Zur Selbstfindung als Mensch in Leben, Welt und Kosmos

Zur Selbstfindung als Mensch in Leben, Welt und Kosmos
Erinnerung an einige vergessene Zusammenhänge
Essay von Rainer Noll (Februar bis Mai 2018 – „Hommage an den Geist“ zu Pfingsten)

I. YouTube

Eigentlich wollte ich jemandem nur ein paar Links zu einigen meiner YouTube-Stücken senden. Da bemerkte ich Folgendes: Die Musikstücke, die ich auf YouTube gestellt habe (ca. 250 bisher, siehe https://www.youtube.com/channel/UCaGUd6cAXHZhIMqZn6eqfwg/videos), alles Live-Mitschnitte meiner Konzerte der letzten 50 Jahre, zeugen von einer für mich selbst überraschend großen musikalischen Vielfalt und, wie ich im Rückblick feststellen muss, von einem reichen Musikerleben, das man aus der Distanz anders wahrnimmt, als wenn man mitten drin steckt. Da frage ich mich manchmal: wer oder was bin ich eigentlich? Kantor, d.h. Organist (wie die meisten Werke bezeugen) und Dirigent (siehe z.B. https://youtu.be/VQ3urNd6c0E), Cembalist (siehe https://youtu.be/66XYbYp24dU + https://youtu.be/ZU9klDicJ0Y) , Komponist (siehe https://youtu.be/t2MSLPm_q-Y) oder gar Pianist (siehe https://youtu.be/U2vrntJ6bLk), Bearbeiter (siehe https://youtu.be/S-eBT4eJp5Q
), Spezialist für Alte oder sogar ganz Alte Musik (siehe z.B. https://youtu.be/Ps0TwntCKfQ) oder Romantik (siehe z.B. https://youtu.be/M5rQxOpsovU) oder gar Neue Musik (siehe die zeitgenössischen Werke und zahlreichen Uraufführungen wie https://youtu.be/wNsUL6KjTK4)? Auch etwa privater Musikveranstalter (siehe z.B. meine Torhauskonzerte)? Sicher von jedem etwas, und zumindest so viel, um das Prinzipielle davon verstanden zu haben. Ich würde heute sagen: einfach Musiker. Genau so bezeichnete sich auch Leonard Bernstein, wenn er nach seinem Beruf gefragt wurde – ohne mich mit diesem Giganten gleichstellen oder vergleichen zu wollen.

II. Vielfalt

Aber auch meine Leidenschaft z.B. für Naturwissenschaften (allen voran Astronomie), Philosophie im weitesten Sinne, Theologie, Geschichte und Literatur, ebenso Orgelbau (siehe https://erbacher-hof.de/orgel/bierstadt_2014, https://erbacher-hof.de/orgel/nordenstadt und https://erbacher-hof.de/orgel/kelsterbach_stmartin ) ist nie erloschen. Als Bauernbub aus dem 2000-Seelen-Dorf Nordenstadt, in dem damals das 19. Jahrhundert noch nicht ganz Vergangenheit war, hatte ich das geradezu unverschämte Glück, nicht nur großen Musikern (so 1967 noch vor dem Abitur das Orgelstudium bei Fernando Germani, Organist des Petersdomes in Rom, an der Accademia Chigiana in Siena), Musikforschern, Theologen und anderen bedeutenden Persönlichkeiten persönlich begegnet zu sein, sondern auch Naturwissenschaftlern wie z.B. dem Quantenphysiker Pasqual Jordan (1902 – 1980), der noch mit Albert Einstein (er schlug ihn 2x für den Nobelpreis vor), Max Born, Wolfgang Pauli und Werner Heisenberg zusammengearbeitet hatte – in der Wohnung von Hauptpastor Heidelbach (St. Michaelis Hamburg) philosophierten wir am 3.3.1970 bis in die Morgenstunden über Größe und Grenzen der Naturwissenschaften. Wenig später saßen wir dort zusammen mit dem in Wien geborenen führenden Hamburger Neurochirurgen Rudolf Kautzky (1913 – 2001).

III: Mensch

Aber noch vor dem Musiker und allem anderen bin ich Mensch, einfach Mensch, und das in erster Linie.

Mit dreißig Jahren, auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn, schrieb Schweitzer: „Ich erwarte etwas anderes, das mein Leben betrifft! Ich habe nicht mehr den Ehrgeiz, ein großer Gelehrter zu werden, sondern mehr – einfach ein Mensch.” 1)Albert Schweitzer – Helene Bresslau: Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902-1912, München, 1992, S. 83 Auch Buddha und Konfuzius wollten einfach Mensch, im tiefsten Sinn Mensch sein – und wurden von ihren Anhängern zu Göttern „befördert“. Auch Jesus wollte wahrhaft Mensch sein, war aber zumindest nach seinem eigenen Zeugnis in den Evangelien auch wahrhaft Gott. Dies nur rein informativ, nicht um mich hier einzureihen.

Was heißt Mensch? Mensch sein bedeutet immer zum einen Mit-Mensch und zum anderen Geschöpf sein. Geschöpf insofern, als sich keiner sich selbst verdankt, ob Agnostiker, Materialist, Positivist oder radikaler Atheist, ob Christ, Jude, Moslem oder was immer. Es ist nicht unser Verdienst, dass wir da sind. Ohne unser Zutun kommen wir – ungefragt! – in diese Welt, ohne zu wissen woher finden wir uns und diese Welt mit erwachendem Bewusstsein und Selbstbewusstsein vor, suchen nach Sinn, um Halt zu finden wie an einem Geländer, an dem wir uns entlanghangeln, und gehen – wieder ungefragt – dahin, ohne zu wissen wohin. Da ungefragt, suchen wir Geborgenheit im Bewusstsein, dass wir „gewollt“ sind (von den Eltern, und wenn nicht von diesen, wenigstens von Gott, z.B. durch die Taufe: „beim Namen gerufen“). Glaube, in welcher Gestalt auch immer, versucht uns die Ungewissheit zu nehmen, in die wir – und der wir – ausgesetzt sind. Der Schriftsteller Martin Walser brachte es in einem Gespräch zu seinem 90. Geburtstag auf den Punkt: „Religion erklärt nicht die Welt – sie verklärt sie, sonst würden wir es gar nicht aushalten.“

Nichts können wir erschaffen, alles Geschaffene oder Gewordene, zu dem wir ja selbst gehören, nehmen wir mit blinder Selbstverständlichkeit hin – wobei ganz offen bleibt, wer oder was das „geschaffen“ hat und wie alles „geworden“ ist.

IV. Erfindung und Leistung

Alles, was wir „leisten“ können, ist, aus diesem Vorgefundenen (uns eingeschlossen) etwas zu machen (oder eben auch nicht). Stolz sind wir auf unsere Leistungen, und das z.T. zu recht. Aber wir vergessen dabei den schwankenden Boden unter unseren Füßen, der wie eine Insel aus dem unendlichen Meer des Sein herausragt, einer terra incognita, auf dem diese Leistungen stehen, und tun, als seien wir die Schöpfer aller Dinge – und bauen doch nur nach längst fertigen, vorgegebenen Bauplänen, für deren Architekten wir uns halten. Bei Erfindungen werden vorhandene Eigenschaften und Mechanismen neu kombiniert, kopiert und technisch nutzbar gemacht. Fast alles, was wir überheblich „Erfinden“ nennen, ist eigentlich mehr ein Suchen und Finden, ein Vor-Finden. Besonders deutlich wird das in der Bionik, die aus Vorbildern in der Natur technische Lösungen sucht, indem sie das in der Natur Vorgefundene zu imitieren versucht. Immer ist „die Natur“ uns dabei voraus, und zwar um Jahrmillionen oder manchmal gar –milliarden.

