Winterzeit und „Frieren für den Frieden“ – das kleine Glück zwischen Kälte und Wärme

Essay von Rainer Noll (23.11.2022)

Noch läuft bei mir keine mit Gas betriebene Zentralheizung (Warmwasser kommt per Solaranlage von der Sonne – sofern vorhanden – dank meiner Regenwasserspeicher liegt mein jährlicher Wasserverbrauch unter 10 Kubikmeter). Ich heize momentan nur mit Holz und Kohle, die ich noch reichlich gelagert habe, im gusseisernen Jugendstil-Ofen meiner Urgroßeltern Kern im Bauernzimmer – eine Kunst, die fast verloren scheint, die Fingerspitzengefühl und Aufmerksamkeit erfordert. Das ganze 411jährige Haus ist kalt wie seit Jahrhunderten – bis 1973! Feuer gab es bis dahin nur im Herd in der Küche, wo sich im Winter das ganze Leben abspielte. Aber Feuer will gehütet werden. So laufe ich hier herum in einem dicken, fast bis zum Boden reichenden Hausmantel wie ein „Hohepriester der Flammen und der Glut“ und denke an den anzüglichen 1967er Song „Light My Fire“ von „The Doors“ (Jim Morrison, der jung tragisch endete!), wenn das äußere Feuer nicht an oder zwischendurch ausgehen will – das innere brennt zum Glück noch, weil ich immer für etwas „brenne“.

Es ist ein Experiment, was ich da mache. Es führt mich stark retrospektiv in meine Kindheit.

Ich wuchs sozusagen zwischen zwei „Elternhäusern“ auf, dem Hof meines Vaters (heute im Besitz meines Bruders Werner, der neu baute) und dem Hof meiner Mutter (Erbacher Hof).

Während fast meiner ganzen Gymnasialzeit lebte ich bei meiner Großmutter Luise Noll (1883 – 1969) auf dem Hof meines Vaters. Sie hatte es sich als letztes Lebensziel gesetzt, mich zum Abitur zu führen – und sie hat es erreicht, kein Jahr danach starb sie. Als ich aufs Gymnasium nach Wiesbaden kam, wurde sie immerhin schon 78! Hier meine selbst gebastelte Glückwunschkarte zu ihrem 76. Geburtstag am 13. April 1959 mit selbst geschossenem Foto vor der Haustür – damals war ich 10 (sie daneben als junge Frau):

 

Ich kann ihr nicht genug danken.

Zentralheizung gab es in beiden alten Häusern nicht. Im Erbacher Hof war im Winter nur die kleine Küche durch einen Herd geheizt, auf dem auch gekocht wurde und neben dem meine andere Oma, Luise Stemler, kauerte und das Feuer hütete. In sehr kalten Wintern war hier die einzige Wasserleitung, die es im Haus gab und die zum Spülstein in der Küche führte, eingefroren. Im Hof meines Vaters leistete sich die Großmutter, Küche und Wohnzimmer zu heizen, denn hier wurde auch gegessen, hier studierte ich und übte Klavier (das ich selbst angeschafft hatte – ein Schwechten von 1890, es ziert heute noch mein Bauernzimmer wie noch andere Möbel der Großmutter). Ansonsten war das ganze Haus eiskalt. Die zugigen Toiletten beider Häuser waren draußen im Hof.

Noch ursprünglicher war es auf dem Hof meiner Urgroßeltern Kern, auf dem mein Großonkel Heinrich Kern bis fast 1990 lebte: er hatte weder Kanalisation noch Wasseranschluss – er schöpfte das Wasser aus einem Brunnen hinter der Küche wie vor Jahrhunderten.

Das Haus meines Vaters hatte immerhin bereits seit der Vorkriegszeit ein Badezimmer mit Boiler und Kohlefeuer (ohne Toilette) im 1. Stock, das höchstens am Wochenende genutzt wurde (und auch nie richtig warm wurde). Im Erbacher Hof dagegen wusch man sich nacheinander in einer Wanne in dem einzigen warmen Raum, der Küche, mit Warmwasser vom Herd. Erst 1972/73 erhielt dieses Haus durch die Initiative meiner Mutter, die leider drei Jahre später mit 50 starb, Zentralheizung, Bad mit WC und Duschen (und erst 1985 Telefon!).

