Albert Schweitzer: Die Orgelwerke Johann Sebastian Bachs

Buchrezension (erschienen im „82. Rundbrief für alle Freunde von Albert Schweitzer“, Mai 1996; gekürzt in „Der Kirchenmusiker“ 4/1996)

Albert Schweitzer: Die Orgelwerke Johann Sebastian Bachs
Vorworte zu „Sämtliche Orgelwerke“  (mit einer Einleitung von Harald Schützeichel) Verlag Georg Olms, Hildesheim – Zürich – New York, 1995 271 S., 168,– DM [ISBN 3-487-09710-9, heute 88,- €]

Mit dieser Veröffentlichung, die im Sinne Schweitzers ist (s. Einleitung S. XIV), liegen erstmals die Vorworte aller acht Bände der amerikanischen Schirmer-Gesamtausgabe der Orgelwerke Bachs in einem Bande vereinigt und dazu noch in der heute nirgends zu habenden deutschen Originalfassung vor. Die ersten fünf Bände erschienen 1912/13 (Copyright der englischen Ausgabe in meinem Besitz) in deutscher, englischer und später auch in französischer Sprache, herausgegeben gemeinsam von Charles-Marie Widor und Albert Schweitzer, dessen Mitarbeit Widor zur Bedingung gemacht hatte. Sie enthalten die sogenannten freien Orgelwerke: Präludien, Toccaten, Fantasien, Fugen, Canzona, Passacaglia, Konzerte und Triosonaten.

Band VI wurde 1954 veröffentlicht, die Bände VII und VIII folgten erst 1967, zwei Jahre nach Schweitzers Tod, alle drei Bände nun unter Mitarbeit des aus Straßburg stammenden amerikanischen Organisten Edouard Nies-Berger (geb. 1903 [gest. 2002] ), und nur in englischer Sprache (zur komplizierten Editionsgeschichte siehe die Einleitung von Harald Schützeichel sowie vom selben Autor „Zur Geschichte der von Widor und Schweitzer herausgegebenen Gesamtausgabe Bachscher Orgelwerke“ in „Ars Organi“, Heft 3, 1987, S. 159-167). Sie enthalten die Choralvorspiele.

Die Editionsprinzipien (a: Noten als unberührter Urtext, b: Präludien und Fugen nach Schaffensperioden und Tonarten geordnet, c: peinliche Beachtung aller auf Bach selbst zurückgehenden Anordnungen, d: Beigabe von Text und Melodie zu den Choralvorspielen, e: die Auffassung der Herausgeber erscheint nur im Vorwort) waren zu Beginn des Jahrhunderts geradezu revolutionär. Heute sind sie eine Selbstverständlichkeit (siehe z.B. die Neue Bach-Ausgabe beim Bärenreiter-Verlag Kassel). Die klassische „Peters-Ausgabe“ (erstmalig 1844-52 erschienen – aus ihr spielten übrigens Schweitzer wie auch Widor zeitlebens) entsprach den o.g. Editionsprinzipien nicht in den Punkten b bis d.

