Im Geiste Silbermanns

Einige Thesen zum Thema

Albert Schweitzer und die Silbermann-Orgel

(für „organ“ 2/98)

1) Die Begegnung mit einigen älteren Orgeln, die Albert Schweitzer im Elsaß in seiner Jugend kennengelernt hatte, nährten seine Zweifel in Bezug auf den Orgelbau seiner Zeit. Zu nennen sind hier u. a. die Walcker-Orgeln in St. Stephan zu Mülhausen (1866) und in der Ev. Kirche zu Münster (1873). Dieser Anstoß führte schließlich zur „Elsässischen Orgelreform“, die nach dem Ersten Weltkrieg in der „Orgelbewegung“ weitergeführt wurde (jedoch mit veränderter Zielsetzung).

2) Einige dieser alten Orgeln waren ursprünglich im 18. Jahrhundert von der im Elsaß wirkenden Orgelbauerfamilie Silbermann erbaut worden (z. B. in St. Matthäus zu Colmar und in St. Thomas, St. Aurelien, St. Wilhelm und St. Nikolaus zu Straßburg). Zu Schweitzers Zeit befand sich keine dieser Orgeln mehr im Originalzustand. Sie hatten z. T. erhebliche Änderungen und Erweiterungen im Sinne des 19. Jahrhunderts erfahren (z. B. Vermehrung der 8′-Register, erweiterter Ausbau des Pedals, Ersetzung des Echo-Werks durch ein vollständiges III. Klavier oder ein Schwellwerk, Wegfall des Rückpositivs). „Im Geiste Silbermanns“ weiterlesen

Albert Schweitzer: unzeitgemäß aktuell

(Vortrag von Rainer Noll, 25.9.2010, Ev. Barockkirche Wiesbaden-Auringen, 17 Uhr)

Ich beginne mit Präludium d-moll BWV 539 auf der Raßmann-Orgel von 1889 (manualiter wegen nachoperativer Fußerkrankung) – Dann Hörbeispiel: Albert Schweitzer spielt Präludium C-dur BWV 545 auf der Orgel in All Hallows by the Tower, Barking Essex /London (Aufnahme: 16.-18.12.1935).

Große Ähnlichkeit des Klangbildes und der Spielweise.

Vor 45 Jahren, am 4. September 1965, starb Albert Schweitzer in seinem Urwaldhospital Lambarene in Afrika im 91. Lebensjahr. Als Motto zum heutigen Thema möchte ich ein Wort Albert Schweitzers voranstellen: „Die Wahrheit hat keine Stunde. Ihre Zeit ist immer und gerade dann, wenn sie am unzeitgemäßesten erscheint.“ Unzeitgemäß ist Schweitzer ganz gewiss, aber deshalb (oder gerade deshalb) nicht weniger aktuell. Man denkt an André Gides Feststellung, dass das Denken nur so weit Gültigkeit bewahrt, als es inaktuell ist. Lassen Sie mich versuchen, Ihnen einen Albert Schweitzer vorzustellen, wie Sie ihn bisher wohl noch nicht gekannt haben, ja vielleicht nicht für möglich hielten.

Sie werden kaum erraten, von wem ich aber zunächst spreche: Er gehört in eine Reihe mit Hitler, Stalin oder Pol Pot und ist einer der vergessenen Massenmörder des 19. und 20. Jahrhunderts. Von diesen unterscheidet ihn allerdings, dass er, um sich persönlich zu bereichern, und zwar um 231 000 000 € nach heutigem Wert, den Tod von mindestens 10 000 000 Männern, Frauen (ohne Rücksicht auf Schwangere) und Kindern in Kauf nahm (Schätzungen gehen teils auf mehr als das Doppelte). Und ausgerechnet dieser Mann schmückte sich mit humanitären Parolen und verkündete 1876 bei der von ihm einberufenen Konferenz der „amis de l’humanité“ (also „Freunde der Menschlichkeit“): „Der Zivilisation den einzigen Erdteil zugänglich zu machen, in den sie noch nicht vorgedrungen ist, und die Finsternis zu durchdringen, die noch ganze Völker umhüllt, dies ist ein Kreuzzug, der unseres Jahrhunderts des Fortschritts würdig ist.“ [armer Mann, in welcher Finsternis lebtest Du eigentlich selbst?] Bei dieser Konferenz hob man die „Association Internationale Africaine“, die Internationale Afrika-Vereinigung, aus der Taufe und erkor ausgerechnet diesen Mann zu deren Präsidenten. Diese Vereinigung sollte künftig Unternehmungen zur „wissenschaftlichen Erforschung der unbekannten Teile Afrikas“, zur „Zivilisierung des inneren Afrika“ und zur „Unterdrückung des Sklavenhandels“ koordinieren. Unter diesem Deckmantel riss er sich das Kongo-Becken als privaten Besitz von 1885 bis 1908 unter den Nagel und beutete das Land schonungslos aus, vor allem wegen des Kautschuks, den Dunlop und Goodyear für die aufkommende Reifenproduktion benötigten (die Schiffe fuhren beladen mit Kautschuk, Gold und Elfenbein nach Europa und kehrten mit Waffen beladen zurück nach Afrika). Wer von den Eingeborenen das Soll nicht erfüllte, wurde kurzerhand erschossen. Den Offizieren musste von jedem Erschossenen eine abgehackte Hand als Beweis für den zweckmäßigen Gebrauch der teuren Munition vorgelegt werden. Jagd auf Tiere war den Soldaten deshalb verboten, und wer es doch tat, hackte einfach lebenden Menschen für jede verschossene Kugel die geforderten Hände ab. Manchmal „erlegten“ sie auch einfach zum Zeitvertreib die Einheimischen. Offiziere schmückten ihre Gartenzäune mit Köpfen von Erlegten. Dies alles nur die Spitze des Berges der Gräueltaten, von denen wir u. a. aus Tagebüchern des schwedischen Geistlichen Sjöblom und auch durch den Schriftsteller Joseph Conrad („Heart of Darkness“, 1899) wissen!

(Quelle auch Adam Hochschild, „King Leopold’s Ghost“, 1998)

Was sich hier auch zeigt: manche Länder der so genannten 3. Welt sind keineswegs arm von Natur aus, sondern reich an Bodenschätzen und Handelsgütern – und deshalb ausgebeutet und arm gemacht für unseren Wohlstand.

 

Wer war nun dieser Mann, der dies alles als Landesherr des „Kongo-Freistaates“ zumindest duldete um seines Profites willen und mit hohen Bestechungsgeldern die öffentliche Meinung zum Schweigen brachte (was ihm zum Glück nicht vollkommen gelang)? Es war der sich verlogen christlich-humanitär gebende König der Belgier, Leopold II. aus dem Haus Sachsen-Coburg und Gotha (1835-1909), der heute noch in seinem Land in Ehren steht (z. B. Straßen und Plätze tragen noch seinen Namen). Ein Zeichen für intaktes Volksempfinden mag sein, dass die Bevölkerung buhte, als sich der Trauerzug mit seinem Leichnam durch die Straßen bewegte (was, dies ahnend, gegen seinen Wunsch geschah).

 

Ebenfalls in Zentralafrika, nur durch Französisch Kongo (heute Republik Kongo) von Belgisch Kongo (heute Demokratische Republik Kongo) getrennt, liegt die ehemalige französische Kolonie Gabun (alle seit 1960 unabhängig). Hier gründete Albert Schweitzer 1913, also nur vier Jahre nach Leopolds Tod, sein Urwaldspital Lambarene. [Als Goebbels einen Brief an Schweitzer „mit deutschem Gruß“ unterzeichnete, antwortete dieser „mit zentralafrikanischem Gruß“]

Einen anderen Geist der Wahrhaftigkeit, völlig konträr zu der Doppelzüngigkeit Leopolds, bezeugen die Worte Schweitzers: „Zuletzt ist alles, was wir den Völkern der Kolonien Gutes erweisen, nicht Wohltat, sondern Sühne für das viele Leid, das wir Weiße von dem Tage an, da unsere Schiffe den Weg zu ihren Gestaden fanden, über sie gebracht haben.“ (AS, „Wir Epigonen“, München 2005, S. 338) „Draußen in den Kolonien geht es trostlos zu. Wir – die christlichen Nationen – schicken den Abschaum unserer Gesellschaft hin; wir denken nur daran, wie wir aus den dortigen Menschen viel herausziehen … kurz, was draußen vorgeht, ist ein Hohn auf Menschlichkeit und Christentum. Soll die Schuld einigermaßen gesühnt werden, so müssen wir Menschen hinausschicken, die im Namen Jesu Gutes tun, nicht ,bekehrende Missionare‘, sondern Menschen, die das an den Armen tun, was man tun muss, wenn die Bergpredigt und die Worte Jesu zu Recht bestehen. Bringt das Christentum das nicht fertig, so ist es gerichtet.“ (zitiert nach Peter Münster, „Albert Schweitzer“, München 2010, S. 27f)

