kästner habe ich begonnen, mit ihm will ich enden, denn er hat es auf den Punkt gebracht: „Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es.“
Ob aber der „Revolutionär Jesus“ vergeblich und umsonst gelebt hat, liegt daran, wieviel uns seine ethische Botschaft wert ist und wie ernst wir damit machen, was er in die Welt gebracht hat, unabhängig von Lippenbekenntnissen zu Konfessionen und deren theoretischen Lehrgebäuden aus christologischen Formeln und Dogmen, in denen man den „Revolutionär Jesus“ bändigend in Ketten zu legen versucht.
Nicht in Institutionen entscheidet sich, ob Kästners Behauptung zutrifft:
es liegt an jedem einzelnen von uns…
Du und ich: wir entscheiden darüber – nicht mit verbalen Bekenntnissen, sondern mit unserem Leben!
Rainer Noll
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