Erschienen in Kelsterbach Aktuell 9.8.2013
An Johann Sebastian Bachs 263. Todestag (28. Juli 2013) fand das letzte offizielle Bach-Konzert, das 36. seit der Gründung dieser Reihe 1977 durch Rainer Noll, in St. Martin in Kelsterbach unter Leitung seines Gründers statt. Bereits die Programmauswahl, die hochkarätige Besetzung und nicht zuletzt die grandiose Interpretation war eine Meisterleistung des scheidenden Kantors.
Die Mitte des wie ein Barockschloss symmetrisch aufgebauten Programms bildete als intimer Höhepunkt die Kantate „Ich bin vergnügt mit meinem Glücke“ BWV 84, ausgereift interpretiert von der renommierten Heidelberger Sopranistin Eva Lebherz-Valentin, seit 18 Jahren treue musikalische Wegbegleiterin Rainer Nolls, präzise und ausdrucksstark begleitet vom herausragenden Main-Barockorchester Frankfurt auf historischen Instrumenten. Besser konnte die Wahl des textlichen Themas nicht sein: die „neidlose Zufriedenheit und Bescheidung mit dem von Gott im Leben Zugeteilten“, wie es in Nolls wieder tiefgründigen Programmerläuterungen hieß. Damit ist auch ein wesentlicher Charakterzug des Kantors genannt, der über 41 Jahre sein hohes musikalisches Niveau gegen alle oft widrigen Umstände der äußerlich kleinen Kirchenmusikerstelle an St. Martin durchhielt, wie gerade dieses Konzert wieder bewies. Seine Konzerte hätten an allen Spielorten und in allen großen Städten bestehen können, er hob den Rang dieser Stelle damit weit über ihre örtliche Bedeutung hinaus, sein Name ist durch seine Auftritte und Publikationen im In- und Ausland ein Begriff – und dennoch blieb ihm die gebührende Anerkennung der „großen“ Musikwelt bisher versagt, während er selbst andere immer neidlos anerkannte und förderte, wo nur möglich, und treu sein Können auch in einfachste Dienste wie selbstverständlich einbrachte.
Als glanzvoller, an Klangpracht kaum zu überbietender äußerer Rahmen fungierten die beiden großen D-dur-Ouvertüren BWV 1068 (darin das „Air“, das berühmteste Stück des Abends) und 1069. Organische Übergänge und u. a. endlich einmal als „Sprungtanz“ zu erkennende Gavotten! Alle der zahlreich im Publikum anwesenden, aus ganz Deutschland und Holland angereisten Musiker äußerten sich restlos begeistert, so auch die katholische Bezirkskantorin Konstanze Henrichs:„Trotz zeitweilig intendierter feierlich-pompöser Wucht an entsprechenden Stellen war das Klangbild stets transparent, die Motive ,sprechend‘ herausgearbeitet und dennoch hatte jedes Stück auch die nötige Lebendigkeit, Leichtigkeit – da, wo es angebracht war… Am anrührendsten war für mich das – leider sonst so abgedroschene und ausgeleierte – ,Air‘! So habe ich dieses herrliche Stück tatsächlich noch nie gehört! Vielmehr habe ich es gänzlich ,neu‘ erlebt… Das muss ich hier mal ganz ehrlich heraus stellen! Diese Darstellung anzuhören war intensivste MEDITATION !“
Hatte Rainer Noll in diesen Werken als Dirigent von höchster Intensität gewirkt, so brillierte er im wahrsten Wortsinn in den äußerst virtuosen, aber subtil artikulatorisch gestalteten, auf Mischung mit dem Orchester bedachten Orgelsolopartien der beiden Sinfonien in D-dur BWV 169,1 und 29,1, die den inneren Rahmen um die Kantate bildeten. In der ersten gefiel besonders der Klang der Oboen d’amore (Markus Müller, Tereza Pavelkova), während in der zweiten der weltberühmte Barocktrompeter Friedemann Immer und sein Trompetenensemble sowie der Pauker Martin Homann wie schon in den Ouvertüren Glanzlichter setzten. Ebenfalls zu erwähnen der hinreißend spielende Konzertmeister Martin Jopp!
Straffe, aber nicht gehetzte Tempi verliehen dem Ganzen Schwung und Brillanz. Alles zusammen eine Glanzleistung bei hochsommerlichen Temperaturen!
Das dankbare Publikum erhob sich und spendete langen Beifall, den Bürgermeister Manfred Ockel und Stadtrat Ernst Freese noch mit Schlussworten bekräftigten, in denen Noll auch der Zugang zu „seiner“ geliebten Orgel über sein Ausscheiden hinaus nach dann insgesamt fast 46 Dienstjahren Ende April 2014 zugesichert wurde. Eine große musikalische Ära, die mehr außerhalb als in Kelsterbach geschätzt wurde, neigt sich dem Ende zu und erfuhr einen vorläufigen Abschluss, wie er würdiger nicht sein konnte.
Prof. Martin Nitz