In den Vorworten versuchten die Herausgeber, „das musikalische Handeln bei der Wiedergabe von Fugen und Präludien in knappe Worte zu fassen“, obwohl sie sich voll der verbalen „Unvollkommenheiten des vorliegenden Versuchs, des ersten der in dieser Richtung überhaupt unternommen wird“, bewußt waren (S. 29). Für die deutschen Texte und die auf ihnen fußenden englischen war Schweitzer federführend, während Widor hauptsächlich für die französischen verantwortlich zeichnete. Dies ist den Vorworten selbst jedoch nicht unmittelbar zu entnehmen, die in wesentlichen Teilen bereits 1910/11 in den Zeitschriften „Die Orgel“ und „Die Musik“ unter der Doppelautorschaft Widor – Schweitzer vorab veröffentlicht worden waren (der Vorabdruck aus Bd. I „Über die Wiedergabe der Präludien und Fugen für Orgel von J. S. Bach“ erschien 1976 bei der Eres Edition, Lilienthal, als Reprint).
Bei allem echt partnerschaftlichen Ringen der beiden Autoren, nach außen die (meistens auch vorhandene) größtmögliche Einmütigkeit der Auffassung zu demonstrieren, um die Leser nicht zu verwirren, gab es dennoch Differenzen (besonders die Artikulation betreffend), die Schweitzer im deutschen Text Konzessionen an Widors Ansichten abnötigten (siehe hierzu die Untersuchungen bei Stefan Hanheide, Johann Sebastian Bach im Verständnis Albert Schweitzers, München/Salzburg, 1990, S. 293-295 und S. 305-314, und bei Sven Hiemke, Die Bach-Rezeption Charles-Marie Widors, Frankfurt am Main, 1994, S. 117-167). Wie Hanheide zeigte, hat Widor aber auch auf die deutsche Ausgabe Einfluß genommen. Man kann insgesamt sagen, daß Widor die deutsche Ausgabe redigierte und dabei eliminierte, was seiner Auffassung ganz entgegenstand“ (Hanheide, S. 295).

Vor diesem Hintergrund erscheint mir die vorliegende Veröffentlichung unter Schweitzers Namen allein insofern bedenklich, als hier in der Einleitung mit keinem Wort auf diese Problematik eingegangen wird. Überhaupt vermeidet Schützeichel in der Einleitung bei aller bewundernswerten Detailkenntnis jeden Versuch, die veröffentlichten Texte mit neuesten Ergebnissen der Bach-Forschung in Berührung kommen zu lassen und diesen damit den ihnen gebührenden geschichtlichen Ort zuzuweisen, um so zu einer wahrhaftigen Würdigung der unbestritten großen und fruchtbaren Leistung Schweitzers zu gelangen. Dadurch wird (bewußt oder unbewusst ?) der Eindruck erweckt, als handle es sich hier generell um überzeitliche, epocheunabhängige absolute Wahrheiten zur Wiedergabe der Orgelwerke Bachs, die erneut als solche verkündigt werden sollten (was wohl auch der Überzeugung und Intention Widors und Schweitzers entspricht, aber so in einer einigermaßen wissenschaftlich-kritischen Ausgabe nicht einfach stehen bleiben kann, als hätte es nach Schweitzer keine Entwicklung oder Forschung mehr gegeben, die frühere Erkenntnisse zumindest partiell relativieren könnte).

Ein Beispiel: In seiner Forderung nach einer lebendigen Artikulation (er spricht immer von Phrasierung, auch wo er eigentlich Artikulation meint) hatte Schweitzer das Prinzipielle seiner Zeit vorauseilend (und auch weit über Widors strikte Legato-Forderung hinausgehend) aus feinfühliger künstlerischer Notwendigkeit heraus intuitiv richtig erfaßt. Hierin können wir nicht mehr hinter ihn zurück. In seinen konkreten Artikulationsvorschlägen blieb er jedoch Kind seiner Zeit und muß als überholt gelten – besonders in der fast dogmatischen Art der Anwendung seines auf Hugo Riemann zurückgehenden auftaktigen Grundprinzips mit angebundenen Auftakten auf alles und jedes bei Bach (siehe auch Jon Laukvik, Orgelschule zur historischen Aufführungspraxis, Stuttgart, 1990, S. 87). In den Notenbeispielen der deutschen Vorworte ist allerdings Schweitzers auftaktige Artikulation der Bachschen Themen der volltaktigen Auffassung Widors gewichen (vergleiche Schweitzers Artikulation im Bach-Buch und in seinen Schallplattenaufnahmen).