Wozu diese Einleitung? Bei der Gegenüberstellung Leopold II. – Albert Schweitzer lässt der Blick in Leopolds Schatten uns Schweitzer in gleißendem Licht erscheinen, nicht im Strahlenkranz des Heiligenscheins, eher in dem durchdringenden von Röntgenstrahlen. Auf der einen Seite ein „christlicher“ König mit Phrasen der Humanität auf den Lippen, die ihm als Tarnung dienen, während er in Wahrheit vom Schreibtisch aus zum brutalen Massenmörder aus Profitgier wird, der sich nie selbst in den Kongo (und damit in Gefahr) begeben hat. Auf der anderen Seite Schweitzer, der seinen zwei Doktortiteln (in Philosophie und Theologie) einen dritten in Medizin hinzufügt und auf eine gesicherte Existenz und Karriere als Hochschullehrer für Neues Testament und als gefragter Organist verzichtet, um vor Ort im mörderischen Klima Afrikas als Arzt die physische Not der Eingeborenen zu lindern, dabei Gesundheit und Leben riskierend. Auf seiten Leopolds neben der Inhumanität auch noch himmelschreiende Unwahrhaftigkeit und Verlogenheit – auf Schweitzers Seite die Verkörperung von Humanität in Wort und Tat, also höchste Wahrhaftigkeit und Authentizität, deren Fehlen noch heute mancher öffentlichen Persönlichkeit in Politik und Kirche gleichermaßen die Glaubwürdigkeit kostet und zu der vielbeklagten Verdrossenheit führt.

Es bleibt bei Schweitzer eben nicht bei Worten. Er hat zwar den Mut, die Missstände beim Namen zu nennen, aber er klagt nicht nur an und fordert andere zum Handeln auf, sondern er selbst tut, was ihm möglich ist, auch wenn dies vielleicht nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein ist. Er tut dies, einfach weil es getan werden muss, aus innerer Notwendigkeit in der Haltung eines Idealismus, der seinen Lohn in sich selbst trägt und nicht von äußerer Beachtung und Anerkennung abhängt. Dies mag ein Grund sein, dass ihm später diese Anerkennung im Übermaß zuteil wurde, gerade, weil er sie nicht gesucht hat – dann allerdings mit der Verklärung zur Legende und zum Heiligen, der er nicht war (seine Tochter Rhena sagte das immer wieder). Die Kraft seiner Persönlichkeit liegt in der Kongruenz von Denken und Leben, von Wollen und Tun – und dies beeindruckt bis auf den heutigen Tag, sofern noch ein Gespür dafür vorhanden ist. Denn zu leicht gewöhnt man sich resignierend auch an das Gegenteil, wenn man einfach der normativen Kraft der Wirklichkeit erliegt statt selbst auf diese zurückzuwirken. Der andere große Albert, Einstein, meinte deshalb zuversichtlich: „Am Ende muss doch ein unzerstörbarer guter Kern in vielen sein, sonst hätten sie nie seine schlichte Größe erkannt.“ (zitiert nach Friedrich Schorlemmer, „Albert Schweitzer – Genie der Menschlichkeit“, Berlin 2009, S. 243) Für die Nachkriegszeit mit ihrem Hunger nach Idealen mag das gelten. Es ist zumindest fragwürdig, ob dies heute noch, über ein halbes Jahrhundert später, zutrifft.

 

Vor diesem Hintergrund dürfte auch überdeutlich werden, wie verfehlt es ist, Schweitzer als Kolonialisten oder gar Rassisten zu interpretieren, nur weil er sein Spital mit der Autorität eines Patriarchen führte und auch gelegentlich eine Ohrfeige verteilte. Oder auch, weil er dem Sprachgebrauch der Zeit folgend noch von „Negern“ und „primitiven Völkern“ sprach. Er sah sich selbstbewusst als der ältere Bruder der Eingeborenen – aber eben doch als Bruder und nicht als Besitzer und Ausbeuter. Als solcher war er als Herr zugleich ihr erster Diener, der keinerlei Profit aus den Menschen zog – ganz im Gegenteil! Dem Geist nach war ihm die Würde des Afrikaners, wie die jedes Menschen, unantastbar.

Auch Schweitzers Christentum, das völlig mit seiner Humanität verschmilzt, wird gegenüber dem Leopolds mehr als deutlich. Da umhüllt sich ein König mit dem Mantel der Frömmigkeit, um die Bestie dahinter zu verbergen (und er ist nicht der einzige in der Geschichte!). Schweitzer dagegen antwortet auf Jesu Ruf „Du aber folge mir nach“ schlicht mit „Herr, hier bin ich“ und nimmt ohne viele Worte sein Kreuz des Dienens mit allen Konsequenzen auf sich – wahre Demut. Auch hier wieder verfehlte Interpretationen: in manchen Kreisen wollte und will man Schweitzer absprechen, dass er noch Christ sei. Dies liegt an seiner Theologie, die in der Tat liberaler ist als manche ahnen, selbst Verehrer. Das heißt im Klartext, wie er selten gesprochen wird: Jungfrauengeburt und Gottessohnschaft, Sündenvergebung durch Jesu Kreuzestod und deren Vergegenwärtigung im Abendmahl, Trinität und selbst Auferstehung sind für ihn keine Themen. Daher auch seine Nähe zum Bund für freies Christentum, dessen erster Ehrenpräsident er wurde, und zu den Unitariern, dessen Ehrenmitglied er war (wie der Name schon sagt, lehnen diese auch die Trinitätslehre ab – siehe hierzu: Werner Zager, „Albert Schweitzer als liberaler Theologe“, Berlin 2009, S. 176 ff). Er ist sich durchaus bewusst, dass manche seine Auffassung nur für Atheismus halten können (siehe z. B. Brief von Silvester 1905 an Helene Bresslau, AS+HB, S. 125). Er lässt aber aus Ehrfurcht jedem seinen Glauben und spricht sich deshalb nie herablassend über andere Auffassungen aus.
So verwundert es auch nicht, dass die Pariser Missionsgesellschaft ihn zunächst als Missionar ablehnte, da er zwar „die rechte christliche Liebe, aber nicht den rechten Glauben“ habe, worauf er Medizin studierte, um „stumm wie ein Karpfen“ in Afrika wirken zu können.

Diese aufgeklärte Liberalität als Erbe des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts lässt meist übersehen, dass er in der Nachfolge radikaler ist als die meisten, die ihm das Christsein streitig machen wollen. Und diese Nachfolge ohne Wenn und Aber ist das Einzige, worauf es ihm ankommt. Wenn manche ihn also nicht als „Christ“ gelten lassen wollen, müssten sie ihn streng genommen als „Jesuaner“ umso ernster nehmen. Als Jesus an seine Jünger herantrat und sie zur Nachfolge aufrief, hielt er auch nicht erst eine dogmatische Glaubensprüfung zur Zulassung ab. Was zählte, war die unbedingte Nachfolge, ja bis hin zum harten Wort „lass die Toten ihre Toten begraben“, das ein Nachfolgewilliger zu hören bekam, der aber erst noch seinen Vater begraben wollte (Mtth. 8, 21+22). Als das große Geheimnis erfährt Schweitzer, was es heißt, sein Leben zu gewinnen, das er in der Nachfolge Christi aufgegeben zu haben meinte. In dem Satz „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mtth. 25, 40) gipfelt für ihn sein Christsein. Daneben sind ihm alle theologischen Spitzfindigkeiten zweitrangig. Er warnt sogar vor denen, die von Gott reden, „als hätten sie mit ihm gefrühstückt“: „Bruder Mensch: Aus Frömmigkeit nicht von Gott reden.“ (K III 1+2, S. 441)

 

Hörbeispiel: Albert Schweitzer spielt „Christum wir sollen loben schon“ BWV 611 an der Silbermann-Orgel in St. Aurelien in Straßburg (Aufnahme: 20.-29.10.1936).

Als Theologe ist er ein Verfechter der so genannten konsequenten Eschatologie, wenn nicht sogar ihr Begründer. D. h. er versteht Jesus (wie auch Paulus) ganz aus der Weltanschauung der spätjüdischen Apokalyptik heraus. Diese erwartete das Anbrechen des Reiches Gottes in allernächster Zukunft dadurch, dass Gott selbst das apokalyptische Ende der Welt herbeiführen und seine ewige Herrschaft errichten würde. Jesus meinte, dies noch in seiner Generation zu erleben (deshalb so radikale „Interimsethik“, die sich nicht mit den bald überwunden geglaubten gesellschaftlichen Verhältnissen, überhaupt mit der Welt und deren Zukunft abgab!). Hierin hat Jesus sich, so Schweitzer, geirrt („Parusieverzögerung“!) – für manchen Strenggläubigen eine ungeheure Ketzerei!