Meine Großmutter ging regelmäßig um 21 Uhr zu Bett, um gegen 5 Uhr aufzustehen, während ich abends noch lange wach war (manchmal kam sie im Nachthemd, um mich zu ermahnen, wenn ich noch um 3 Uhr nachts Klavier spielte). Sie holte morgens die Eier aus dem Hühnerstall und Holz fürs Feuer herein, wobei sie die Asche vom Vortag vor sich hin streute, wenn der Weg vereist war. Um 6 Uhr weckte sie mich, oder besser: sie versuchte es … mehrmals. Denn bei solcher Kälte war es am schönsten im Bett meines verstorbenen Großvaters, in dem ich schlief, und da wollte ich einfach nicht raus. Das Schlafzimmer war ja auch ungeheizt, Eisblumen schmückten morgens die Fenster trotz kleinem „Kanonenofen“, der nur bei extremer Kälte befeuert wurde. Ganz schrecklich war es, bei Minusgraden das Plumpsklo im Hof aufsuchen zu müssen (da saß man keine Sekunde länger als nötig – man konnte festfrieren, wenn man kein Zeitungspapier unterlegte).

Nach dem provisorischen Waschen am Spülbecken in der kalten Küche mit eiskaltem Wasser erhielt ich im Wohnzimmer mein Frühstück mit echtem Kakao, in den Großmutter ein rohes Ei gekleppert hatte, damit was aus mir würde (ich hasste das – sie selbst trank gerne Rotwein mit Ei zur Stärkung – Mittagessen gab’s nach der Schule im Erbacher Hof, in der Schule aß und trank ich nie). Immerhin war das Zimmer inzwischen leicht angewärmt, dass ich es bis zum Aufbruch zum Bus um 7 Uhr erträglich fand. Doch kaum eingewöhnt musste ich schon wieder hinaus in die unwirtliche Welt bei Regen, Schnee und Eis, um einen Kilometer über Feld zur Bushaltestelle zu laufen. Laufen ist das richtige Wort, denn zum Gehen brach ich meist zu spät auf – in den ganz seltenen Fällen, dass ich den Bus verpasste, fuhr mich mein Vater, der da schon beim Tierefüttern war, zur Gutenbergschule in Wiesbaden, denn auch Telefon gab es nicht, um anrufen zu können, dass man später kommt.

Das Ganze ging so fast acht Jahre lang fast täglich, denn auch samstags war Schule, und sonntags früh saß ich bereits an der Orgel zum Üben für den Gottesdienst um 10. Manchmal frage ich mich, wie ich das alles überlebte und bin eigentlich froh, dass das vorbei ist.

Was also bringt mir mein regressives Experiment?

Es verändert tatsächlich das ganze Lebensgefühl, wie ich es nicht erwartet hätte, wenn man nicht dauernd wie in Watte eingepackt lebt.

Ich erlebe wieder direkt die „Natur“ des Winters, und die ist Kälte. So, wie die „Natur“ der Nacht Dunkelheit ist, die wir durch Lichtverschmutzung kaum noch wahrnehmen – auch Stille kaum noch bei fast allgegenwärtiger Geräuschverschmutzung. Wärme ist ein herausgehobener Zustand, der sich der Entropie widersetzt, der nur durch Energie, die zugeführt oder freigesetzt wird, zu erreichen ist und der ohne sie nach Abkühlung strebt, einem niedrigeren energetischen Zustand. Wenn das Feuer in meinem Ofen brennt, dann hat die Wärme wieder eine Quelle, an der man sich gerne und ganz bewusst wärmt, an der man sich freut – selbst wenn der Ofen dann aus ist, vermeint man Wärme zu spüren in seiner Nähe (Placeboeffekt). Man ist ja bei dieser Heizart nicht gleichmäßig von Wärme umhüllt, sie hat eine Richtung – bei der erlebt man wieder den Gegensatz von Kälte und Wärme. Und nur in Gegensätzen können wir die Welt erfassen: ohne Licht kein Schatten, ohne Nacht kein Tag, ohne Winter kein Sommer, ohne Kälte keine Wärme, ohne Tod kein Leben (und umgekehrt) usw. Erst, wenn uns etwas fehlt, beginnen wir dessen Wert zu schätzen: wer Erblindung erlebt, schätz erst den Wert des Augenlichtes usw. Alles hat zwei Seiten oder mehr, die sich gegenseitig ergänzen und damit bewusst machen. Ohne Gegensätze versinkt alles gleichmäßig in der Entropie, die alles ausgleichen will – und damit wird dann alles gleich-gültig: es gibt dann weder Höhen noch Tiefen, sondern nur langweilige Plattheit, weder heiß noch kalt: lau!

