Bachkonzert 2000

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)

Kantate BWV 75 „Die Elenden sollen essen“

für Sopran, Countertenor, Tenor, Bass, Trompete, Oboen, Oboe d’amore,

Streicher und Basso continuo

 

„Vor deinen Thron tret ich hiermit“ BWV 668

für Sopran, Oboe d’amore, Streicher und Basso continuo

bearbeitet von Rainer Noll

Kantate BWV 76 „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“

für Sopran, Countertenor, Tenor, Bass, Trompete, Oboen, Oboe d’amore,

Sreicher und Basso continuo

Die Ausführenden:

 

Susanne Frühhaber (USA/Düsseldorf), Sopran

Joachim Diessner (Köln), Countertenor

Christoph Leonhardt (Dresden), Tenor

Markus Lemke (Heidelberg), Bass

Idsteiner Vokalisten

Heidelberger Kantatenorchester

Martin Nitz (Hamburg), Orgelcontinuo

 

Leitung: Rainer Noll

 

Zum Programm:

Im Jahre 1723 wurde Johann Sebastian Bach, seit sechs Jahren „hochfürstlicher“ Hofkapellmeister zu Köthen, zum Thomaskantor und Musikdirektor der Stadt Leipzig gewählt. Er blieb sozusagen übrig, nachdem berühmtere Musiker wie Telemann und Graupner abgesagt hatten, und so kam es denn auch zu der bekannten Äußerung des Dr. Platz, festgehalten im Protokoll der Sitzung des Leipziger Stadtrates: „Da man die besten nicht bekommen konnte, müsse man mittlere nehmen.“ Allein Bürgermeister Lange hatte den größeren Durchblick: „Wann Bach erwehlet würde, so könnte man Telemann … vergessen“. Dennoch: Niemand wurde sich im damaligen Leipzig (und ebenso andernorts) bewusst,  dass ihr Kantor, den man immer wieder von amtswegen „subalternieren“ zu müssen glaubte, unter oft verdrießlichen Umständen in stetigem, stillen Fleiß Werke von Weltrang schuf, für deren Überlieferung er selbst wenig tat. Stattdessen musste er sich noch von kleinkarrierten Ratsherren, von denen nichts als ihre wichtigtuerische Bedeutungslosigkeit der Nachwelt zu berichten bleibt, vorwerfen lassen: „Nicht allein tue der Kantor nichts, sondern wolle sich auch diesfalls nicht erklären … es müsse doch einmal brechen.“ Man drohte ihm das Gehalt zu  „verkümmern“, da er „incorrigibel“ (unverbesserlich) sei. Und 1730 hieß es im Rat bei der Wahl eines neuen Rektors für die Thomasschule, man möge hier besser fahren als mit der Wahl des Kantors. Bei der schon zu Bachs Lebzeiten geschmacklos betriebenen Wahl seines Nachfogers resümierte man im Stadtrat: „… man brauche einen Cantorem und keinen Capellmeister!“ (auf heutige Verhältnisse übertragen: einen „Gemeindemusiker“ – aber bitte ohne künstlerische Ambitionen!). Fast hundert Jahre sollte es dauern, bis Bachs Größe in breiteren Kreisen erkannt  zu werden begann.

 

Zu Bachs Aufgaben gehörte es u.a., für jeden sonntäglichen Hauptgottesdienst eine Kantate zu liefern und aufzuführen. Dieser Gottesdienst begann um 7 Uhr in der Frühe und dauerte 3-4 Stunden (je nach Jahreszeit in der stets unbeheizten Kirche!). Er stellte ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis dar und wurde regelmäßig von über 2000 (!!) Menschen besucht (und dies, obwohl um 11:30 Uhr die hauptsächlich von Handwerksburschen und Gesinde besuchte „Mittagspredigt“ und um 13:30 Uhr die „Vesper“ folgten – beide ebenfalls stark frequentiert wie die täglich stattfindenden Werktagsgottesdienste!).