Für Schweitzer ist diese eschatologische Weltanschauung, der Jesus verhaftet war und die uns seine Botschaft manchmal so befremdlich erscheinen lässt, überholtes Gedankengut des Spätjudentums, das wir ohne Herumdeuteln als zeitbedingt so stehen lassen müssen. Was bleibt, ist Jesu Liebesgebot, seine Ethik der Nächstenliebe, mit der er uns gebietet: Du aber folge mir nach. Wer diesem Ruf folgt, wie er es selbst getan hat, der ist für Schweitzer Christ, unabhängig von allen dogmatischen Bekenntnissen. „Wir lassen es uns nicht nehmen, dass der rechte Glaube an das Evangelium sich in der Betätigung desselben zu erweisen habe.“ (RGCh, S. 358) Schlicht als Jünger Jesu am Reiche Gottes mitzuarbeiten, ist ihm mehr als genug.

In Vorfreude auf sein zukünftiges unmittelbares menschliches Dienen hatte er am 1.5.1904 an Helene Bresslau, seine zukünftige Frau, geschrieben: „Und dann das Recht haben, ein Ketzer zu sein! Nur Jesus von Nazareth kennen; die Fortführung seines Werkes als einzige Religion haben, nicht mehr ertragen zu müssen, was das Christentum an Plebejischem, an Vulgärem an sich hat. Nicht mehr die Angst vor der Hölle kennen, nicht mehr nach den Freuden des Himmels trachten, nicht mehr diese falsche Furcht haben, nicht diese falsche Unterwürfigkeit, die ein wesentlicher Bestandteil der Religion ist – und doch wissen, daß man Ihn, den einen Großen, versteht und daß man sein Jünger ist. Gestern las ich das 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums, weil ich so sehr den Vers liebe: «Was ihr getan habt einem dieser Geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan.» Aber wo beim Jüngsten Gericht von der Scheidung der «Schafe und der Böcke» die Rede ist, da lächelte ich: Ich will nicht zu den Schafen und im Himmel treffe ich sicher eine ganze Gesellschaft, die ich nicht mag: St. Loyola, St. Hieronymus, und ein paar preußische Oberkirchenräte – und mit diesen allen freundlich tun und den Bruderkuss austauschen? Nein, ich verzichte, lieber in die Hölle, dort ist die Gesellschaft weniger gemischt. Mit Julian Apostata, Caesar, Sokrates, Platon und Heraklit läßt sich schon ein anständiges Gespräch führen.“ (AS+HB, S. 68) So offen hat er natürlich in seinen Predigten und Büchern nie gesprochen, um nicht zu irritieren und zu verletzen.

 

Sein Verhältnis zu Jesus ist ein unmittelbares von Wille zu Wille: „Keine Persönlichkeit der Vergangenheit kann durch geschichtliche Betrachtung oder durch Erwägungen über ihre autoritative Bedeutung lebendig in die Gegenwart hineingestellt werden. Eine Beziehung zu ihr gewinnen wir erst, wenn wir in der Erkenntnis eines gemeinsamen Wollens mit ihr zusammengeführt werden, eine Klärung, Bereicherung und Belebung unseres Willens in dem ihrigen erfahren und uns selbst in ihr wiederfinden.“ (GW 3, S. 886) „…alles, was man Wirkliches über Erlösung aussagen kann, geht zuletzt darauf zurück, dass wir in der Willensgemeinschaft mit Jesus von der Welt und uns selbst frei werden und Kraft und Frieden und Mut zum Leben finden.“ (GW 3, S. 885) „Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist…“ (GW 3, S. 887) Für ihn ist Jesus der „Herr“ und nicht der „Bruder“, wie es heute so oft zu hören ist.

 

Schweitzer ist erfüllt von Hoffen und Sehnen nach der Verwirklichung des Reiches Gottes, der zentrale Begriff seiner Theologie. Reich Gottes als ethische Größe, als Ernstmachen mit wahrer Humanität, ist der Motor für all sein Tun auf allen Gebieten. Die Bitte „Dein Reich komme“ im Vaterunser, das er als eigentliches Glaubensbekenntnis und als den „Polarstern des christlichen Glaubens“ bezeichnet (RGCh, S. 351 ff.), ist für ihn nicht mehr die Bitte um Gottes Handeln in einer apokalyptisch hereinbrechenden Umgestaltung der Welt wie in der spätjüdischen Eschatologie. Bereit sein für das Reich Gottes heißt für ihn, bereit sein, hier und jetzt selber Hand anzulegen und Erlösung von Leid zu bringen, wo immer es möglich ist. Reich Gottes ist für ihn nichts zu Erwartendes, sondern etwas zu Verwirklichendes, nicht Endlösung, sondern ständige Aufgabe. – Konkretes Beispiel: Eine oft zu hörende Bitte „Herr, mache Frieden in der Welt“ würde er als Missbrauch Gottes als Weltpolizisten verstehen, ja als Abwälzen der Verantwortung, es nicht selbst zu tun, angefangen vom Frieden in unseren Herzen bis hin zum Weltfrieden. Es ist unsere, nicht Gottes Schuld, wenn kein Friede in der Welt ist.

 

Hier setzt auch seine Kritik an der „Amtskirche“ jeglicher Form ein. 1948 schreibt er: „Die Kirche muss sich bewusst bleiben, ständig in Gefahr zu sein, an die Stelle des Reiches Gottes treten zu wollen, statt ihm zu dienen.“ (RGCh, S. 391) Bereits in seiner letzten Vorlesung als Privatdozent an der Universität Straßburg am 29. Februar 1912 sagte Schweitzer dazu: „Wer das sieht, kann darauf, dass die Kirche Selbstzweck geworden ist, nur mit Hass blicken. Keiner liebt das Christentum, der nicht diesen Hass erlebt hat; aber er liebt es zugleich mit wissendem Hass, da ihm klar ist, dass das Gute, das dort gebunden ist und fast als negative Gewalt wirkt, nicht frei wird dadurch, dass die Zertrümmerung mit blinder Gewalt geschieht (…) Das Böse überwinden mit Gutem! (…) Hassend muss man wissen, dass nur der religiöse Geist hassen darf, weil er nicht das Religiöse an sich hasst, sondern nur seine Gebundenheit, in der es dort hemmend wirkt.“ (StrV, S. 718f)

Die Lebendigkeit der Kirche hängt für Schweitzer nicht an einer äußerlichen Rechtgläubigkeit, an verbalen Bekenntnissen oder etwa an Bemühungen um liturgische Umgestaltung der Gottesdienste in modernere Formen, noch erwartet er sie davon. Einzig, wie viel gemeinschaftsstiftendes Sehnen nach der Verwirklichung des Reiches Gottes in ihr glüht, ist für ihn der Maßstab, wie lebendig oder tot Kirche ist. –

Erlauben Sie mir, hier darauf hinzuweisen, dass die Kirche gerade in ihrer heutigen relativen Unabhängigkeit in unserem Land eine Institution ist, die ein großes Angebot zu machen hat, ohne etwas verkaufen zu wollen (ganz anders erlebte ich die Situation z. B. in den USA). Da gibt es also etwas „gratis“ = umsonst, und das hängt schon etymologisch mit lat. „gratia“ = Gnade, Dank, Wohlgefälligkeit zusammen und erinnert an den reformatorischen Grundsatz „sola gratia“ (allein durch Gnade). Sie hat nicht nötig, irgendjemandem nach dem Mund zu reden – wenn sie dem, was ankommt, hinterherjagt statt dem, worauf es ankommt, verliert sie sich selbst. Sie hat die ungeheure Chance, Salz der Erde und Sauerteig der Gesellschaft zu sein – aber die will auch genutzt sein. Der Inhalt ihres Angebotes macht ihre Attraktivität aus, nicht die Verpackung – bedenklich wird es, wenn die Verpackung attraktiver als der Inhalt wird.

Denken Sie nur einmal darüber nach, warum die Zehn Gebote nicht Verbote heißen: sie sind ein Angebot, das Leben in Gemeinschaft zu meistern – eine Zusage: statt „du sollst“ wäre besser zu übersetzen „du wirst“ im Sinne eines Zutrauens von „du wirst das schon schaffen…“.