Als negativ sei hier angemerkt, dass wir das, was die Natur in Jahrmillionen entstehen ließ (fossile Energien wie z.B. Kohle, Öl, dann Rohstoffe usw.), in wenigen Generationen regelrecht verpulvern. Und das, was wir bei der Natur „abkupfern“, dient leider zunehmend der einseitigen Gewinnmaximierung in einer kommerzialisierten Welt statt ihrer wirklichen Verbesserung. Preis und Gewinnsteigerung werden mit dem Wert der Dinge verwechselt, die zur Ware degradiert werden. Es geht darum, möglichst vielen möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen, um es in wenigen Händen zu konzentrieren (doch vorsicht: wenn wenige alles haben, kann keiner mehr was kaufen).

Einige Beispiele, die sich vielfach ergänzen lassen:

V. Glühwürmchen

Es geht hier um das Phänomen der Biolumineszenz, wie sie auch bei Tiefseetieren vorkommt: Ein einfaches Glühwürmchen erreicht bei seiner Lichterzeugung eine Effizienz von 95-98 %, und kein Wissenschaftler versteht bisher auch nur diesen Vorgang, geschweige denn, dass er technisch zu erreichen ist: eine Glühbirne kommt an 5 %, die restlichen 95 % werden in Wärme verschwendet – selbst die besten LEDs erreichen kaum 50 %!

VI. Spinnen

Eine Spinne spinnt einen Faden von ca. 1/1000-stel mm Durchmesser, der einmal um die Erde gewickelt 320 g wiegen würde. Und doch ist er 4x so belastbar wie Stahl (auf die Masse bezogen) oder 5x bei gleicher Dicke, dabei auf das 4fache seiner Länge dehnbar, ohne zu reißen. Wäre ein Spinnenfaden so dick wie ein Ein-Cent-Stück, so könnte er mehrere Kleinwagen tragen. Wir Menschen versuchen solche Eigenschaften künstlich nachzuahmen und werden dabei auch technisch immer besser, aber wir erreichen bisher kaum die Effizienz des Vor-gefundenen, das schon lange vor uns existiert. Spinnen leben ja schon ca. 100 Millionen Jahre länger auf der Erde als der Mensch.

VII. Ozeane

Unsere Ozeane bedecken 71 % unserer Erde. Davon entfallen auf die Tiefsee 88 %, von der wir höchstens 5 % kennen – wir wissen mehr von der Mondoberfläche und dem Mars! Geschätzte 1 000 000 Lebewesen sind dort noch zu erforschen (Bakterien eingeschlossen sollen es Milliarden sein). Es gibt ernsthafte Theorien, dass der Ozean der größte Organismus der Erde mit einer Art Bewusstsein sein soll. Jedenfalls existiert das größte Ökosystem der Erde seit Jahrmillionen effektiv ohne uns – und hoffentlich in Zukunft trotz uns.

VIII. Kosmos

Noch drastischer ist das Bild bezüglich des Kosmos. Alles, was wir vom Kosmos kennen, also die uns bekannte „baryonische“ Materie, die wir sehen können, macht knapp 5 % aus – ein Inselchen des Wissens in einem Meer der Dunkelheit: Der Rest ist „Dunkle Materie“ (23 %) und „Dunkle Energie“ (72 %). Lediglich deren Wirkung können wir beobachten und berechnen dank der Gravitation, die uns selbst geheimnisvoll bleibt. Um was es sich dabei handelt, ist völlig unbekannt – „dunkel“ bedeutet hier schlicht „wir wissen es nicht“. Die Astrophysikerin und Wissenschaftsjournalistin Sibylle Anderl beginnt ihren Artikel „Nicht mehr als das, was wir sehen – Astronomen finden Galaxie ohne Dunkle Materie“ (FAZ vom 4.4.2018, S. N2): „Es ist nach wie vor die wohl ernüchterndste Tatsache des kosmologischen Standardmodells: Rund 95 Prozent des Energie- und Materiegehalts unseres Universums sind grundsätzlich anders als alles, was wir kennen und verstehen. (…) Große Himmelsdurchmusterungen haben (…) ergeben, dass im Halo von Galaxien ähnlich unserer Milchstraße rund dreißigmal mehr Dunkle Materie existiert als diejenige Materie, die in Sternen gebunden ist.“

Wie kann man Endgültiges oder auch nur Gültiges über einen Kosmos als Ganzes sagen, der uns zu 95 % unbekannt oder rätselhaft ist? Hier ist wirklich alles Wissen Stückwerk, wenn auch beachtliches insofern, als es unglaublich ist, dass wir die Grandiosität dieses Kosmos erkennen und erforschen und sogar über uns selbst und unseren „Sinn“ darin nachdenken können, wir, die wir gänzlich aus Elementen (Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Eisen usw.) bestehen oder die wir zum Leben brauchen, die, jedes Atom in uns, in mehreren Supernovaexplosionen in diesem Kosmos erbrütet wurden, aus toten Bausteinen (Sternenstaub im wörtlichen Sinn!), die zusammengesetzt und mit dem geheimnisvollen Hauch des Lebens beseelt uns lebendige Wesen ergeben, die denken und fühlen können! Wir, die wir laut sehr pointierter Aussage von Pastor Reinhold Becker (1932 – 2012, siehe https://erbacher-hof.de/texte/pastor-reinhold-becker-20-juli-1932-4-mai-2012-zum-80-geburtstag ), mit dem ich fast bis zu seinem letzten Atemzug über diese Fragen im Dialog stand, nichts weiter als ein „aufgeblähtes Spermatozoon“ sind und uns doch als „Ebenbild Gottes“ mit Würde begreifen.

Mindestens zwei Sternengenerationen (d.h. mindestens zwei Supernovaexplosionen) sind nötig, um die Elemente zu „backen“, die unser Leben ermöglichen – um Gold zu produzieren, reicht das nicht mal aus: dazu bedarf es der Energie einer Kollision zweier Neutronensterne, die wiederum das „Überbleibsel“ von Supernovaexplosionen massereicher Sterne sind. Bei solchen Explosionen werden die Elemente in die Weiten des Kosmos hinausgeschleudert. Sicher, dank der Gravitation ballen sich Massen auch wieder zusammen. Und dennoch: Wieviel gehört dazu, dass bei den gewaltigen Distanzen des fast leeren Alls sich genau die richtigen Elemente zur richtigen Zeit am richtigen Ort zusammenfinden, damit die Initialzündung der Entstehung von Leben überhaupt zünden kann und dann auch noch die Bedingungen zur Weiterexistenz gegeben sind!

IX. Leben

Vermutlich ist das größte aller Rätsel und Geheimnisse das Leben selbst. Nehmen wir an, alle „Zutaten“ wie gerade beschrieben seien vorhanden. Wenn nun daraus Leben in der uns bekannten Komplexität rein durch Zufall, d.h. durch Versuch und Irrtum (wie beim Würfelspiel) entstehen soll, dann würden dafür die viereinhalb Milliarden Jahre Erdgeschichte nicht ausreichen. Vergleichen wir die „Zutaten“ mit der Menge aller Buchstaben, die für sich genommen weder Sinn noch Zusammenhang ergeben. Wenn wir diese Buchstaben nach dem Zufallsprinzip schütteln und rütteln, so käme nach einigen Milliarden Jahren auch kein vernünftiger Satz heraus, geschweige denn etwa ein Gedicht. Denn dazu braucht es der ordnenden Kraft des Geistes, der alle Möglichkeiten, die in allem schlummern, wie noch nicht verwirklichte „Ahnungen“ oder „Träume“ in sich enthält, die erst „aufgeweckt“ werden müssen.

Unwillkürlich denkt man an das Gedicht “Wünschelrute“ (1835) von Joseph von Eichendorff (1788 – 1857):

Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.