Die Vorworte der vorhergehenden Bände – auf Deutsch ohnehin nur anfangs gedruckt – blieben hierzulande fast unbekannt, da die Schirmer-Ausgabe in Europa wegen des hohen Preises kaum Verbreitung fand, dagegen in den USA heute noch zu den gebräuchlichsten zählt). Lediglich das umfangreiche Kapitel „Die Verzierungen in Bachs Orgelkompositionen“ (S. 147-170), das Schweitzers späte, ihm sehr wichtigen Untersuchungen zu diesem Thema enthält, erschien bereits vorher in deutscher Sprache in „Albert Schweitzers nachgelassene Manuskripte über die Verzierungen bei Johann Sebastian Bach“, Bach-Studien 8, Leipzig, 1984, S. 54-91, hier als „Zweite Fassung 1952-1953″ bezeichnet. Ihr schließt sich auf S. 91-123 eine „Dritte Fassung 1954-55″ an (also nach der Veröffentlichung des VI. Schirmer-Bandes 1954 verfaßt), zu der Bernhard Billeter im „ergänzenden Vorwort“ S. 14 schreibt, daß „in diesem Fall Schweitzers letzte Niederschriften die inhaltlich besten sind, was bei seinen nachgelassenen Manuskripten zu theologischen und philosophischen Schriften nicht immer zutrifft.“ In den 1967 veröffentlichten Schirmer-Bänden VII und VIII fand diese letzte Fassung keine Aufnahme. Stattdessen wurde hier die „Zweite Fassung“ wie schon in Band VI in englischer Übersetzung unverändert nachgedruckt. Deshalb ist es um so bedauerlicher, daß die Fassung letzter Hand der hier besprochenen neuesten Veröffentlichung nicht als Ergänzung beigegeben wurde, zumal auch die Beilage zum Bach-Buch, für die diese Fassung bestimmt war, nie erschienen ist (siehe hierzu Erwin R. Jacobi, „Schweitzers Plan einer Revision des Bach-Buches“ in Bach-Studien 8, Leipzig, 1984, S. 19-52).

Ebenso bedauerlich ist auch der teilweise unleserliche Druck der Notenbeispiele im Kapitel über die Verzierungen, der den hohen Preis des Bandes unangemessen erscheinen läßt (die Notenbeispiele in der englischen Schirmer-Ausgabe sind jedenfalls einwandfrei – sie ist übrigens z.Z. für 29,90 DM je Band so günstig wie noch nie auch in Deutschland zu erhalten).

All diese Mängel sind um so beklagenswerter, da die Veröffentlichung in den Bach-Studien 8 „in einer allerdings sehr unzureichenden Art mit vielen Druckfehlern und einer äußerst geringen Auflage“ geschah, wie Schützeichel schreibt (Einleitung, S. XV).

Leider vermisse ich in der Einleitung Schützeichels zum Inhalt dieses gewichtigen Ornament-Kapitels auch kritisch-erläuternde Sätze, wie sie sich im schon erwähnten „ergänzenden Vorwort“ der Bach-Studien 8, S. 16/17 von Billeter finden: „Es wäre bestimmt nicht im Sinne Albert Schweitzers, wollte man dem heutigen Leser verschweigen, daß eine Voraussetzung, die in seiner Zeit den meisten Interpreten als ganz selbstverständlich erschien, sich nicht aufrecht erhalten läßt. Es handelt sich um die Regel, daß die Trillertöne und die Trillernachschläge in den Takt einzuteilen seien. (…) Jedoch ist das späte Ringen Schweitzers um Klarheit in allen diesen für die Musikpraxis wichtigen Einzelfragen, über die heute noch so verbreitet Unwissenheit und Unsicherheit herrschen, nicht hoch genug zu bewerten.“

Neuere Abhandlungen zum Thema der Bachschen Verzierungen erwähnen Schweitzer nicht einmal. So z.B. Hans Klotz, Die Ornamentik der Klavier- und Orgelwerke von Johann Sebastian Bach, Kassel, 1984 (und dies, obwohl Klotz Schweitzers Triller-Manuskripte auf dessen Bitten kritisch durchgesehen und sich ausführlich dazu geäußert hat!); Jon Laukvik, a.a.O., S. 218-234; Gerhard Weinberger in „Zur Interpretation der Orgelmusik Joh. Seb. Bachs“, Kassel, 1995, S. 87-119. Die Auseinandersetzung der Fachwelt mit Schweitzers Ornamentenlehre steht also noch aus. Die vorliegende Veröffentlichung könnte dazu anregen.