 

Von nichts und niemandem lässt Schweitzer sich das Recht streitig machen, selbst schöpferisch zu denken. Auch Religion ist für ihn nicht etwas, das das Denken ersetzt, sondern das es voraussetzt (K III 1+2, S. 468, K III 3+4, S. 383). „Das verlorene Schaf ist heute der Mensch, der das Bedürfnis des Denkens hat. Aber die Kirche sendet nach diesem verlorenen Schaf keinen Hirten aus…“ (RGCh, S. 391) Selbständig Denkende sind nicht nur kirchlichen Organisationen suspekt. Die Zukunft des Christentums hängt für Schweitzer mit davon ab, „ob es denkenden Menschen das sein wird, was es ihnen sein kann und sein soll, oder ob es sich ganz auf nichtdenkende einstellen will.“ (RGCh, S. 344) Die Kirche blockiert nach Schweitzer gerade den Denkenden den Zugang zur Ethik, indem sie sie nur in Verbindung mit überholten dogmatischen Vorstellungen gelten lassen will (StrV, S. 718). So macht ihm die Religion heute „den gleichen Eindruck wie ein afrikanischer Fluss in der Trockenzeit – ein großes Flussbett, Sandbänke und dazwischen ein schmaler Wasserlauf, der sich seinen Weg sucht.“ (bei Seaver, S. 362)

Die Idee des Reiches Gottes ist bei Schweitzer das Bindeglied zwischen seiner Theologie und seiner Kulturphilosophie: in ihr ist die Einheit seines Denkens verankert. „Einzig durch die Reichgottesidee gelangt die Religion in Verbindung mit der Kultur.“ (bei Seaver, S. 364) Seine Bemühungen um das Reich Gottes und seine Bemühungen um die Kultur, d. h. „Reich Gottes“ und „Kulturstaat“, sind bei ihm identisch. Mit seinem Spitaldorf Lambarene als einem „Dorf des Reiches Jesu“ (Spear, S. 75) wollte er dazu praktisch die Keimzelle legen, und theoretisch blieb er mit beiden beschäftigt bis in seine letzten theologischen wie philosophischen Schriften. So bleibt er als Theologe Kulturphilosoph und als Kulturphilosoph Theologe und als beides immer er selbst. Der so genannte Kulturprotestantismus, von manchen Kreisen belächelt, wird von ihm hoch geschätzt (RGCh, S. 354 ff). Für ihn ist der Protestantismus geradezu kulturtragend, weil für ihn zu seinem Wesen gehört, „dass er eine Kirche ist, die nicht kirchgläubig, sondern christgläubig ist. Dadurch ist ihm verliehen und aufgegeben, durchaus wahrhaftig zu sein. Hört er auf, unerschrockenes Wahrheitsbedürfnis zu besitzen, ist er nur noch ein Schatten seiner selbst und damit untauglich, der christlichen Religion und der Welt das zu sein, wozu er berufen ist.“ (GW 3, S. 36) Wahrhaftigkeit sich selbst und anderen gegenüber ist für Schweitzer das zentrale Fundament allen geistigen Lebens überhaupt.

 

Kommen wir nun zu Schweitzers Philosophie:

Vom Denken verlangt Schweitzer, dass es „elementar“ sei, d. h. dass es ausgeht von den Grundfragen, die uns entweder bedrängen, oder die wir verdrängen, die uns aber immer umgeben. Was ist der Sinn meines Daseins und welchen Inhalt soll mein Leben haben? „Was bedeuten die Gesellschaft, in der ich lebe, und ich selber in der Welt? Was wollen wir in ihr? Was erhoffen wir von ihr?“ (K I, S 63) Fragen, auf die sowohl Religion wie Philosophie eine Art Antwortversuch darstellen.

Der Verzicht auf das Denken, eigenes Denken, gilt ihm als Hauptursache des Niederganges der Kultur. Dem lockeren Spruch des Physikers und Kabarettisten Vince Ebert (übrigens 1968 geboren in Miltenberg, wo wir am 4.9. bei der Orgelfahrt waren) hätte Schweitzer sicher zugestimmt: „Denken Sie selbst – sonst tun’s andere für Sie!“ Mit „Denken“ meint er kein auf mathematisch-logische und abstrakt-funktionale Kausalität reduziertes Denken, das den Denkenden selbst ausschließt, so, als ob dieser betrachtend neben sich und der Welt als Objekt stünde, statt sich als Subjekt in ihr zu erleben – eigenes Denken muss also für Schweitzer subjektiv-verbindlich sein (siehe K III 1+2, S. 455: „Die Angst vor dem Subjektivismus! (…) Der tiefe Subjektivismus hat den Wert des Objektiven, hat objektive Geltung.“). Denn Denken ist für ihn die Auseinandersetzung all dessen, was sich in mir an Wollen, d. h. auch an Gefühlen, überhaupt regt, mit all dem,  was ich außerhalb von mir von der Welt erkenne. Sein Denken ist im wahrsten Sinne des Wortes ganzheitlich, zugespitzt: er denkt mit Hirn, Herz und Hand. In mir erkenne ich als Elementarstes den Willen zum Leben. Auch außerhalb von mir treffe ich überall auf diesen (Über-)Lebenswillen. Also lautet nach Schweitzer der elementarste Satz meines Bewusstseins: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Da ich nicht anders kann, als diesem geheimnisvollen, weiter nicht zu ergründenden Lebenswillen in mir Ehrfurcht entgegen zu bringen, muss ich aus innerer Notwendigkeit allem anderen Willen zum Leben außerhalb von mir ebenso begegnen und ihm die selbe Ehrfurcht erweisen als Tat der Wahrhaftigkeit. Schweitzer spricht von „mystischer Ethik“ und „ethischer Mystik“ und bezeichnet sich als „Mystiker der Tat“, denn er wird eins mit diesem unergründlichen Willen in ihm, indem er ihn tätig auf seinen höchsten Wert bringt. So gelangt er zu seiner berühmten „Ehrfurcht vor dem Leben“, die er für das Grundprinzip aller Ethik und sogar für das ins Universelle erweiterte Liebesgebot Jesu hält. Von hier aus erhält sein Handeln einen sittlichen Wert: Gut ist, Leben zu erhalten und zu fördern und auf seinen höchsten Wert zu bringen – böse ist, Leben zu vernichten und es in seiner Entwicklung zu hemmen und zu schädigen. Damit ist Welt- und Lebensbejahung gegeben als Basis für einen Optimismus, der für Schweitzer keine Erkenntniskategorie, sondern eine Kategorie des auf Veränderung der Welt gerichteten Wollens ist. Er bezeichnete sich selbst als Pessimisten des Erkennens, aber als Optimisten des Wollens. –  Aber auch Lebensverneinung ist darin enthalten, denn um anderem Leben seinen Entfaltungsraum zu lassen, muss ich mich freiwillig selbst in gewissen Grenzen zurücknehmen, d. h. ich hindere bewusst meinen Willen zum Leben am zügellosen egoistischen Sichausleben um des anderen willen. Andererseits beinhaltet diese Ethik die Forderung nach Verinnerlichung, Sammlung und Selbstvervollkommnung. Hier muss auch die Musik genannt werden, die für den Organisten Schweitzer Meditation im Geiste war und die leider in meinen heutigen Ausführungen zu kurz kommt. Zur Selbstvervollkommnung gehört gerade, dass ich auch mein eigenes Leben auf den höchsten Wert bringen soll. Bildung ist in diesem Sinne auch immer Selbstbildung und Selbstzweck.