Welches „Gedicht“ in welcher Sprache dann konkret dabei herauskommt, ist nicht festgelegt, aber unsere wenigen Buchstaben ermöglichen unserem Geist, unzählige verschiedene Gedichte in mehreren Sprachen mit diesen Bausteinen zu verwirklichen (ähnlich wie, vereinfacht gesprochen, die gesamte Erbinformation in der Doppelhelix der DNS = Desoxyribonukleinsäure durch die Kombination von nur vier Bausteinen, den Basen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin, gespeichert wird). Man könnte auch sagen: potentiell (als Möglichkeit) sind alle je entstandenen und noch entstehenden Gedichte in den Buchstaben enthalten – aber ohne Geist werden sie nie Wirklichkeit (und übrigens auch nie verstanden!). Analog scheint mir das auch mit dem Leben zu sein: die notwendigen Elemente (Kohlenstoff, Calcium, Eisen usw.) entsprechen den Buchstaben, das Leben selbst den vielfältigen sprachlichen Schöpfungen daraus. Und wie diese Elemente „an sich“ sich als tote Materie zeigen, so sind auch die Buchstaben zunächst tote materielle Zeichen: Druckerschwärze auf Papier, Ritzungen in Stein, Holz oder Wachs usw.. Erst der Geist lässt die Dinge lebendig werden, indem er sie in sinnvolle Beziehungen setzt: es bedarf der Information über die Bedeutung der Zeichen- und Sinnkombinationen, sonst bleiben sie unverständlich – sie zu deuten ist in Sprache und Kunst Aufgabe der Hermeneutik. Der große Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002; ich durfte bei seinem 100. Geburtstag in Heidelberg dabei sein) beschreibt, wie sehr die Deutung genau dem Lebendigen entspricht: „Die Ausschöpfung des wahren Sinns aber, der in einem Text oder in einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß. Es werden nicht nur immer neue Fehlerquellen ausgeschaltet, so daß der wahre Sinn aus allerlei Trübungen herausgefiltert wird, sondern es entspringen stets neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren. Der Zeitenabstand, der die Filterung leistet, hat nicht eine abgeschlossene Größe, sondern ist in einer ständigen Bewegung und Ausweitung begriffen.“ 2)Wahrheit und Methode. Band 1, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 303

Dabei ist das, was entsteht, selbst nicht identisch mit diesen materiellen Dingen: es entsteht durch den Geist aus Quantität quantensprungartig eine neue Qualität – oder anders: das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Und da wir gerade beim Lebendigen sind: das Leben in uns funktioniert – Gott sei Dank! – ganz ohne unser Zutun, ja sogar ohne dass wir begreifen, was Leben eigentlich ist, an dem wir teilhaben. Verständlich, dass ein Albert Schweitzer da die „Ehrfurcht vor dem Leben“ postuliert. Müssten wir mit all unserem medizinischen und sonstigen Wissen und Können die komplexen Funktionen auch nur eines einzigen Organs in uns bewusst steuern, wir wären hoffnungslos verloren, was wir uns aber selten oder nie bewusst machen. Wir sagen: „wir leben“. Tatsächlich aber werden wir eher gelebt: wir sind Teil eines Lebendigen, das in uns lebt und uns belebt. Herzschlag, Atmung usw.: all dies funktioniert am besten, wenn wir uns dem unbewusst hingeben, es geschehen lassen. Das sehende Auge ist sich selbst unsichtbar.

Selbst wenn etwas schief läuft (wir nennen das Krankheit), können wir trotz aller medizinischer Unterstützung nur auf die Selbstheilungskräfte unseres Körpers vertrauen. Schon die Römer wussten: „Medicus curat, natura sanat“ (Der Arzt pflegt, die Natur heilt). Dem Arzt hilft alle seine Kunst nichts, wenn „die Natur“ nicht mitspielt.

Wir können bei einem seit Jahrmillionen existierenden und funktionierenden Einzeller bleiben: kein Labor oder Chemiewerk der Welt kann das effektiver leisten, was die Mitochondrien, die „Kraftwerke“ der Zelle, an Stoffwechselarbeit fertig bringen.

Von der Quantentheorie herkommend, sagt der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr (1929 – 2014, Träger des Alternativen Nobelpreises) über das Prinzip des Lebendigen als „offenes System“: „Das Wesentliche alles Lebendigen ist in seiner Bereitschaft zur Instabilität zu finden. Das Leben ist die instabilste und damit verletzlichste Situation, die es gibt. Instabilität ist geradezu das bestimmende Kennzeichen alles Lebendigen. Denn nur aus einem instabilen Zustand, der kurzfristig zusammenbricht, können sich neue hoch entwickelte Strukturen bilden. Es ist daher immer der verletzlichste Moment, der uns voranbringt und neue Dimensionen erschließt.“ 3)erschienen in: Gerald Hüther/ Christa Spannbauer [Hrsg.]: Connectedness. Warum wir ein neues Weltbild brauchen, Bern 2012

X. Quantenwelt

Gehen wir vom Allergrößten, dem Kosmos, zum Allerkleinsten, der Quantenwelt. Hier endet jede anschauliche Vorstellung, und unsere Sprache versagt und wird selbst in Bildern untauglich zur Beschreibung – nur mathematisch sind die Phänomene zu fassen. Richard Feynman (1918 – 88), einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts, soll einmal gesagt haben: „Wer glaubt, die Quantentheorie verstanden zu haben, hat sie nicht verstanden.“ Und doch handelt es sich hier so etwa um des Pudels Kern. Aber für diesen „Kern“, die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält (Goethe, Faust), sind unsere Sprache und unser Geist primär nicht geschaffen: sie dienen zur Welterkenntnis und der Verständigung in erster Linie nur soweit, als diese unser Überleben sichern helfen. Dazu sind subatomare Erkenntnisse der unanschaulichen Quantenphysik nicht nötig, in denen es um Wahrscheinlichkeiten und offene Möglichkeiten (unbestimmte Potentialitäten) geht, nicht um festgeschriebene Kausalbeziehungen, die eine exakte Vorhersage der Zukunft ermöglichen. Deshalb wurde bis heute nicht ganz wahrgenommen, dass diese Entdeckung der Quantenwelt eine neue kopernikanische Wende in der Physik darstellte. Denn damit wurde der Determinismus des mechanistischen Weltbildes, wie er sich in der Aufklärung etabliert hatte, gekippt: jede Wirkung hat zwar eine Ursache, aber aus einer Ursache folgt in der Quantenwelt nicht eine exakt festgelegte Wirkung, sondern mehrere wahrscheinliche Wirkungen, die sich nur statistisch fassen lassen. Mit der Etablierung der klassischen Mechanik und des mechanistischen Weltbildes wurde von Vertretern des mechanistischen Determinismus, insbesondere von Pierre-Simon Laplace (1749 – 1827) gefolgert, dass, wenn die Welt festgelegten physikalischen Gesetzen unterworfen ist und an keiner Stelle Ereignisse ohne Ursache (z. B. durch übernatürliche Phänomene oder durch objektiven Zufall) auftreten (also ein geschlossenes System darstellt), dann müssen zukünftige Ereignisse unausweichlich determiniert sein. Ferner wurde – zugespitzt im „laplaceschen Dämon“ – postuliert, dass ein „Weltgeist“, der die Gegenwart mit allen Details kenne, die Vergangenheit und Zukunft des Weltgeschehens in allen Einzelheiten vorhersagen könne (klassischer Determinismus oder Laplace´scher Determinismus). Als Max Planck (1858 – 1947) sich 1874 Rat bei dem Münchener Physikprofessor Philipp von Jolly (1809 -84) holte, ob er Physiker oder Pianist werden solle, riet ihm dieser vom Physikstudium ab mit der Begründung, dass in dieser Wissenschaft schon fast alles erforscht sei, und es gelte, nur noch einige unbedeutende Lücken zu schließen. (Zwischenbemerkung: wie Planck mit Klavier, Cello und Orgel spielten viele der bedeutendsten Physiker ein Instrument, auch oft bei Hausmusiken – Einstein Violine, Heisenberg Klavier, Hans-Peter Dürr Cello usw.). Und ausgerechnet dieser Planck wurde dann mit dem „Planck’schen Wirkungsquantum“ (Nobelpreis 1919 rückwirkend für 1918) zum Begründer der neuen Quantenphysik, die in das für abgeschlossen gehaltene, rein materialistische und mechanistische Weltbild der Physik, das im Determinismus erstarrt war, neue Bewegung brachte!