Die geistige Haltung, die Schweitzer (und nicht minder auch Widor) vom Organisten verlangt, ist eine Herausforderung an den Geist unserer Zeit. „Wenn so viele Organisten sich im Zeitmaß vergreifen und das Hasten und die Unruhe nicht aus ihrem Spiel bannen können, liegt die Schuld nicht so sehr an mangelnder künstlerischer Einsicht, sondern daran, daß sie es nicht zur tiefen inneren Sammlung gebracht haben und in der Welt der Erhabenheit, der die Fugen und Präludien angehören, Fremdlinge geblieben sind“ (S. 6)

„Die Virtuoseneitelkeit und das Bestreben, sich selber bemerkbar zu machen, mit seiner ,Auffassung‘ zur Geltung zu gelangen und etwas neben Bach zu sein, müssen von ihm [dem Interpreten] wie eitler Tand abfallen. Erst wenn er vor sich selber klein wird und eine Läuterung seines Künstlertums erfährt, wird er fähig das Große, was er als Vermittler zwischen Bach und den Menschen unserer Tage aussprechen darf, selber erst zu erfassen.“ Derjenige, der das Instrument zum Erklingen bringt, müsse „es mit heiliger Gesinnung tun und etwas von der Demut und der Weihe eines Propheten an sich tragen.“ Sonst habe er, auch wenn sein Spiel noch so vollendet sei, „nur sich selber und die anderen betrogen, als hätte er Bach gespielt.“ (S. 27) Zu dieser Demut gehört für Schweitzer z.B. auch, daß der Organist sich in das Instrument und den Raum einlebt und sich die Werke vorspielen läßt, um Registrierung und Tempo im Kirchenschiff abzuhören (S. 5, S. 146). Wie viele selbst namhafte Organisten kommen knapp vor Konzertbeginn angereist, registrieren in aller Hast ein, um dem ahnungslosen Zuhörer etwas um die Ohren zu schlagen, was mit verantwortungsvollem, künstlerischen Tun nicht das Geringste gemein hat!

So sehr die „Vorworte“ zunächst nur interpretationsgeschichtlich von Bedeutung scheinen, ebenso sehr können sie doch von praktischem Nutzen für den heutigen Organisten sein. Am Beispiel Bach – dem aus heutiger Sicht völlig falschen Objekt – wird hier eine Spiel- und Registrierkunst höchsten Niveaus dargeboten, wie sie für manche romantische Orgelliteratur unverzichtbar ist und kaum besser gelehrt werden könnte (z.B. die Handhabung organisch angelegter, bruchloser Crescendi und Decrescendi, das sensible Aufspüren und Ausgestalten des inneren Kräfteverlaufs usw.). Wo es kaum zu vermuten war, ausgerechnet in einem Buch über Bach, finden wir also hier eine authentische Quelle einer fast schon vergessenen Spielweise im Geiste des 19. Jahrhunderts: Die „Widor-Schweitzer-Tradition“, die sich selbst für absolut hielt und dazu noch sich fälschlich als direkte Erbin der „authentischen Bach-Tradition“ verstand, als deren „Testamentvollstrecker“ Widor und Schweitzer sich berufen fühlten (siehe hierzu Ewald Kooiman, „Jacques Lemmens, Charles-Marie Widor und die französische Bach-Tradition“ in „Ars Organi“, Heft 4, 1989, S. 198-206, und Heft 1, 1990, S. 3-14). Unserer um historische Aufführungspraktiken so bemühten Zeit sei dringend empfohlen, dieses einzigartige Interpretationsdokument wieder zur Kenntnis zu nehmen für die „richtige“ Darstellung der entsprechenden Orgelliteratur auf dem inzwischen wiederentdeckten dazugehörenden Orgeltypus.