Etwas salopp könnte man heute als Forderung erweitern: Bildung statt nur Ausbildung, d. h. Erkenntnisse, die man nur selbst gewinnen kann, statt nur testbare Kenntnisse – Kenntnisse erhalte ich passiv durch die Einbahnstraße des Informationsflusses, mit Erkenntnis antworte ich aktiv darauf durch eigenes Denken. Eine Anhäufung von Fakten und Fertigkeiten, die mir völlig gleichgültig sind, kann nützlich sein, ist aber keine Bildung, wie umgekehrt Bildung ohne Wissen unmöglich ist. Da fällt mir ein Wort von Karl Kraus ein: „Es passt viel Wissen in einen hohlen Kopf.“ Jochen Krautz sagt in seinem lesenswerten Buch „Ware Bildung – Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie“ (Kreuzlingen/München 2007, S. 17): „Bildend wirkt Wissen, für das man sich begeistert, das einem etwas bedeutet, über das man nachdenkt, das man kritisch befragt, über das man streitet, das man immer wieder im Geiste hin und her wendet.“ Ist dies nicht der Fall, dann kann Wissen zum Ballast werden, den man nach der Prüfung getrost abwerfen kann. Deshalb eine weitere Forderung: nicht „Jobs“ zum bloßen Geldverdienen, sondern Berufe, zu denen man sich „berufen“ fühlt, bei denen das Dienen für ein sinngebendes Ziel statt des Verdienens im Vordergrund steht. Klar ist, dass Schweitzer unter Bildung etwas anderes versteht, als das bei PISA Getestete. Kaum einer fragt übrigens, wer oder was diese OECD ist, die die PISA-Studie durchführt: Organisation for Economic Co-operation and Development – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Dies spricht für sich: Ihr Ideal ist nicht die selbstständig denkende, unabhängige und kritische Persönlichkeit im Sinne Schweitzers, die für Werte wie Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit einsteht. Ihr Ziel ist eher der gut ausgebildete, flexible, angepasste und stromlinienförmige Mitläufer, der im globalen Wirtschaftsprozess reibungslos und damit effektiv funktioniert – der Schüler bzw. Student als von der Wirtschaft bestellte Ware und sofort verwendbares Endprodukt (Humboldt nannte die noch unumwunden „nützliche Idioten“ – hoch ausgebildet, aber nicht gebildet). „Ethik“ dient hier allenfalls als werbewirksames Et(h)ikett.

Dazu nochmals Jochen Krautz: „Leistung wird heute als maximale Verwertbarkeit verstanden. Leistung ist dann gleichgesetzt mit wirtschaftlicher Effizienz: Es soll möglichst viel für geringe Kosten dabei herauskommen.“ (a.a.O., S. 27) Leistung in diesem Sinne bewegt sich nur zwischen den Polen „Erfolg und Effizienz – Misserfolg und Versagen“ (statt in Spannung zu den Polen „Sinnerfüllung – Verzweiflung und Leere“, die quer zu den ersteren liegen). In der Schule fängt dies ja meist schon an: man lernt für Punkte oder den Numerus clausus, Inhalte sind dabei oft nur das Vehikel, aber nicht Gegenstand des Interesses. „Brauchbarkeit“ entscheidet. Der ganze Unterschied zu Schweitzer wird deutlich, wenn ich seinen Satz „Gut ist, Leben zu erhalten und zu fördern und auf seinen höchsten Wert zu bringen“ nur etwas abwandle im Sinne dieser Ökonomisierung der Verhältnisse: „Gut ist, Leben zu erhalten und zu fördern und auf seine höchste Verwertbarkeit zu bringen.“ Und schon ist das Leben statt Subjekt nur noch nützliches Objekt, statt Zweck nur noch verwertbares Mittel!

 

Damit zurück zu Schweitzer:

Seine Ethik umschließt bereits bekannte Grundsätze, von der Volksweisheit „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu“ bis hin zu „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Sie greift Volksweisheit und gesunden Menschenverstand auf, aber vertieft sie und führt sie weiter. Denn noch etwas folgt darüber hinaus aus Schweitzers Grundprinzip: Diese Ethik hat es nicht nur, wie die meiste bisherige Ethik, mit dem Verhalten von Mensch zu Mensch allein zu tun, sondern mit dem Verhältnis zu allem Lebendigen, ja sogar allem, was dem Leben dient (K III 1+2, S. 463). Man denke hier nur an die Umweltproblematik, um zu erkennen, dass in dieser Ethik ein ungeheures Potential für unsere Zeit schlummert, auch wenn Schweitzer von der philosophischen Fachzunft bisher ignoriert wurde und in kaum einer Philosophiegeschichte erwähnt wird. Heute kommt zur Frage, wozu wir leben, bedrohlich die Frage, wovon wir in Zukunft leben hinzu. Erhellend ist hier folgendes Wortspiel: Wenn die Schöpfung nur noch der Abschöpfung um rein wirtschaftlicher Wertschöpfung willen dient, führt dies unweigerlich zur Erschöpfung der Ressourcen.

 

Eine auf Ehrfurcht vor dem Leben gegründete Ethik führt unablässig in Konflikte: ich muss anderes Leben töten, um selbst zu überleben. Dies hat Schweitzer nicht übersehen („Selbstentzweiung des Willens zum Leben“). Im Gegenteil: gerade diese Konflikte fachen die Glut der Ethik an. Es ist eine ausgesprochene Gesinnungs- und Verantwortungsethik: nie darf der Einzelne aus der letzten Verantwortung für sein Tun entlassen werden, dessen Notwendigkeit in jedem einzelnen Fall und immer wieder neu nach bestem Wissen und Gewissen zu erwägen ist. Nie darf Töten (oder auch nur Schädigen) routinemäßig oder gedankenlos betrieben werden. Für seine Entscheidung steht jeder für sich in voller Verantwortung. Und wenn er doch töten muss, soll er wachsam, wo immer es möglich ist, Leid vermindern und Leben retten helfen als eine Art Sühne für die zwangsweise tragisch aufgeladene Schuld. Durch Hingabe wird er eins mit dem unendlichen Lebenswillen und damit zum „Mystiker der Tat“, indem er die Selbstentzweiung des Willens zum Leben, so weit ihm möglich ist, aufhebt. So trägt diese Ethik den Motor, Gutes zu tun, in sich selbst. Diese Ethik bietet also keine einfachen Patentlösungen, sondern hält das Gewissen ständig aufs Äußerste geschärft und sieht in Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit und Abstumpfung ihre größte Bedrohung. Also kein gutes Gewissen als Ruhekissen, denn für Schweitzer ist das gute Gewissen „eine Erfindung des Teufels“!

 

Soweit führte uns die Anschauung des Lebens, dessen Teil wir sind, die Lebensanschauung.

Und nun schauen wir uns die Welt außerhalb von uns an und kommen damit zur Weltanschauung. Dahinter steht wiederum das von der jeweiligen Naturwissenschaft gelieferte Weltbild.

Auch der Astrophysiker Stephen Hawking stellt in seinem soeben erschienenen Buch „Der große Entwurf – eine neue Erklärung des Universums“ (Hamburg, 2010, S. 11) folgende Fragen an den Anfang: „Wie können wir die Welt verstehen, in der wir leben? Wie verhält sich das Universum? Was ist das Wesen der Wirklichkeit? Woher kommt das alles? Braucht das Universum einen Schöpfer?“ Und er antwortet gleich: „Traditionell sind das Fragen für die Philosophie, doch die Philosophie ist tot. Sie hat mit der neueren Entwicklung in der Naturwissenschaft, vor allem in der Physik, nicht Schritt gehalten.“ Seine Fragen zielen auf etwas anderes als die genannten von Schweitzer: sie fragen mehr nach dem „Wie“  und dem „Warum“ als nach dem „Wozu“ und dem Sinn. Recht hat er, dass die Philosophie manchmal einen Nachholbedarf in Bezug auf Kenntnis der neuesten naturwissenschaftlichen Weltbilder hat, wie er in seinem Buch eines anbieten will – besonders bezüglich der Quantenphysik und der Gen- und Hirnforschung. Dies betrifft jedoch nur die Erkenntnistheorie, auf die Hawking Philosophie hier verengt, aber nicht die gesamte Philosophie als denkerische Auseinandersetzung. Natürlich muss das Weltbild auf dem neuesten Stand der Forschung sein, aber die daraus zu gewinnende Weltanschauung ist immer noch Sache des Denkens, vor allem, was die Sinnfrage betrifft. Naturwissenschaft bietet grandiose Antworten auf die Wie-Frage, beim Warum tut sie sich schon schwerer, aber bei der Sinnfrage muss sie passen (der durchs Fernsehen bekannte Astrophysiker Harald Lesch betont dies immer wieder).

Auch hier hat Schweitzer einen interessanten, bisher wenig beachteten Ansatz zu bieten.