Den Beginn des Johannesevangeliums „Im Anfang war das Wort [logos]“ lässt Goethe von Faust übersetzen „Im Anfang war die Tat“. Konform mit der Quantentheorie würde ich sagen „Im Anfang war die Information“. Information ist ein geistiges Prinzip. So beschreibt Hans-Peter Dürr in seinem Artikel mit dem programmatischen Titel „Am Anfang war der Geist“ den Sachverhalt so: „Es gibt gar keine Materie! (…)In diese Richtung führen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die uns deutlich gezeigt haben, dass nicht die Materie das Fundament unserer Wirklichkeit ist. Materie besteht also nicht aus Materie. (…) Denn letzten Endes gibt es nur eine Art Schwingung. Es gibt streng genommen keine Elektronen, es gibt keinen Atomkern, sie sind eigentlich nur Schwingungsfiguren. An diesem Punkt hatten wir die Materie verloren. Was wir am Ende allen Zerteilens vorfanden, waren keine unzerstörbaren Teilchen, die mit sich selbst identisch bleiben, sondern ein feuriges Brodeln, ein ständiges Entstehen und Vergehen, etwas, das mehr dem Geistigen ähnelt – ganzheitlich, offen, lebendig. Im Grunde, so müssen wir nun sagen, gibt es nur Geist. Die Materie ist gleichsam die Schlacke des Geistigen. In unserer begrenzten menschlichen Wahrnehmung nehmen wir diese Schlacke, da wir sie mit Händen greifen können, jedoch weit wichtiger als das geistig Lebendige.“ (Quelle siehe oben)

Eines der merkwürdigsten und unfassbarsten Phänomene der Quantenwelt sei hier noch erwähnt: die „quantenmechanische Verschränkung“ zweier Lichtteilchen (Photonen), die inzwischen auch bei Elektronen (also Bauteilen von Materie) nachgewiesen wurde. Jedes Teilchen hat einen eigenen Drehimpuls, den Spin. Sind zwei Teilchen „verschränkt“, dann heißt das, dass die beiden Teilchen einen entgegengesetzten Spin haben (der zusammen Null ergibt, d.h. sich gegenseitig aufhebt). Das Besondere: Ändert sich der Spin eines der Teilchen, dann ändert sich augenblicklich auch der Spin des anderen – egal, wie weit sie voneinander entfernt sind, sei es an beiden Enden des Universums. D.h. jedes Teilchen „weiß“ vom anderen und „kennt“ ständig dessen Polarisationszustand unabhängig von der Entfernung. Nach Einstein dürfte das gar nicht sein, denn es gibt nichts, was schneller als Licht ist. Licht hat eine begrenzte Geschwindigkeit (eben die Lichtgeschwindigkeit = 300 000 km/s) und braucht Jahrmilliarden von einem Ende zum anderen des Universums. Also dürfte es auch keine schnellere Informationsübertragung als mit Lichtgeschwindigkeit geben. Und doch gibt es sie beim Phänomen der verschränkten Teilchen, die sich in einem nichtlokalen gemeinsamen Quantenzustand befinden. Einstein wollte das nicht wahr haben und sprach von der „spukhaften Fernwirkung“. Die Verschränkung verweist irgendwie auf die Existenz einer verborgenen, ungeteilt verbundenen Wirklichkeit, die jenseits von Raum und Zeit der physikalischen Wirklichkeit zugrunde liegt. Es soll sich hierbei um eine Frage extremer Zeitdilatation im Rahmen relativistischer Physik handeln (lat. dilatare = dehnen, aufschieben – gemeint ist die relative Zeitungleichheit in unterschiedlich schnell sich zueinander bewegenden Systemen: die Zeit wird „gedehnt“ und Uhren gehen an verschiedenen Orten unterschiedlich schnell, je nach Geschwindigkeits- oder/und Gravitationseinfluss). „Zeitdilatation ist aber ein Phänomen, das weit außerhalb unseres Alltagsverständnisses liegt, genauso wie Teilchen-Welle-Dualismus. Daher werden wir quantenphysikalische Verschränkung nie wirklich verstehen. Aber wir können sie mathematisch fassen und da funktioniert sie dann prächtig und macht sogar Sinn.“, schreibt der Astronaut und Physiker Ulrich Walter (https://www.welt.de/wissenschaft/article160310020/Einsteins-spukhafte-Fernwirkung.html).

Es gibt bereits Bestrebungen von Quanteningenieuren (ein neuer Berufszweig), dieses Phänomen, das wir – wieder einmal! – vorfinden, bei Quantencomputern und verschlüsselter Datenübertragung praktisch zu nutzen.

XI. Gott

Nun habe ich weit ausgeholt, um die Geschöpflichkeit des Menschen und seine Umgebung zu umschreiben, d.h. dass wir weder Anfang noch Mittelpunkt noch Ende der Welt sind, sondern Teil von ihr, die vor und nach uns und ohne uns war und sein wird. Dieser Gedanke ist für den stolzen Menschen nur schwer erträglich, er erfährt ihn als „narzisstische Kränkung“, weil unsere „narzisstische Illusion“ zerstört wird (so Sigmund Freud) – was sich durch die ganze Geschichte zieht: von der Vertreibung aus dem Paradies (wenn auch nur als Metapher) über die Vertreibung aus dem Mittelpunkt des Kosmos (dem anthropozentrischen Weltbild der Antike) durch Galilei, Kopernikus und Kepler und die moderne Astronomie bis hin zum sich Verlieren in einem Algorithmus, in dem der Mensch schließlich endgültig aus dem Zentrum in das X einer Formel gerollt ist. Gleiches gilt für die Evolutionslehre, die im viktorianischen England (und in religiös-fundamentalistischen Kreisen bis heute) als „Gotteslästerung“ empfunden wurde. Ich erinnere nur an das oft zitierte Wort, das die Frau des Bischofs von Worcester zu ihrem Mann gesagt haben soll, als sie von der Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809 – 82) gehört hatte: „Abgestammt von den Affen! Lass uns hoffen, dass es nicht wahr ist, aber falls doch, lass uns beten, dass es nicht allgemein bekannt wird.“

Der religiöse Leser mag jetzt den Schluss erwarten, dass ein Geschöpf auch einen Schöpfer haben muss und dieser gleich Gott gesetzt wird – und aus dem von mir gesammelten Material lässt sich leicht ein plausibler „Gottesbeweis“ basteln (Vorsicht: Plausibilitätsfalle!). Dies geschieht oft, indem Gott für alles herhalten muss, was uns rätselhaft ist (und dies ist das meiste, wie ich gezeigt habe) – Gott als Lückenbüßer für unser Unwissen, über das man dann spotten kann „Wer nichts weiß, muss alles glauben“ (Marie von Ebner-Eschenbach, 1830 – 1916). Vieles wissen wir aber noch nicht, und mit fortschreitendem Wissen wird es dann immer enger für diesen Lückenbüßergott. Andere sehen daher „Gott“ in dem anderen Teil walten, den wir erkennen und erforscht haben und in dem wir einer überwältigenden Ordnung und Gesetzmäßigkeit begegnen. Hier kommt die Frage nach dem Gottesbild ins Spiel, die ich aber hier nicht ausdiskutieren kann – aber ich komme später unvermeidlich darauf zurück (wenngleich ich mich nicht nur auf den in den Schriften der drei abrahamitischen Religionen offenbarten Gott beziehe, sondern eher auf den in Welterkenntnis und Erfahrung sich offenbarenden).