So wurde sicher mit großer Spannung die erste Kantatenaufführung Bachs nach seiner Wahl erwartet. Dieser trat sein Amt als Director musices, als der er für die Musik in den vier Hauptkirchen Leipzigs zuständig war, am 1. Sonntag nach Trinitatis (30. Mai 1723) in der Nicolaikirche an mit der  Kantate Nr. 75 „Die Elenden sollen essen“:

Dieses Werk hat Bach noch in Köthen komponiert. Erst am 22. Mai, dem Samstag vor Trinitatis des Jahres 1723, war er mit seiner Familie (mit Frau Anna Magdalena, fünf Kindern und einer Schwägerin) und vier Wagen voll Hausrat in Leipzig angekommen, um die Kantorenwohnung in der Thomasschule zu beziehen.

Die Kantate ist zweiteilig. Der erste Teil wurde unmittelbar nach der Evangelienlesung aufgeführt, während der zweite Teil nach der Predigt, die vorgeschriebenermaßen eine Stunde zu dauern hatte, in der Abendmahlsliturgie direkt nach den Einsetzungsworten erklang (dies gilt auch für die zweite Kantate des heutigen Konzertes). Evangelium zum Sonntag nach Trinitatis ist das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus (Luk. 16, 19 – 31), aus dem sich die Thematik des Kantatentextes ergibt. Quasi als Ergebnis der Auslegung werden beide Kantatenteile von dem mit freudigen Orchesterfigurationen ausgeschmückten Choral „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ beschlossen. Die den zweiten Teil einleitende Sinfonia ist ebenfalls eine Bearbeitung dieses Chorales für Orchester – ein einzigartiger Fall in Bachs Schaffen. „Hier handelt es sich nicht um ein altmodisches Vorimitations-Präludium, in dem jede Melodiezeile durch eine Serie von imitativen Einsätzen vorbereitet wird. Vielmehr liegt hier ein modernes konzertantes Choralvorspiel vor, in dem  die phrasenweise Imitation durch ein einziges vereinheitlichendes Ritornell abgelöst worden ist.“ (George B. Stauffer in „Die Welt der Bach-Kantaten“, Bd. 3, Stuttgart und Kassel 1999, S. 162)

Die „Acta Lipsiensium academica“, die Chronik der Universität, berichtet unter den Ereignissen vom Mai 1723 über die Aufführung: „Den 30. dito als am 1. Sonnt. nach Trinit. führte der neue Cantor u. Collegii Musici Direct. Hr. Joh. Sebastian Bach, so von dem Fürstl. Hofe zu Cöthen hieher kommen, mit guten applausu seine erste Music auf.“ – „ »Mit guten applausu« (in übertragener Bedeutung; geklatscht wurde selbstverständlich nicht) klingt nicht gerade überschwenglich.“ (Alfred Dürr, „Die Kantaten von Joh. Seb. Bach“, Kassel – Basel – London 1981, S. 326) Aber man war mit ihm zufrieden – fürs erste jedenfalls. „Daß Bach seine Antrittskantate BWV 75 »mit gutem applausu« aufgeführt habe (…) oder daß eine seiner Ratswechselkantaten als eine »so künstlich [kunstvoll] als angenehme Music« empfunden wurde, bleiben die einzigen öffentlichen Reaktionen auf ein musikalisches Repertoire, das seinesgleichen nicht kannte.“ (Christoph Wolff in „Die Welt der Bach-Kantaten“, Bd. 3, Stuttgart und Kassel 1999, S. 35)

 

Eine Woche später, am 6. Juni 1723, führte Bach die bereits in Leipzig geschriebene zweite Kantate des heutigen Abends in der Thomaskirche auf,

„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ BWV 76:

Diese Kantate steht der ersten nicht nur entstehungszeitlich nahe, sondern auch formal und besetzungsmäßig. Beide Kantaten sind zweiteilig angelegt, beide bestehen aus zweimal sieben Sätzen (7 = heilige Zahl, 7 + 7 = 14 = Quersumme des Namens BACH – ob Bach dies mit Absicht so wählte?), in beiden wird Teil II von einer instrumentalen Sinfonia eingeleitet und die beiden Teile werden jeweils mit einem musikalisch identischen Chor beschlossen. Auch die Eingangschöre zeigen gleichen Aufbau: nach einem Einleitungsteil (im Falle von BWV 75 im französischen Ouvertürenrhythmus) folgt eine Fuge. Als Text für beide Eingangschöre wählte Bach Psalmverse (in BWV 75 Psalm 22, 27).