 

Unbewusst oder bewusst besteht in uns ein Verlangen, das richtige, sinnvolle Handeln, also die Ethik und überhaupt den Sinn des Lebens, aus Welterkenntnis abzuleiten und es im Weltganzen als sinnvoll zu begreifen. Dies führte und führt oft dazu, dass auf dieses Weltganze ein Sinn projiziert wird, den uns eigentlich die Lebensanschauung eingeflüstert hat, und den wir nun, nach geglückter Selbsttäuschung, mit gewisser Genugtuung wieder aus unserer Erkenntnis der Welt herauszulesen meinen (so in manchen großen philosophischen Systemen, besonders des deutschen Idealismus – Hegel konnte, wenn seine Deutung nicht der Wirklichkeit zu entsprechen schien, noch sagen: „Um so schlimmer für die Wirklichkeit.“ – so auch in der oft konfliktreichen und kränkenden, weil die Eitelkeit verletzenden Ablösung des zunächst geozentrischen, dann heliozentrischen Weltbildes; nach dessen Unhaltbarkeit, und nachdem der Mensch aus dem Zentrum ins x einer Formel gerollt war [1], deuten viele heute die Feinabstimmung der Naturgesetze und -konstanten wieder anthropozentrisch, als hätte das ganze Universum nur ein Ziel: den Menschen hervorzubringen). Aus Wahrhaftigkeit, diesem Zentralbegriff in seinem Denken, will Schweitzer hier gründlich aufräumen. „Wenn das Denken sich auf den Weg macht, muss es auf alles gefasst sein, auch darauf, dass es beim Nichterkennen anlangt.“ (K I, S. 78 – anders K III 1+2, S. 284 und 300, und K III 3+4, S. 26!) Wahrhaftig denkend gelangt er zu einem radikal skeptischen und pessimistischen Ergebnis, indem er sich als Agnostiker in Bezug auf die Erkenntnis des Sinnes der Welt bekennt: „Die Aussichtslosigkeit des Unternehmens, den Sinn des Lebens in dem Sinn der Welt zu begreifen, ist zunächst damit gegeben, dass in dem Weltgeschehen keine Zweckmäßigkeit offenbar wird, in die das Wirken der Menschen und der Menschheit irgendwie eingreifen könnte. Auf einem der kleineren unter den Millionen von Gestirnen leben seit einer kurzen Spanne Zeit Menschenwesen. Auf wie lange? Irgendeine Herabsetzung oder Steigerung der Temperatur der Erde, eine Achsenschwankung des Gestirns, eine Hebung des Meeresspiegels oder eine Änderung in der Zusammensetzung der Atmosphäre kann ihrem Dasein ein Ende setzen. Oder die Erde selber fällt wie so manches andere Gestirn irgendeiner kosmischen Katastrophe zum Opfer. Was wir für die Erde bedeuten, wissen wir nicht. Wie viel weniger dürfen wir uns dann anmaßen, dem unendlichen Universum einen auf uns zielenden oder durch unsere Existenz erklärbaren Sinn beilegen zu wollen!“ (K II, S. 293, siehe auch K III 1+2, S. 167ff, 235ff und 307 ff) Mit diesem Eingeständnis glaubt Schweitzer so etwas wie eine kopernikanische Wende im abendländischen Denken herbeizuführen: „Ich glaube der erste im abendländischen Denken zu sein, der dieses niederschmetternde Ergebnis des Erkennens anzuerkennen wagt und in bezug auf unser Wissen von der Welt absolut skeptisch ist, ohne damit zugleich auf Welt- und Lebensbejahung und Ethik zu verzichten. Resignation in bezug auf das Erkennen der Welt ist für mich nicht der rettungslose Fall in einen Skeptizismus, der uns wie ein steuerloses Wrack in dem Leben dahintreiben lässt. Ich sehe darin die Wahrhaftigkeitsleistung, die wir wagen müssen, um von da aus zu der wertvollen Weltanschauung, die uns vorschwebt, zu gelangen. Alle Weltanschauung, die nicht von der Resignation des Erkennens ausgeht, ist gekünstelt und erdichtet, denn sie beruht auf einer unzulässigen Deutung der Welt.“ (K II, S.86/87) Deshalb fordert Schweitzer den Verzicht auf jederlei Bindung der Ethik an eine Deutung der Welt (religiös gesprochen heißt das bei ihm „anders sein als, bzw. frei sein von der Welt“). Allein aus der Lebensanschauung soll die Ethik ihre Kraft beziehen und  wahrhaftig, und damit freier und tüchtiger als zuvor für ihre Aufgabe werden, die Welt positiv zu verändern. So verzichtet er auf ein in sich geschlossenes, weil gekünsteltes philosophisches System: Er ergab sich aus Wahrhaftigkeit resignierend und zugleich innerlich triumphierend darein, den Dom unvollendet lassen zu müssen. Nur den Chor brachte er fertig. In diesem aber feierte er lebendigen und unaufhörlichen Gottesdienst (s. KII/335).

 

Hörbeispiel: Beginn der Rede Albert Schweitzers zur Verleihung der Ehrenbürgerschaft im Frankfurter Goethe-Haus am 9. Oktober 1959.

 

Wahrhaft groß bleibt Schweitzer in seiner ethischen Haltung, d. h. darin, dass er sich die Fragen des Urgrundes seines Seins nicht nur stellte, sondern sich ihnen mit seiner ganzen Existenz zu stellen versuchte – unablässig bis zu seinem Tod im 91. Lebensjahr ringend.

Kraftvoll war Schweitzer auch, weil ihn eigentlich nur das wirklich interessierte, was ihn innerlich berührte und was ihm zur lebendigen Kraft werden konnte, was etwas in ihm auslöste. In seinem Leben und Denken spürt man in allem die persönliche Betroffenheit seiner Person und die völlige Unabhängigkeit vom Urteil anderer und des Zeitgeistes. In allem war er ganz er selbst, ein „Original“ im wahren Sinn des Wortes. Er selbst verkörperte geradezu die Wirkung von Wille zu Wille und verstärkte sie auf andere. Alles Epigonenhafte, bloß Nachahmende, archaistische Tendenzen und Historizismus lehnte er ab. Es ging ihm um die Schaffung neuer Ideale für seine Zeit, die er durch eigenschöpferisches Ringen aus der Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft gewinnen wollte. Persönlichkeiten der Vergangenheit dienten ihm allenfalls als Katalysatoren für eigene geistige Prozesse, nie als zu kopierende Vorbilder. Der Glaube an die Kraft des eigenen Geistes gab ihm den Mut, selbständig neben historische Größen zu treten und den Faden der Geschichte in der Gegenwart weiterzuspinnen, wie Paulus es in der Theologie tat, den er deshalb den „Schutzheiligen des Denkens“ nennt.

 

Mit dreißig Jahren, auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn, schrieb Schweitzer: „Ich erwarte etwas anderes, das mein Leben betrifft! Ich habe nicht mehr den Ehrgeiz, ein großer Gelehrter zu werden, sondern mehr – einfach ein Mensch. (AS+HB, S. 83) Kraftvollen Menschen, die nichts weiter wollten als wahrhaft Mensch sein, im tiefsten Sinne Mensch sein, wie etwa Jesus und Buddha, wurde oft das Schlimmste gerade von ihren Jüngern und Interpreten angetan: durch zunächst Legenden- und dann Dogmenbildung in von ihnen nie gewollten organisierten Glaubensgenossenschaften wurden sie zu Heiligen oder gar Göttern „befördert“. Vor dieser Gefahr durch seine Anhänger war auch ein Albert Schweitzer nicht ganz gefeit, der ebenfalls „nur“ einfach Mensch sein wollte. Deshalb teile ich nicht die Meinung des amerikanischen Journalisten Norman Cousins: „Wenn Albert Schweitzer ein Mythos ist, so ist der Mythos wesentlicher als die Wirklichkeit. Denn die Menschheit braucht solch ein Bild, um leben zu können.“ (Norman Cousins, „Albert Schweitzer und sein Lambarene“, Stuttgart 1961, S. 131)

So geschah es besonders in den USA der Nachkriegszeit: man jubelte ihn hoch mit allen nur erdenklichen Superlativen zum „Genie der Menschlichkeit“, zum „größten lebenden Bach-Interpreten“ usw., um ihn sofort fallen zu lassen, als der gute Alte von Lambarene aus seiner von den Medien für ihn maßgeschneiderten Heiligenrolle fiel und den Mund aufmachte, um wegen des atomaren Wettrüstens die Weltöffentlichkeit aufzurütteln. Dies tat er als Friedensnobelpreisträger in vier Reden, die Radio Oslo 1957 und 58 in alle Welt ausstrahlte. Für weitere geplante Reden verweigerte man ihm in Oslo das Mikrophon unter dem Druck der USA, wo die Regierung schon zuvor die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Princeton und eine Radiosendung verhindert hatte (siehe Schorlemmer, a.a.O., S. 215 und 226). Er galt plötzlich als „Pazifist“ (fast ein Schimpfwort!) und hatte gewagt, die USA öffentlich zu kritisieren, und wer dies tat, wurde des Kommunismus‘ verdächtigt und, wie im Fall Einstein, sogar vom FBI observiert (es existiert eine dicke Akte – ein typischer Fall der vermeintlichen Kommunistenjagd der Ära McCarthy).