Der vor kurzem verstorbene Astrophysiker Stephen Hawking (1942 – 2018) stellt in seinem Buch „Der große Entwurf – eine neue Erklärung des Universums” (Hamburg, 2010, S. 11) folgende Fragen an den Anfang: „Wie können wir die Welt verstehen, in der wir leben? Wie verhält sich das Universum? Was ist das Wesen der Wirklichkeit? Woher kommt das alles? Braucht das Universum einen Schöpfer?” Und er antwortet gleich: „Traditionell sind das Fragen für die Philosophie, doch die Philosophie ist tot. Sie hat mit der neueren Entwicklung in der Naturwissenschaft, vor allem in der Physik, nicht Schritt gehalten.” Für Hawking ist nun nicht nur Gott, sondern auch gleich die ganze Philosophie tot – dabei missversteht er allerdings lediglich die Erkenntnistheorie als das Ganze der Philosophie, die durchaus nicht tot ist.
Für den bereits zitierten Hans-Peter Dürr „zielt die Frage nach Gott ins Leere“: „Wenn Leute mich fragen, »Glaubst du an Gott?«, dann sage ich oft: »Ich bin ein Atheist«. Hierbei bedeutet aber die Vorsilbe A-, so wie im Sanskrit, nicht eine Verneinung, sondern erklärt das Ziel der Frage für ungültig. Anders ausgedrückt: Gott ist für mich, was nicht gezählt werden kann, weil es das Ganz-Eine meint, nämlich »Advaita«, das Unauftrennbare. Nur in diesem Sinne bin ich ein A-theist. Aber ich bin kein Atheist in dem Sinne eines Ungläubigen, da ich nicht an einem über unser Verständnis hinausgehenden Zusammenhang zweifle: ein einziges Beziehungsgefüge, das viele Namen hat, die alle nur Gleichnisse sind. Wir können es Geist oder Liebe nennen. Die Liebe ist das, was für mich am besten zum Ausdruck bringt, was wir als Verbundenheit erfahren und als Empathie empfinden.“ (Quelle wie oben)

Wenn wir jemandem sagen, dass wir ihn lieb haben, so ist dies ein Überfluss und Überschuss an Liebe wie ein Blankoscheck an Vertrauen, denn eigentlich hat niemand „verdient“, lieb gehabt zu werden. Religiös gesprochen heißt das „Leben aus Gnade“, die wir unverdient als Mangelwesen von „Gott“ empfangen und deshalb auch unserem unvollkommenen Nächsten gewähren bzw. weitergeben. Im günstigsten Fall erzeugt dies „Resonanz“ beim Gegenüber. So entsteht eine Beziehung zum Mitmenschen, und so öffnen wir eine Tür, durch die Liebe in die Welt kommen kann und damit eine Chance bekommt, die allerdings auch auf vielfältige Weise verspielt werden kann.

XII. Natur und Geist

Es dürfte aufgefallen sein, dass ich öfters „die Natur“ in Anführungszeichen gesetzt habe. Wo nämlich die einen „rückständig“ von „Gott“ reden, sprechen die anderen gerne „fortschrittlich“ von „der Natur“ – das klingt „aufgeklärter“. Beide Begriffe werden jedoch gleichermaßen in unbedachter, oberflächlicher Weise gebraucht: mit beiden „Be-griffen“ meinen wir, das Phänomen „be-griffen“ zu haben, wie wir einen vor uns liegenden Gegenstand „be-greifen“ (wörtlich!) und ihn dann in einen „Be-griff“ fassen können, weil wir ihn „be-griffen“ haben. Beide meinen etwas, dessen Wirkung wir erfahren können, aber was da wirkt, dieses Etwas, bleibt uns verborgen. Klar bleibt dabei unbezweifelbar, dass da etwas wirkt. Unsere Begrifflichkeit versagt hier, und beim Gebrauch der Begriffe „Natur“ oder „Gott“ rechnen wir das große Geheimnis, das eigentlich Unnennbare, das All-Eine (wie es auch die Mystiker erfuhren), das Ganz-Andere, das Ganz-Eine und Unauftrennbare (so Dürr, s.o.), all dies rechnen wir dabei herunter auf das Fassungsvermögen unseres beschränkten Menschengeistes und bringen es damit verkleinernd auf unser Maß. Sehr erhellend finde ich, wenn der Philosoph Karl Jaspers (1883 – 1969) hier vom „Umgreifenden“ redet, das man religiös in diesem weiten und tieferen Sinn auch „Gott“ nennen mag. Denn was uns „umgreift“, kann nicht von uns im oben beschriebenen Sinne „begriffen“ werden als (an-)fassbares Ding, als Gegen-stand, denn was uns „umgreift“ kann uns nicht entgegen-stehen. Deshalb sind für Jaspers „Gottesbeweise“ unmöglich: „Die Beweise und ihre Widerlegung zeigen nur: ein bewiesener Gott ist kein Gott, sondern wäre bloß eine Sache in der Welt.“ 4)Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, München 1988, S. 34

Im allgemeinen Sprachgebrauch haben wir uns angewöhnt zu sagen, „die Natur“ oder „die Evolution“ habe etwas hervorgebracht, als sei sie die Handelnde – „die Natur“, wer oder was ist das, das solchen effektiven Geist und solche gezielten Fertigkeiten besitzt? Oder wir sagen, „es“ hat „sich“ entwickelt oder „das Leben hat sich angepasst“ oder ein Lebewesen habe ein Problem „gelöst“, indem es „geschafft“ habe, „sich“ umzugestalten, um besser angepasst zu sein an die Umwelt (ich kenne kaum eine Erläuterung dazu, die nicht so formuliert, sei es in wissenschaftlichen Texten oder Dokumentationen). Dabei hat ein Lebewesen nicht einmal das Bewusstsein für das zu lösende Problem, geschweige denn die Fähigkeit zur Durchführung einer so komplexen Lösung in so effektiver Weise (was man dann doch eher einem „Gott“ zubilligen könnte). Zweifellos wirkt hier ein unbewusstes überindividuelles „Bewusstsein“ und eine „Information“, die einen „Bau- oder Umbauplan“ liefert, und das kann man nur „Geist“ nennen, an dem wir Menschen dank unseres hochkomplexen Gehirns, das nur wie der Empfänger wirkt, dessen Sender wir nicht kennen, begrenzt teil-haben statt ihn hervorzubringen. Tatsächlich wäre „Um-bauplan“, das bessere Wort, denn es handelt sich hier gerade nicht um einen starren, ein für alle Mal festgelegten Plan, sondern permanente Schöpfung: dieser „Geist“ reagiert nämlich in höchst effizienter Weise mit hoher Intelligenz, die nicht an ein Gehirn gebunden ist, die wir aber teilweise mit unserem Gehirn „einfangen“ können, auf die jeweilige Situation. Dabei haben wir diesen „Empfänger Gehirn“ selbst „empfangen“, wir wurden damit „ausgestattet“ und haben ihn nicht hervorgebracht, ja, wir können ihn nicht einmal auch nur im Entferntesten nachbauen, obwohl wir auch hier gerne „Gott zu spielen“ versuchen. Hier möchte man sagen „Wär nicht das Gehirn geisthaft, den Geist könnt es nie erfassen“ in Abwandlung des Goethewortes „Wär nicht das Auge sonnenhaft,
die Sonne könnt es nie erblicken“ (Zahme Xenien, Bd. III). Mit anderen Worten: gäbe es nicht so etwas wie „Geist“, dann brauchten wir kein Gehirn bzw. dieses wäre gar nicht da, so wie das Auge nur da ist, wo es Licht gibt. Lebewesen in ewiger Dunkelheit brauchen keine Augen und haben deshalb auch keine, wie etwa eine Fischart in absolut dunklen Höhlenseen, während Fische der gleichen Art, die am Sonnenlicht leben, mit Augen ausgestattet sind. Also erst war das Licht, und dieses „provozierte“ die Augen. Dürfen wir Ähnliches auch für das Verhältnis Geist-Gehirn annehmen?

Unser Gehirn „weiß“ mehr als uns bewusst ist (und wir nehmen mehr wahr, als uns bewusst ist). Es speichert Wissen und Erfahrung, die ins Unterbewusstsein absinken. Eine unterbewusste Verknüpfung dieses „Abgesunkenen“ nennen wir Intuition. Manchmal (und wohl öfter als wir denken) arbeitet unser Gehirn sozusagen „ohne uns“.