Die ethische Haltung Albert Schweitzers

Vortrag für „Künstlerhort“ in Verbindung mit Städtischem Kulturamt Wiesbaden, gehalten am 4.12.1979 von Rainer Noll in der Villa Clementine Wiesbaden

Sehr geehrte Damen und Herren!

An den Anfang stelle ich Fragen: Was ist der Sinn meines Daseins und welchen Inhalt soll mein Leben haben? „Was bedeutet die Gesellschaft, in der ich lebe, und ich selber in der Welt? Was wollen wir in ihr? Was erhoffen wir von ihr?“ (K I, S. 63)

Ich glaube, keiner von uns kann sagen, von diesen Fragen völlig unberührt geblieben zu sein. Den einen bedrängen sie mehr, den anderen weniger – der eine verdrängt sie mehr, der andere weniger. Es ist spezifisch menschlich, diese Fragen zu stellen. Der Wille zum Sein verbindet sich beim Menschen unlösbar mit einem Willen zum Sinn. Das Denken der Menschheit ringt in Philosophie und Religion seit Jahrtausenden um diese Fragen. Es handelt sich um Kernfragen unserer Existenz. Von ihrer Beantwortung hängt unser Verhältnis zur Welt, unsere Weltanschauung ab. Weitab von konfessioneller Engstirnigkeit berühren diese Fragen die Religiosität des Menschen. Denjenigen, der eine Antwort auf sie gefunden hat, nennt Albert Einstein religiös. Paul Tillich sagt: „Religiös sein heißt, leidenschaftlich die Frage nach dem Sinn unserer Existenz zu stellen.“ (zitiert nach V. E. Frankl, Das Leiden am sinnlosen Leben, S. 95).  „Die ethische Haltung Albert Schweitzers“ weiterlesen

Albert Schweitzer and Music

Lecture given on 12 October 2000 in Regensburg – International Symposion Bach 2000 – by Rainer Noll

„Albert Schweitzer and Music“ – the „and“ must be stressed because Albert Schweitzer without music would be inconceivable. On 26 August 1904, in the middle of negotiations about the French edition of the Bach biography, Schweitzer wrote to Oskar von Hase (1846-1921), the Senior Manager of the publishing company Breitkopf & Härtel: „…music is my heritage, I cannot help it“ (Erwin R. Jacobi: „Musikwissenschaftliche Arbeiten“, Zurich 1984, p 264). He also claims that his love for the organ is a hereditary factor. „I inherited my passion for the organ from my grandfather Schillinger who devoted much of his time to organs and organ building.“ (A. Schweitzer: „Aus meinem Leben und Denken“, Hamburg 1955, p. 7) Schweitzer’s grandfather, Johann Jakob Schillinger (1801-1872) was a reverend in Mühlbach, in the Alsace Munster valley. He continues: „Because the love for organ building had been passed down to me by my grandfather Schillinger, even as a boy was I keen to find out what was inside an organ“ (A. Schweitzer: „Aus meinem Leben und Denken“, Hamburg 1955, p. 60). Thus closes the chapter „Music“ in Werner Picht’s great biography „Albert Schweitzer – his character and meaning“ with the beautiful sentence: „Anyone who wishes to comprehend the being of Albert Schweitzer should see it as an oratorio with organ accompaniment“ („Albert Schweitzer – Wesen und Bedeutung“, Hamburg 1960, p. 197) „Albert Schweitzer and Music“ weiterlesen

Zur Renovierung des Erbacher Hofes in der Heerstraße 15 in Wiesbaden-Nordenstadt

„Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ (Goethe)

Architektur ist Ausdruck einer Geisteshaltung, die, zu baulicher Form verdichtet, unseren Lebensraum prägt und so beständig auf uns einwirkt. Ob diese Wirkung positiv oder negativ ist, hängt entscheidend davon ab, wie weit es gelungen ist, das Zweckmäßige und das Schöne – bei Achtung des historisch Gewachsenen – in Harmonie zu bringen. Dafür den Blick zu schärfen, forderte mich das Anwesen Heerstraße 15 heraus, nachdem es mir nach dem Tod meines Vaters 1984 als Erbe zugefallen war. Denn damit war mir die Möglichkeit gegeben, das Erkannte auch zu verwirklichen.