 

Albert Schweitzer hat es am wenigsten nötig, ins Gigantische überzeichnet zu werden. Denn er ist innerhalb seiner menschlichen Grenzen gewaltig genug, um vor jeder Wahrhaftigkeit zu bestehen. An dem „unmenschlichen“ Halbgott, zu dem er oft hochstilisiert wurde, droht derjenige, den er in seinen Bann zieht, eher zu zerschellen, statt Aufwind zu bekommen. Der Legenden-Heilige und Alles-Könner befriedigt bequem und angenehm unsere Sensationslust und dient unserem eigenen schlechten Gewissen als willkommenes Alibi: um wie vieles besser kommen wir anderen und vor allem uns selbst vor, wenn wir uns wenigstens öffentlich einreihen in die Schar der Bewunderer dessen, was ein anderer – stellvertretend – an anerkannt Gutem getan hat!

Der konkrete endliche Mensch Albert Schweitzer dagegen in seiner widersprüchlichen Komplexität und seinem Ringen mit sich ist reicher und unbequemer, er fordert uns heraus, stellt uns vor Entscheidungen und bringt uns innerlich weiter.

So mag Schweitzer mithelfen, dass wir innerlich gesammeltere Menschen werden. In Anlehnung an Schweitzer könnte man sagen: Bruder Mensch, stärke dich an den geistigen Quellen der Vergangenheit, aber gehe weiter in deine eigene Zeit, um ihr selbst lebendige Quelle zu sein.

 

So muss jeder sein eigenes Lambarene finden. Ein Aufruf Albert Schweitzers dazu als Abschluss:

„Schafft euch ein Nebenamt (…), ein unscheinbares, vielleicht ein geheimes Nebenamt. Tut die Augen auf und suchet, wo ein Mensch oder ein Menschen gewidmetes Werk ein bisschen Zeit, ein bisschen Freundschaft, ein bisschen Teilnahme, ein bisschen Gesellschaft, ein bisschen Arbeit eines Menschen braucht. Vielleicht ist es ein Einsamer oder ein Verbitterter oder ein Kranker oder ein Ungeschickter, dem du etwas sein kannst. Vielleicht ist es ein Greis oder ein Kind. Oder ein gutes Werk braucht Freiwillige, die einen freien Abend opfern oder Gänge tun können. Wer kann die Verwendungen alle aufzählen, die das kostbare Betriebskapital, Mensch genannt, haben kann! An ihm fehlt es an allen Ecken und Enden! Darum suche, ob sich nicht eine Anlage für dein Menschentum findet. Lass dich nicht abschrecken, wenn du warten oder experimentieren musst. Auch auf Enttäuschungen sei gefasst. Aber lass dir ein Nebenamt, in dem du dich als Mensch an Menschen ausgibst, nicht entgehen. Es ist dir eines bestimmt, wenn du es nur richtig willst…“  (AS, Kultur und Ethik, Kapitel XXII. In: GW 2, S. 393 f)

 

Hörbeispiel: „Mein Wort an die Menschen“ von Albert Schweitzer, gesprochen 1964 in Lambarene (vollständig).

Links des Originaltons (2 Teile, mit Genehmigung des Herausgebers Herrn Dr. med. C. Staewen, der die Aufnahme gemacht hat):

Hier der gedruckte Text:

„Ich rufe die Menschheit auf zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Diese Ethik macht keinen Unterschied zwischen wertvollerem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben. Sie lehnt eine solche Unterscheidung ab. Denn der Versuch, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen anzunehmen, läuft im Grunde darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserem Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen. Das aber ist ein ganz subjektiver Maßstab. Wer von uns weiß denn, welche Bedeutung das andere Lebewesen an sich und im Weltganzen hat? Die Konsequenz dieser Unterscheidung ist dann die Ansicht, dass es wertloses Leben gebe, dessen Vernichtung oder Beeinträchtigung erlaubt sei. Je nach den Umständen werden dann unter wertlosem Leben Insekten oder primitive Völker verstanden.

Die unmittelbare Tatsache im Bewusstsein des Menschen lautet: ,Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‘ Diese allgemeine Bejahung des Lebens ist eine geistige Tat, in der der Mensch aufhört dahinzuleben, in der er vielmehr anfängt, sich seinem Leben mit Ehrfurcht hinzugeben, um ihm seinen wahren Wert zu geben. Der auf diese Weise denkend gewordene Mensch erlebt zugleich die Notwendigkeit, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. So erlebt er das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm alsdann: Leben zu erhalten und zu fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert zu bringen. Als böse gilt ihm nun: Leben schädigen oder vernichten, entwickelbares Leben in der Entwicklung hindern. Dies ist das absolute und denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen. Durch die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben kommen wir in ein geistiges Verhältnis zur Welt.

In meinem Leben habe ich immer versucht, in meinem Denken und Empfinden jugendlich zu bleiben, und habe stets von neuem mit den Tatsachen und meiner Erfahrung um den Glauben an das Gute und Wahre gerungen. In dieser Zeit, in der Gewalttätigkeit sich hinter der Lüge verbirgt und so unheimlich wie noch nie die Welt beherrscht, bleibe ich dennoch davon überzeugt, dass Wahrheit, Friedfertigkeit und Liebe, Sanftmut und Gütigkeit die Gewalt sind, die über aller Gewalt ist. Ihnen wird die Welt gehören, wenn nur genug Menschen die Gedanken der Liebe und der Wahrheit, der Sanftmut und der Friedfertigkeit rein und stetig genug denken und leben.

Alle gewöhnliche Gewalt in dieser Welt schafft sich selber eine Grenze, denn sie erzeugt eine Gegengewalt, die ihr früher oder später ebenbürtig oder überlegen sein wird. Die Gütigkeit aber wirkt einfach und stetig. Sie erzeugt keine Spannungen, durch die sie sich selbst aufhebt, sondern sie entspannt die bestehenden Spannungen, sie beseitigt Misstrauen und Missverständnisse. Indem sie Gütigkeit weckt, verstärkt sie sich selber. Deshalb ist sie die zweckmäßigste und intensivste Kraft. Was ein Mensch an Gütigkeit in die Welt hinausgibt, das arbeitet an den Herzen der Menschen und an ihrem Denken. Unsere törichte Schuld ist, dass wir nicht ernst zu machen wagen mit der Gütigkeit. Wir wollen immer wieder die große Last wälzen, ohne uns dieses Hebels zu bedienen, der unsere Kraft verhundertfachen kann. Eine unermesslich tiefe Wahrheit liegt in dem Worte Jesu: ,Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.‘

Die Ehrfurcht vor dem Leben gebietet uns, den hilfsbedürftigen Völkern in der Welt Hilfe zu bringen. Den Kampf gegen die Krankheiten, von denen diese Völker bedrängt sind, hat man fast überall zu spät begonnen. Letzten Endes ist alles, was wir den Völkern der früheren Kolonien Gutes erweisen, nicht Wohltat, sondern es ist unsere Sühne für das Leid, das wir Weißen von dem Tage an über sie gebracht haben, da unsere Schiffe den Weg zu ihren Gestaden fanden. Es muss dahin kommen, dass Weiß und Farbig sich in ethischem Geist begegnen. Dann erst wird eine echte Verständigung möglich sein. An der Schaffung dieses Geistes zu arbeiten, heißt zukunftsreiche Politik treiben.

Wer durch menschliche Hilfe aus schwerer Not oder Krankheit gerettet wurde, der soll mithelfen, dass die, die heute in Not sind, einen Helfer bekommen, wie er einen hatte. Dies ist die Bruderschaft der vom Schmerz Gezeichneten. Ihr obliegt das menschliche und ärztliche Humanitätswerk bei allen Völkern. Aus den Gaben der Dankbarkeit soll dieses Werk getan werden. Ich will glauben, dass sich genug Menschen finden werden, die sich zu Opfern der Dankbarkeit erbitten lassen werden für die, die jetzt in Not sind.

Die Not aber, in der wir bis heute leben, ist die Gefährdung des Friedens. Zurzeit haben wir die Wahl zwischen zwei Risiken. Das eine besteht in der Fortsetzung des unsinnigen Wettrüstens in Atomwaffen und der damit gegebenen Gefahr des Atomkrieges, das andere im Verzicht auf Atomwaffen und in dem Hoffen, dass Amerika, die Sowjetunion und die mit ihnen in Verbindung stehenden Völker es fertig bringen werden, in Verträglichkeit und Frieden nebeneinander zu leben. Das erste Risiko enthält keine Möglichkeit einer gedeihlichen Zukunft. Das zweite tut es. Wir müssen das zweite wagen. Die Theorie, man könnte den Frieden dadurch erhalten, dass man den Gegner durch atomare Aufrüstung abschreckt, kann für die heutige Zeit mit ihrer so gesteigerten Kriegsgefahr nicht mehr in Betracht gezogen werden. Das Ziel, auf das von jetzt bis in alle Zukunft der Blick gerichtet bleiben muss, ist, dass völkerentzweiende Fragen nicht mehr durch Kriege entschieden werden können. Die Entscheidung muss friedlich gefunden werden.