Da nicht restlos determiniert, sondern mit einem kreativen „Spielraum“ versehen („ergebnisoffen“), wissen wir weder, wohin die Gesamtentwicklung geht, noch was ihr „Ziel“ ist (etwa „der Punkt Omega“ im Sinne der Teleologie von Pierre Teilhard de Chardin, 1881 – 1955). Es ist das Spiel zwischen Gesetzmäßigkeit und Freiheit (wie es gerade die Quantentheorie gezeigt hat, in der es um Wahrscheinlichkeiten geht, um Möglichkeiten und nicht Notwendigkeiten) oder zwischen „Zufall und Notwendigkeit“ (so der Titel des berühmten 1970 erschienen Buches des Molekularbiologen und Nobelpreisträgers Jacques Monod). Der Begriff „Zufall“ wäre aber nochmal besonders zu hinterfragen, über den Albert Schweitzer gesagt haben soll: „Der Zufall ist das Pseudonym, das der liebe Gott wählt, wenn er inkognito bleiben will.“

Die häufigen Anführungszeichen sollen die Hilflosigkeit unserer Sprache andeuten, das zu Benennende auszudrücken. Bereits das Wort „Entwicklung“ ist irreführend: als sei da etwas, das schon drin ist und nur „ent- d.h. ausge-wickelt“ werden muss! Wenn wir redlich sind, müssen wir auch hier bescheiden werden und (wie bei der „dunklen Materie“) bekennen: „Mehr wissen wir nicht.“

XIII. Logos

Nun nochmal: ich übersetzte den Beginn des Johannesevangeliums „εν αρχη ην ο λογοσ“ (en Archêi ên ho Logos = in der Lutherbibel „Im Anfang war das Wort“) mit „Im Anfang war die Information“ – Hans-Peter Dürr sagt „Am Anfang war der Geist“: beides bezeichnet das Gleiche, um das es geht (jedenfalls nicht „Im Anfang war der Wasserstoff“ – so der Titel eines berühmten Buches von Hoimar von Ditfurth [1921 – 89], dem Vater der ehemaligen Grünen-Politikerin Jutta Ditfurth – den feinen, aber nicht unwesentlichen Unterschied zwischen „im und am Anfang“ lasse ich hier außer Acht). Und in diesem Sinne mag man es auch „Gott“ nennen: wenn man „Logos“ mit Geist übersetzt, heißt es weiter im Johannesprolog „und der Geist war bei Gott, und Gott war der Geist“ (wobei die Bedeutung von Logos weit gefächert ist: Wort, Geist, Sinn, [ausgesprochener] Gedanke, Begriff, Prinzip, Definition, Vernunft, göttlicher, schöpferischer Gedanke, Weltgedanke, Weltvernunft usw.).

Ob „Geist“, ob „Gott“: seine „Wirkung“ zeigt sich in der „Wirklichkeit“, „es“ selbst bleibt dabei verborgen wie der „deus absconditus“ (der verborgene Gott, siehe Jesaja 45,15: „Fürwahr, du bist ein verborgener Gott …“, dessen Name Jahwe im strengen Judentum aus Ehrfurcht vor dem Unnennbaren nicht einmal ausgesprochen werden darf und deshalb mit Adonai = Herr umschrieben wird).

Da dieser „Geist“ sein Wirken nicht mit der Initialzündung eines „Urknalls“ beendete, sondern die ganze Evolution durchzieht, findet „Schöpfung“ (oder wenn man will Evolution) bis heute in jedem Moment statt (wenn auch so langsam, dass wir es in unserer kurzen Lebenszeit kaum bemerken), und jeder von uns ist ihr Mitgestalter und somit mitverantwortlich für diese Schöpfung, die nicht vollkommen sein mag, aber über deren „Schöpfer“ der Astrophysiker Harald Lesch in seiner Fernsehreihe „Alpha Centauri“ sagt: „Es muss ein Meister sein, der solche Schnitzer macht“.

XIV. Sein oder Nicht-Sein: die „Schnitzer“

Und genau diese „Schnitzer“ kamen bisher zu kurz, worauf ich dankenswerterweise hingewiesen wurde.

Wenn man so will, passierte der erste große Schnitzer gleich beim „Urknall“: es entstand etwas mehr Materie als Antimaterie, die sich ja beim Zusammentreffen gegenseitig auslöschen (die Physik spricht hier von einer kosmischen Asymmetrie). Warum das so ist, ist eines der großen physikalischen Rätsel und zugleich Forschungsgegenstände, aber dieser Ungleichheit verdanken wir, dass etwas Materie übrig blieb und überhaupt etwas ist und nicht nichts, wie es ohne diesen kleinen Überschuss an Materie zu erwarten wäre – auch wir verdanken ihm unsere Existenz.

Zumindest ist dies ein physikalischer Versuch einer Antwort auf die große Frage, die sich in unterschiedlichen Formulierungen viele Philosophen stellen:
Formuliert Gotthold Ephraim Leibniz (1729 – 81) „Pourquoi il y a plus tôt quelque chose que rien?“, so heißt es bei Friedrich Wilhelm Schelling (1775 – 1812) „Warum ist nicht nichts, warum ist überhaupt etwas?“, während Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) ihr eine existentielle Wendung gibt („Lieber nichts als etwas“). Martin Heideggers (1889 – 1976) Auseinandersetzung mit dem Nihilismus führt zu der Frage: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ (wobei er zu der höchst theoretisch-philosophischen Aussage kommt, dass „das Nichts nichtet“), während Hanna Arendt (1906 – 75) sie ins Politische wendet („Warum ist überhaupt jemand und nicht niemand?“).

Dabei ist das Nichts ja viel wahrscheinlicher als das Sein, denn damit etwas ist, bedarf es einer Anstrengung. Alles in der Welt strebt natürlicherweise einem Zustand höchster Entropie zu, ein Begriff, der ursprünglich aus der Thermodynamik kommt. Gemeint ist ein Zustand des Ausgleichs, des Abbaus von Ordnung und Komplexität. Wenn ich z.B. Wasser erhitze, um mittels einer Dampfmaschine Energie zu gewinnen, dann muss ich zuvor Wärmeenergie zuführen. Diese Energie geht jedoch durch den ständig stattfindenden Wärmeausgleich teilweise wieder verloren. So, wenn ich Wasser verschiedener Temperatur zusammenfüge: es stellt sich in der gesamten Flüssigkeit eine mittlere Temperatur ein, die ausgeglichen (an jedem Punkt „gleich-gültig“), aber energie-, spannungs- und strukturlos ist – der Zustand höchster Entropie ist erreicht: quasi eine „Nulllinie der Entropie“. Dynamische Energie steckt in Unterschieden und nicht in „Gleich-gültigkeit“.

Leben ist nun die komplexeste Struktur, die wir kennen – und deshalb zugleich die labilste, gefährdetste und aller unwahrscheinlichste. Sie kann sich gegen diesen allgemeinen Trend zur Entropie nur herausheben aus diesem Zustand niedrigsten Energielevels durch ungeheure Energie oder einen „Willen“ (der ja geistige Energie ist) von „außen“ oder „innen“. Wie ein Hochgebirge erhebt sich das Leben über die „Nulllinie der Entropie“, der letztlich wieder alles zustrebt. Und ein ebensolch gefährdetes Hochgebirge ist im Geistigen die Ethik der Liebe, der Nächsten- und sogar der Feindesliebe, die sich berghoch über die unterste Ebene, die „ethische Nulllinie“ des „natürlichen“ Umgangs der Lebewesen miteinander, erhebt. Denn dies beobachten wir in der Natur, solange es Leben auf der Erde gibt: ein Lebewesen lebt auf Kosten des anderen, d.h. fressen und gefressen werden, wobei nur einer überlebt dank des Gefressenen, von dem der Überlebende sich ernährt. Der logische Schluss daraus könnte sein: Du oder ich, einer bleibt auf der Strecke, Rücksicht gibt es nicht, der Stärkere setzt sich durch. Dies ist das Gesetz der Natur, über das sich der ethische Mensch erhebt, was auch hier, wie oben über das Leben generell gesagt, nur mit ungeheurer Energie und Willen gelingt – eine kulturelle Leistung.