Als Evangelienlesung ging BWV 76 das Gleichnis vom großen Gastmahl (Luk. 14, 16 – 24) voraus. Der Eingangschor über Psalm 19, 2 und 4 ist ein Lobpreis des gesamten Kosmos auf die Herrlichkeit Gottes. „Wer einmal in seinem Leben die wunderbaren Themen, in denen Bach die zwei Psalmverse des ersten Chors darstellt, gehört hat, kann sie nimmer vergessen. Überhaupt gehört dieser Chor zu denjenigen des Meisters, die am elementarsten wirken. Er berauscht geradezu.“ schreibt Albert Schweitzer („Joh. Seb. Bach“, Wiesbaden 1960, S. 504). Die kammermusikalisch gehaltene Sinfonia, die Teil II einleitet, hat Bach später mit kleinen Änderungen als 1. Satz seiner Orgeltriosonate e-moll BWV 528 wiederverwendet. Zu dem fallenden Bassmotiv des Schlusschorals (mit dem Schlusschoral von Teil I identisch) meint Schweitzer: „Man sieht eine große Menschenmenge niederkniend das Haupt beugen.“ (a.a.O., S. 505)

 

Wenn Bach in einer Eingabe vom 15. August 1736 an den Rat der Stadt Leipzig seine Werke als „ohngleichen schwerer und intricater [verwickelter]“ bezeichnet, so liefern bereits seine beiden ersten Leipziger Kantaten den besten Beweis dafür. Es war ungeheuerlich, was er seinem Ensemble gleich zu Beginn abverlangte, und es ist bis heute eine Herausforderung geblieben.

 

Zwischen diese beiden Kantaten stelle ich als Ruhepunkt die Choralbearbeitung „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ BWV 668, die ich vom Heidelberger Kantatenorchester und den Idsteiner Vokalisten (cantus firmus) ausführen lasse. Nach alter Manier wird jede Choralzeile imitatorisch vorbereitet, bis der Sopran zuletzt mit der Melodie einsetzt. Dieses Werk hatte Bach schon früher unter dem Titel „Wenn wir in höchsten Nöten sein“ komponiert:

Wenn wir in höchsten Nöten sein

und wissen nicht, wo aus noch ein,

und finden weder Hilf noch Rat,

ob wir gleich sorgen früh und spat,

 

so ist dies unser Trost allein,

dass wir zusammen insgemein

dich anrufen, o treuer Gott,

um Rettung aus der Angst und Not.

Nun nahm er es sich nach einem am 20. Juli 1750 erlittenen Schlaganfall, also in den letzten acht Tagen seines Lebens, zur Revision vor. Er ließ es sich von einem Freunde auf dem Pedalcembalo vorspielen und diktierte diesem die Korrekturen, da er nach zwei misslungenen Augenoperationen vollends erblindet war. Den Choraltitel änderte er in „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ (dieser Choral wurde zur gleichen Melodie gesungen):

 Vor deinen Thron tret ich hiermit,

o Gott, mit inniglicher Bitt:

ach, kehr dein liebreich Angesicht

von mir, dem armen Sünder nicht.

Er fühlte das baldige Ende nahen und hatte die „höchsten Nöte“ wohl innerlich bereits überwunden. Bis zum letzten Atemzug strebte er so nach musikalischer Vollkommenheit, um damit in Würde vor Gottes Thron treten zu können – Soli Deo Gloria (Gott allein zu Ehren – wie er unter alle seine Partituren schrieb). Wie lebendiges Wasser aus reinster Quelle, so floss Bachs höchster künstlerischer Anspruch aus tiefster Religiosität.

Somit umspannt dieses Programm zum 250. Todestag Bachs Leipziger Zeit vom Amtsantritt bis zu seinem Tode am  Dienstag, dem 28. Juli des Jahres 1750, abends kurz nach Viertel nach acht.

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