Wenn alles gleichförmig wird, wusste schon Goethe zu sagen: „Alles in der Welt lässt sich ertragen, / Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen.“ Weisheit, die sich einem erst auf den zweiten Blick erschließt.

Sicher ist es einfacher und angenehmer, rundum automatisch beheizt zu werden. Aber die kleine Freude, sich in der Kälte an der Nähe eines Ofens (oder auch eines Menschen) wärmen zu können, ist eine Qualität, die sonst verloren geht. Dazu einer Wärme, „meiner“ Wärme, die ich selbst „erarbeiten“ muss und die meine Aufmerksamkeit erfordert – sie ist eben nicht selbst-verständlich (was für vieles andere auch nur vermeintlich gilt).

So ein Ofen macht auch ein Zimmer wie mein größeres Bauernzimmer nicht so warm, wie es heute mit der Zentralheizung möglich ist – trotz niedriger Decke und Lehmwänden. Von daher sollte man auch die alte Empfehlung, Rotwein bei „Zimmertemperatur“ zu trinken, verstehen: 16-18°. Wenn es einem zu kalt wird, muss man nur einmal eine Weile nach draußen gehen – in Bewegung bleiben! Aber wenn man dann wieder von draußen aus der Kälte hereinkommt, spürt man die bescheidene Wärme doppelt: der Gegensatz draußen-drinnen wird bewusster, das Gefühl der häuslichen Geborgenheit intensiver. Eine Kerze kann dann die Seele mehr als sonst erwärmen, und man freut sich, an einer heißen Teeschale beide Hände zu wärmen, wie ich damals die warme Kakaotasse meiner Großmutter vor der Schule mit beiden Händen umfasste. Aber vollends wird die Nähe des wärmenden Ofens zur Quelle des kleinen Glückes für Körper und Seele.

Vielleicht haben wir verlernt, das kleine Glück zu vernehmen in unserer immer gleichförmiger, nivellierter werdenden Welt, in der fast alles sofort und überall zur Verfügung stehen soll – grenzenloser Anspruch, der grenzenloses Wachstum fordert! So suchen wir nach dem Himmel des großen Glückes und übersehen die vielen kleinen Glücke vor unseren Füßen. Selten oder nie finden wir es und bleiben frustriert zurück, was die Sucht nach immer größerem Glück auslöst – mit der Folge von immer größerem Unbefriedigtsein und existentieller Sinnleere, von deren Vakuum wir uns durch äußeren Aktionismus, Alkohol, Drogen und Sex abzulenken versuchen und letztlich in Resignation versinken. Es geht uns dabei wie bei der Suche nach der großen Liebe, die uns blind machen kann für die kleine Liebe, die uns andere bereits entgegenbringen. Unerfüllt bleibt man zurück, und resigniert verlernt man so schließlich ganz, an die Liebe zu glauben – und verliert das Höchste und Schönste, dessen der Mensch fähig sein kann … und sollte.

Dies alles hat mich mein kleines Experiment, ausgelöst von dem Motto „Frieren für den Frieden“, gelehrt – ich fror für mehr als Frieden, wenn ich es nun bald beendet haben werde: statt nach dem großen Glück zu suchen, müssen wir wieder erfahrenlernen, wie glücklich wir eigentlich dran sind.

„Das Leben besteht aus vielen kleinen Münzen, wer sie aufzuheben weiß, hat ein großes Vermögen.“

Jean Anouilh

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