In der Sendung „nacht-sicht“ des Bayerischen Fernsehens am 13.3.2018 (Thema „Worüber wir staunen“) sprach Andreas Bönte mit dem bereits genannten Astrophysiker Harald Lesch und dem Biologen Christian Kummer SJ (zusammen schrieben sie das Buch „Urknall, Weltall und Leben“). Lesch zitierte hier einen leider nicht genannten Theologen, der sagte, dass Gott für ihn genau dieser Unterschied zwischen Sein und Nicht-Sein sei – und da ist alles dazwischen, was eigentlich „von selbst“ gar nicht sein dürfte!
Sein ist aber noch nicht gleich Leben. Es bedarf einer sehr exakten Strukturierung dieses Seins, dass Leben möglich wird. Und da wären wir bei der Feinabstimmung der Naturkonstanten, die ich hier im Einzelnen gar nicht nennen kann. Würde auch nur eine dieser Konstanten um ein Haar abweichen, so wären wir nicht da. Wir sagen auch: „es“ würde uns dann nicht „geben“. Hier wieder die Frage, die bei genauem Hinsehen in dieser gewohnten umgangssprachlichen Aussage steckt: was ist dieses „Es“, das uns „gibt“ oder nicht gibt?

So sehr diese Feinabstimmung eine notwendige Bedingung für unsere Existenz ist, von der aus wir sie rückblickend erkennen, so sehr müssen wir uns davor hüten, uns als das notwendige Ziel und Ergebnis dieser Gegebenheiten zu begreifen – so, als gäbe es diese Feinabstimmung nur, um uns hervorzubringen, womit wir wieder beim Anthropozentrismus landen würden, dem die Menschheit immer wieder in ihrer Eitelkeit in die Falle gegangen ist. Es war möglich, aber nicht notwendig, dass der Mensch unter diesen Umständen entstanden ist. Und wir sind genau dort entstanden, wo diese Umstände für Leben gegeben waren. Und genauso, wie diese von der Warte unseres Dasein geradezu wunderbaren Bedingungen uns hervorbrachten, so kann uns eine kleinste Abweichung wieder spurlos vernichten, ohne dass ein „Kosmos“ sich darum schert. So verschwenderisch schöpferisch dieses Universum ist, so kann es ebenso zerstörerisch sein – beides greift unweigerlich ineinander. So ist z.B. eine Supernovaexplosion nichts anderes als der „Tod“ eines Sterns am Ende seines „Sternenlebens“, und dieser Tod bringt die notwendigen Elemente für Leben hervor. Auch in der Evolution des Lebens selbst zeigt sich das. Teilweise führte sie in Sackgassen und bediente sich des Prinzips „Versuch und Irrtum“. Millionenfach wird Leben hervorgebracht und millionenfach wieder vernichtet, ohne Rücksicht auf Einzelwesen, Hauptsache einige überleben und sichern den Fortbestand – das einzelne Lebewesen ist dabei nur die kurzzeitig konkretisierte Emanation des allgemeinen Lebenswillens, die Verwirklichung nur einer vorübergehenden Möglichkeit unter Millionen, ein Experiment der Bewährung oder der „nützliche Idiot“ zur Weitergabe des Lebens, für das Selbstreproduktion eines seiner wichtigen Kennzeichen ist. Das Individuum als Wert ist eine späte menschliche Kulturleistung.

Jahrmillionen lang bevölkerten Dinosaurier die Erde, und vermutlich würden sie es heute noch tun, hätte nicht der Einschlag eines Meteoriten von 10 km Durchmesser im Golf von Mexiko vor ca. 65 Millionen Jahren ihr Leben beendet und damit der Entwicklung der Säugetiere eine Chance geboten, an deren vorläufigem Ende nun wir stehen – gerade mal seit einem Wimpernschlag in der Erdgeschichte und noch weniger in kosmischen Dimensionen. Und in dieser kurzen Zeit haben wir diese Erde verändert wie kein Lebewesen vor uns – bis hin zur Möglichkeit, alles Leben auf diesem Planeten zu vernichten. Aber jetzt kommt’s: Auch diese Möglichkeit, die für uns ein Verbrechen wäre, wäre schließlich ein Ergebnis einer legitimen Spielart der Evolution – sie würde einfach ohne uns in eine andere Richtung weitergehen. Wir wären nicht die erste und vermutlich nicht die letzte Spezies, die in einer Sackgasse endete. Hier sehen wir, dass weder der Evolution noch dem Kosmos moralische Qualitäten nach unserem Maßstab eignen, noch dass wir solche aus ihnen ableiten können. Die „Welt an sich“ ist ohne Moral.

XV. Der radikale Pessimist des Erkennens: Albert Schweitzer

Nun komme ich doch noch unweigerlich zu Schweitzer. Er bezeichnete sich als Pessimisten des Erkennens, aber als unerschrockenen Optimisten des Wollens, das soll hier nicht vergessen werden. Aber in unserem Zusammenhang interessiert mich nur seine pessimistische Erkenntnis, die er die „Vorhalle zur Ethik“, auf die er seinen Optimismus des Wollens gründet, nennt. Er formuliert dies so unerbittlich, wie man es gerade ihm nicht zutraut. Denn er will seinen ethischen Optimismus nicht auf schönfärberische Interpretation und unzulässige Deutung der Welt gründen, die die Wirklichkeit vergewaltigt, indem sie ihr einen „Sinn“ oder „Zweck“ nach unserem Maß und Wunsch überstülpt (weder „natürlich“ noch „übernatürlich“). Deshalb fordert er die radikale Entkoppelung der Ethik von Welterkenntnis. Es ist wert, hier seine brillanten Ausführungen zur negativen Welterkenntnis zur Kenntnis zu nehmen: „Die Aussichtslosigkeit des Unternehmens, den Sinn des Lebens in dem Sinn der Welt zu begreifen, ist zunächst damit gegeben, dass in dem Weltgeschehen keine Zweckmäßigkeit offenbar wird, in die das Wirken der Menschen und der Menschheit irgendwie eingreifen könnte. Auf einem der kleineren unter den Millionen von Gestirnen leben seit einer kurzen Spanne Zeit Menschenwesen. Auf wie lange? Irgendeine Herabsetzung oder Steigerung der Temperatur der Erde, eine Achsenschwankung des Gestirns, eine Hebung des Meeresspiegels oder eine Änderung in der Zusammensetzung der Atmosphäre kann ihrem Dasein ein Ende setzen. Oder die Erde selber fällt wie so manches andere Gestirn irgendeiner kosmischen Katastrophe zum Opfer. Was wir für die Erde bedeuten, wissen wir nicht. Wie viel weniger dürfen wir uns dann anmaßen, dem unendlichen Universum einen auf uns zielenden oder durch unsere Existenz erklärbaren Sinn beilegen zu wollen! (…) Sie [die Natur] ist wunderbar schöpferische und zugleich zerstörende Kraft. Ratlos stehen wir ihr gegenüber. Sinnvolles in Sinnlosem, Sinnvolles in Sinnvollem: dies ist das Wesen des Universums.“ 5)Kulturphilosophie I, 2. Teil: Kultur und Ethik, 1960, S. 293

Später wird er noch präziser: „Nicht einmal die Überzeugung, dass die Bestimmung der Erde sich in dem auf ihr entstehenden Leben erfüllt, ist in den Tatsachen begründet. Unendliche Zeiten hindurch war sie ein glühender Weltkörper. Leben, wie es sich heute auf ihr entwickelt hat, konnte auf ihr nicht bestehen. Möglich ist es erst seit einer Weltsekunde … und vielleicht nur für die Dauer einer solchen. Eine geringste Störung in den zur Zeit auf ihr bestehenden atmosphärischen Verhältnissen bedeutet sein Ende. Tritt irgendeine Veränderung in ihrer Umdrehung um sich selbst und um die Sonne ein, nimmt aus irgendeinem andern Grunde die Temperatur auf ihrer Oberfläche zu oder ab oder ist sie nicht mehr in derselben Weise wie zur Zeit von einem Dunstkreis [gemeint ist hier die Erdatmosphäre] umgeben, der als Regulator für die Temperatur dient, so wird sie wieder, wie vordem, ohne das jetzt auf ihr befindliche Leben sein. Denn nicht von jeher und voraussichtlich nicht für immer gehören Erde und Leben zusammen. Alles, was wir von der Erde wissen, nötigt uns, mit der Möglichkeit zu rechnen, dass sie einmal als völlig erkalteter oder wieder glühender Weltkörper in dem All kreisen wird.“ 6)Kulturphilosophie III: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben, 2. Teil, 1999, S. 311