„Als Erbe zugefallen“, das heißt auch, dass diese geprägte alte Hofreite in meinen Besitz kam, ohne dass ich irgendein Verdienst daran hatte. Die Arbeit von Generationen steckt darin, auf deren Schultern wir im Guten wie im Schlechten stehen. So empfand ich dieses Erbe als anvertrautes Gut, dessen ich mich erst im Umgang damit als würdig zu erweisen hätte. In diesem Sinne, als Verpflichtung, begann ich die Renovierungsarbeiten.

Als erster Besitzer, der den Hof nicht mehr als landwirtschaftliches Produktionsmittel nutzt, war ich dabei mehr als meine Vorfahren befreit vom Zwang des wirtschaftlich Profitablen zugunsten einer ästhetischen Gestaltung. „Profitabel“ im wirtschaftlichen Sinne ist das ganze Unternehmen nicht. Es ist ein individuelles, geistig-ästhetisches Tun als Ausdruck persönlicher Wertschätzung.

Konkret forderte die neue Aufgabe Einsatz und auch Opfer – schon wegen ihrer Verschiedenheit zu meinem Beruf als Musiker. Aber ich erkannte, dass das Objekt die Mühe lohnen würde. Zunächst studierte ich einige Fachliteratur, holte mir Informationen und Rat wo immer nur möglich und nahm teil an einem Lehrgang für Fachwerkrestaurierung in Herrstein im Hunsrück. Neben eigenen Untersuchungen wurde ein Farbgutachten erstellt und eine dendrochronologische Altersbestimmung durchgeführt.

Ergebnisse waren das ursprüngliche „Ochsenblutrot“ für das Fachwerk und das Erbauungsjahr 1611 für das Wohnhaus, das als einheitlicher Renaissancebau errichtet und durch spätere Eingriffe stilistisch beeinträchtigt wurde. Alle Arbeiten mußte ich organisieren und koordinieren, zum Teil selbst ausführen oder leiten.

Dankbar war ich für jeden Handwerker, der sich über das notwendige Geldverdienen hinaus zu einer individuellen, kreativen Arbeit begeistern ließ, deren Produkt unverwechselbar seine Handschrift trägt – einer nicht entfremdeten Arbeit also, mit der sich der Ausführende identifizieren kann. Hier setzt solche Renovierungsarbeit ein Zeichen gegen den Zeitgeist einer profitorientierten Wegwerfgesellschaft, in der Menschen ohne Eigenschaften Produkte ohne Eigenschaften zum Massenkonsum fremdbestimmt herstellen. Ein Haus mit Geschichte, Charakter und Seele ist etwas anderes als eine beliebig vertauschbare, genormte Wohneinheit.

Viel Zeit brauchte das Nachdenken, ja Meditieren über die Lösung der vielfältigen praktischen und gestalterischen Probleme, die hier nicht ausgebreitet werden können. Bei der Gestaltung ging es mir weder um museale noch um nostalgische Bestrebungen. Unter Achtung des historisch Gewachsenen sollte die bauliche Vielfalt des Gehöfts zu einem neuen, praktisch nutzbaren und ästhetisch befriedigenden Ganzen gefügt werden. So ist z.B. das Ochsenblutrot für das Torhaus von 1849 sicher historisch nicht zu rechtfertigen. Als das Schmuckfachwerk des Wohnhauses im 17. Jahrhundert diesen Rotanstrich erhielt, existierte kein Torhaus. Und als das Torhaus erbaut wurde, verwendete man andere Farben, wobei das Fachwerk unter Putz war. Nun aber musste das Sichtfachwerk des 17. Jahrhunderts und das Torhaus des 19. Jahrhunderts zu einer einheitlichen Fassade gestaltet werden.