Weiter schreibt er: „Unruhe, Enttäuschung und Schmerz sind unser Los in der kurzen Spanne Zeit, die zwischen unserem Entstehen und Vergehen liegt. Das Geistige ist in einer grausigen Abhängigkeit von dem Körperlichen. Sinnlosen Ereignissen ist unsere Existenz ausgeliefert und kann von ihnen in jedem Augenblick vernichtet werden. Der Wille zum Leben gibt mir Trieb zum Wirken ein. Aber es ist mit dem Wirken, als ob ich mit dem Pfluge das Meer pflügen und Samen in diese Furchen säen wollte. Was haben die, die vor mir wirkten, erreicht? Was für eine Bedeutung hat das, was sie erstrebt haben, in dem unendlichen Weltgeschehen? Mit all seinen Vorspiegelungen will der Wille zum Leben mich dazu verleiten, mein Dasein weiter zu fristen und Wesen, denen dasselbe armselige Los beschieden ist wie mir, ins Dasein treten zu lassen, damit das Spiel immer weitergehe.” 7)Kulturphilosophie I, 2. Teil: Kultur und Ethik, 1960, S. 298f

Der gerade verstorbene Karl Kardinal Lehmann (1936 – 2018), Bischof von Mainz, spricht in seinem „Geistlichen Testament“ ebenfalls vom Zwiespalt des Lebens: „Unter zwei Dingen habe ich immer wieder und immer mehr gelitten: Unsere Erde und weithin unser Leben sind in vielem wunderbar, schön und faszinierend, aber sie sind auch abgrundtief zwiespältig, zerstörerisch und schrecklich. Schließlich ist mir die Unheimlichkeit der Macht und wie der Mensch mit ihr umgeht, immer mehr aufgegangen. Das brutale Denken und rücksichtsloses Machtstreben gehören für mich zu den schärfsten Ausdrucksformen des Unglaubens und der Sünde. Wehret den Anfängen!“ (zitiert nach FAZ, 22.3.2018, S. 3: „Klare Position im Glauben, Offenheit im Denken und Reden“ von Daniel Deckers)

Die Frage, ob wir in der „besten aller möglichen Welten“ leben (nach der „Theodizee“ von Leibniz), möge nun jeder für sich beantworten. Diese Aussage meint ja nicht, dass die Welt vollkommen ist. Bertrand Russel (1872 – 1970) schrieb dazu: „Meinen Sie, wenn Ihnen Allmacht und Allwissenheit und dazu Jahrmillionen gegeben wären, um Ihre Welt zu vervollkommnen, dass Sie dann nichts Besseres als den Ku-Klux-Klan oder die Faschisten hervorbringen könnten?“ („Warum ich kein Christ bin“, S. 23)

Der bereits mehrfach erwähnte Harald Lesch stellt angesichts dieser kosmischen Sicht die Frage nach der Gültigkeit des Erlösungswerks auf Golgatha neu: Erlösung nur für uns, für alle Lebewesen, alle Lebewesen aller, auch früherer Zeiten oder gar aller möglichen im ganzen Kosmos? Für eingefleischte Anthropozentriker (und erst recht für religiöse Fundamentalisten) sind solche Fragen allerdings reine Blasphemie.

Die Demokratie nennen wir auch die beste aller möglichen Staatsformen – und dennoch sind viele unzufrieden mit und in ihr – sicher teilweise berechtigt.
Zur besonders in den beiden letzten Kapiteln gestreiften Sinnfrage, auf die ich hier nicht weiter eingehe, und der Ethik Albert Schweitzers siehe mein Essay „Vom Schwimmbad zur Ethik Albert Schweitzers – Einladung zum Nachdenken über den Sinn des Lebens“: https://erbacher-hof.de/schweitzer/vom-schwimmbad-zur-ethik-albert-schweitzers

XVI. Demut

Einfach Mensch sein. Davon ging ich aus. Jetzt nochmal: Mit-Mensch sein (Stichwort: Liebe, Empathie – siehe das Zitat von Dürr) und Geschöpf sein (Stichwort: nicht sich selbst verdanken). Das klingt religiös, was es ja auch vielleicht ist. Nicht einmal der größte Atheist, ob „geschaffen“ oder „entwickelt“ (was nicht einmal ein Gegensatz sein muss!), kann seine Geschöpflichkeit verleugnen, die seine Endlichkeit einschließt, auch wenn er einen „Schöpfer“ leugnet.

Es ist unglaublich, wie weit es dieses „aufgeblähte Spermatozoon“ Mensch mit seinem Wissen und Können gebracht hat und worauf es stolz sein kann. Hierher gehören z.B. das Erkennen, Erforschen und Anwenden der Naturgesetze, die sich allerdings zur Wirklichkeit verhalten wie Landkarten zur Landschaft, wie Harald Lesch treffend bemerkte – die Landkarte ist ein abstraktes Abbild, aber nicht identisch mit der konkreten Landschaft, die sie abbildet, wenn auch praktisch auf sie anwendbar.

Doch das meiste bleibt, wie ich dargelegt habe, noch zu erforschen in dieser Welt, wobei jede gelöste Frage neue gebiert, wie das abgeschlagene Haupt der Hydra doppelt nachwächst. Und es soll auch erforscht werden, auch wenn der Erkenntnis in manchen Dingen natürliche Grenzen gesetzt sind. So gehört zum Menschsein der Stolz auf die ungeheuren Fähigkeiten des Geistes, aber auch die Demut vor der vergessenen Erkenntnis, dass der Mensch sich diesen Geist nicht selbst verdankt. In diesem Sinne soll der Dichter und Naturforscher Goethe das letzte Wort haben: „Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.“
8)Quelle: Goethe, Maximen und Reflexionen. Aphorismen und Aufzeichnungen. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hg. von Max Hecker, Verlag der Goethe-Gesellschaft, Weimar 1907. Aus dem Nachlass. Über Natur und Naturwissenschaft

Fußnoten   [ + ]

Eine Antwort auf „Zur Selbstfindung als Mensch in Leben, Welt und Kosmos“

  1. Lieber Rainer,
    ich bin sprachlos ob Deines Interessens- und Wissensspektrums. Mich hat Dein Text schier erschlagen ob seiner Komplexität. Meine geistigen Fähigkeiten, Dir einen qualifizierten Kommentar hierzu zu geben, sind bei weitem nicht ausreichend . Allerdings habe ich Deine Ergüsse auch nur überflogen. Aber nicht desto trotz. Du warst für mich schon immer der Philosoph in unserer Klasse. Wurdest Du eigentlich nie von jemandem aus Deinem geistigen Umfeld als Kandidat für einen Dr. h. c. erkannt?
    Auch wenn meine Zeilen aufgrund meines Unvermögens für Dich in keiner Weise konstruktiv sind, wollte ich mit dem schlichten Lesen Dir meine Achtung entgegenbringen, denn es tut weh, wenn man auf keine Resonanz eines Angesprochenen stößt, insbesondere, wenn es um Gedanken geht, die einen mehr als umtreiben, beuteln, schlaflos machen. So wundert es mich nicht, daß so manche e-Mail von Dir zu nächtlicher Stunde geschrieben wird.
    Es tut mir leid, daß Du in mir keinen Diskussionspartner gefunden hast. Aber vielleicht komme ich doch noch einmal auf diesen oder jenen Gedanken von Dir zurück, ohne Dein Gedankengebäude in toto erfasst zu haben. Aber ich habe auch ein bißchen Angst bei der Beschäftigung mit der Komplexität unseres Universums in eine Art Depression zu fallen – vielleicht aus der Erkenntnis heraus, welche Bedeutungslosigkeit der Mensch und erst recht man selbst als Individuum hat. Man wird aus seiner „Egozentrik“ herauskatapultiert und in seiner Größe „atomisiert“.
    Aber Hedonismus ist auch keine Alternative!
    HDH

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