Ich hoffe, dass mir mit dieser Renovierung gelungen ist, allen Bürgern zur Freude an der Rettung und Gestaltung des Gesichts des historischen Ortskerns von Nordenstadt mitgewirkt zu haben. Hoffentlich werden möglichst viele durch diese Renovierung (wie auch diejenige vereinzelter anderer Höfe) zu neuem Denken und Handeln im Umgang mit überlieferter Bausubstanz angeregt, ehe dieser organisch gewachsene Ortsteil seine Seele endgültig verloren hat.

Nordenstadt, im August 1990
Rainer Noll

22. Torhauskonzert im Erbacher Hof

Samstag, den 13. August 2011, 17 Uhr

Heerstraße 15, Wiesbaden-Nordenstadt

Festliches Trompetenkonzert

mit dem Pfeiffer-Trompeten-Consort (3 Trompeten, Pauken und Orgel)

Auf dem Programm steht u. a. die berühmte „Feuerwerksmusik“ von Georg Friedrich Händel und Musik durch die vier Jahrhunderte des Wohnhauses, ergänzt durch unterhaltsame Moderationen.

Die drei Brüder Joachim (Solotrompeter der Lübecker Philharmoniker und des Schweriner Blechbläser-Collegiums), Harald und Martin Pfeiffer gründeten zusammen mit dem Heidelberger Konzertorganisten Kirchenmusikdirektor Peter Schumann Mitte der 80-er Jahre an der Heiliggeistkirche Heidelberg, wo Schumann fast 30 Jahre als Kantor wirkte (davor in Hamburg und Wiesbaden), das Pfeiffer-Trompeten-Consort. Dazu kommt Mathias Müller, erster Solopauker im Gewandhausorchester Leipzig.

Inzwischen hat sich das Ensemble im nord- und süddeutschen Konzertleben etabliert und lässt so manches berühmte, aber auch weniger bekannte Werk der Musikliteratur in festlichem Gewand neu erstrahlen.

Die Torhauskonzerte gründete Rainer Noll, selbst Kantor an St. Martin Kelsterbach, vor 22 Jahren als völlige Privatinitiative, ohne jede finanzielle Rückendeckung von irgendeiner Seite, aber auch ohne auf Gewinn zu zielen. Alle Konzerte haben sich finanziell selbst getragen, auch dank des ehrenamtlichen Helferteams. Im Vordergrund steht einfach die Freude, gute Musik in einer alles anderen als steifen Konzertatmosphäre an Menschen heranzubringen und das schöne Anwesen für Begegnung und Kommunikation zu öffnen – so auch bei den musikalischen Weinproben, die hier seit 11 Jahren stattfinden.

Als Rahmen dient das Stammhaus der mütterlichen Linie der Vorfahren Rainer Nolls: der bis 1556 zum Kloster Eberbach im Rheingau gehörende Erbacher Hof mit entsprechendem Ambiente, den Noll in Eigeninitiative restauriert hat (Wohnhaus von 1611, ältestes Haus im Dorf: Vierhundertjahrfeier!). Das als Bühne fungierende Torhaus, das den Konzerten ihren Namen gibt, wurde 1849 von Nolls Ururgroßvater Johann Georg Stemler erbaut.

Anschließend werden wie immer Getränke und Gegrilltes zum Selbstkostenpreis angeboten.

Karten sind zu haben zu 14 € im Vorverkauf und 17 € an der Abendkasse.

In Zusammenarbeit mit dem Vereinsring Nordenstadt und dem Kulturamt Wiesbaden.

Vorverkaufsstellen:

WI-Nordenstadt:

  • Bäckerei Konditorei Martin, Heerstr. 38
  • Bäckerei Konditorei Stemler, Heerstr. 5 und Filiale Oberpfortstr. 7
  • Das Lädchen, Stolbergerstr. 43

Wiesbaden:

  • Musikalien Petroll, Marktpl. 5

Kelsterbach:

  • Schreibwaren Hardt, Marktstr. 3