Ich bekenne mich zu der Überzeugung, dass wir das Problem des Friedens nur dann lösen werden, wenn wir den Krieg aus einem ethischen Grund verwerfen, nämlich weil er uns der Unmenschlichkeit schuldig werden lässt. Ich habe die Gewissheit, dass der Geist in unserer Zeit ethische Gesinnung zu schaffen vermag. Deshalb verkünde ich diese Wahrheit in der Hoffnung, dass sie nicht als eine Wahrheit beiseite gelegt werde, die sich in Worten gut ausnimmt, für die Wirklichkeit aber nicht in Betracht kommt.

Mögen die, welche die Geschicke der Völker in Händen haben, darauf bedacht sein, alles zu vermeiden, was die Lage, in der wir uns befinden, noch schwieriger und gefahrvoller gestalten könnte. Mögen sie das wunderbare Wort des Apostels Paulus beherzigen: Soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden! Es gilt nicht nur den einzelnen, sondern auch den Völkern. Mögen sie im Bemühen um die Erhaltung des Friedens miteinander bis an die äußerste Grenze des Möglichen gehen, damit dem Geiste der Menschlichkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben zum Erstarken und zum Wirken Zeit gegeben werde.“

 

Abkürzungen der Literaturangaben:

AS+HB = Albert Schweitzer – Helene Bresslau: Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902-1912 (München, 1992)

GW 2 = A. Schweitzer, Gesammelte Werke in 5 Bänden (München, 1974), Bd. 2

GW 3 = A. Schweitzer: Gesammelte Werke in 5 Bänden (München, 1974), Bd. 3, „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“

K I =  A. Schweitzer: Verfall und Wiederaufbau der Kultur (München, 1960)

K II = A. Schweitzer: Kultur und Ethik (München, 1960)

K III 1+2 = A. Schweitzer: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III, 2. + 3. Teil (München, 1999)

K III 3+4 = A. Schweitzer: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III, 3. + 4. Teil (München, 2000)

RGCh = A. Schweitzer: Reich Gottes und Christentum (München, 1995)

Seaver = A. Schweitzer: „Die Religion in der modernen Kultur“

in George Seaver: Albert Schweitzer als Mensch und Denker (Göttingen, 1959)

StrV = A. Schweitzer: Straßburger Vorlesungen (München, 1998)

Spear = Otto Spear: Albert Schweitzers Ethik (Hamburg, 1978)

[1]„Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts?“ Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral: Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?. Nietzsche-Werke Bd. 2, S. 893, C. Hanser Verlag – derselbe später im Nachlass, 1885/86: „Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins x.“

Zum Tempo der Orgelwerke am Beispiel Albert Schweitzers

(erschienen in „Forum Kirchenmusik“ 03/2010)

„Erste und letzte Forderung bleiben Klarheit und Plastik“:

Nochmals „Wider den eiligen Geist“ und für „Slow-Food statt Formel 1

Die beiden Artikel von Armin Schoof („Wider den eiligen Geist“, Forum Kirchenmusik, 3/2009, S. 15 ff) und von Herfried Mencke („Slow-Food statt Formel I…“, Forum Kirchenmusik, 6/2009, S. 20 ff) veranlassen mich, zu diesem Thema, mit dem ich mich (auch mit anderen) schon ein Leben lang auseinandersetze, ebenfalls einiges beizutragen. Um es gleich zu sagen: zustimmend und vor allem ergänzend.

Die Klage über falsche (überwiegend zu schnelle) Tempi in der Musik ist fast so alt wie die Klage über die Verderbtheit der Jugend. Tadel und Warnungen finden sich von dem bei Schoof erwähnten Schütz über C. Ph. Emanuel Bach, Quantz, Mozart, Beethoven, Schumann, Reger (diesen siehe auch Schoof) bis in die heutige Zeit (um nur einige namentlich anzuführen). Auch das Tempo folgt interpretatorischen „Moden“, das Pendel schlägt auch hier nach beiden Seiten aus. „Zum Tempo der Orgelwerke am Beispiel Albert Schweitzers“ weiterlesen

Das missverstandene Orgelideal Albert Schweitzers

Eine Begegnung in der Marktkirche in Halle im Jahre 1928 von Rainer Noll

(erschienen in „Albert Schweitzer heute – Beiträge zur Albert-Schweitzer-Forschung“ Bd. 1, Tübingen 1990)

Am 25. November, dem Totensonntag des Jahres 1928, spielte Albert Schweitzer ein Orgelkonzert in der Marktkirche Unserer Lieben Frauen in Halle an der Saale. Auf dem für Schweitzer typischen Programm standen
— von Johann Sebastian Bach: Präludium und Fuge h-moll (BWV 544),
die Choralvorspiele „Nun komm, der Heiden Heiland“ (BWV 599),
„Gelobet seist du, Jesu Christ“ (BWV 604), Fuge A-Dur (BWV 536),
die letzte Variation der Partita „Sei gegrüßet, Jesu gütig“ (BWV 768),
das Choralvorspiel „Schmücke dich, o liebe Seele“ (BWV 654),
und die Fuge F-Dur (BWV 540):
— von César Franck: Choral Nr. 1 E-Dur 1.

Der Stadtsingechor unter der Leitung von Karl Klanert sang zu den Choralvorspielen die zugehörigen Choräle im Bachschen Tonsatz, wie Schweitzer es immer, wenn möglich, für seine „musikalischen Andachtsstunden“ wünschte.

Der seinerzeit in der liturgischen und in der Orgel- und Singebewegung aktive Schweizer Kirchenmusiker Walter Tappolet studierte in den Jahren 1928-30 bei Günther Ramin in Leipzig. Ramin und Tappolet waren nach Halle gereist, um jenes Orgelkonzert des damals schon berühmten „Urwalddoktors“ zu hören. Walter Tappolet verdanken wir einen Bericht über diese Begegnung mit Schweitzer:

„Wir waren … beide gleicherweise von dem Spiel beeindruckt: sehr genau, sauber (wie seine Ausgabe der Orgelwerke von Bach bei Schirmer in New York) und gediegen, allerdings keineswegs hinreißend, dafür aber einnehmend durch große Objektivität aufgrund der Ehrfurcht vor der Bedeutsamkeit dieser Musik. Aber alles andere als das Spiel eines ,Dilettanten‘, oder doch eines solchen, der seit Jahrzehnten den Schwerpunkt seines Einsatzes nicht mehr bei der Musik und beim Orgelspiel hatte.“2
Bei der Zusammenkunft nach dem Konzert hielt Albert Schweitzer eine kurze Ansprache. Walter Tappolet erinnert sich: „Im Gedächtnis geblieben ist mir als einem überzeugten Verfechter der Anfangszeiten der Orgelbewegung sein Rühmen der wirklich ziemlich schlechten Orgel, für die ein Neubauprojekt bestand, aber noch nicht ganz gesichert war! Albert Schweitzer mußte gehört haben von diesen Plänen. Er griff sie heftig an: Das erübrigte sich, da es sich ja um eine gute Orgel handle; sie sollten von einem Neubau absehen und den beträchtlichen Betrag lieber ihm geben für sein Urwaldspital! Man wird verstehen, daß wir dies mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis nahmen. Es ist darum erstaunlich, weil seinerzeit Albert Schweitzer es war, der den allerersten Anstoß zur Orgelbewegung gegeben hat… Genau dem seinem richtigen Urteil erwachsenen Impuls am Kongreß 1909 in Wien3 gemäß wollte also auch Halle … seine dickflüssige, vom 8′-Ton bestimmte ‚Orchesterorgel‘ durch ein gediegenes, wesensgerechtes Instrument ersetzen. Diese überraschende Stellungnahme, bei der Albert Schweitzer seiner früheren Initiative untreu geworden ist, kann nur von daher verstanden werden, daß damals der Auf- und Ausbau des Urwaldspitals in Lambarene das Ein und Alles seiner Intentionen und seines bewunderungswürdigen Einsatzes war.“4

Auf die Behauptung, er habe sich schon lange vor seiner Abreise nach Afrika (1913) von dem Eintreten für die gute Orgel zurückgezogen, entgegnete Albert Schweitzer bereits im Jahre 1914: „Von dem Kampfe für die gute Orgel werde ich mich überhaupt nie zurückziehen.“5 Sollte er nun aber doch bis zum Jahre 1928 „seiner früheren Initiative untreu geworden“ sein, wie Tappolet Schweitzers Äußerung in Halle deutet? Lassen wir zunächst die Fakten sprechen.

Das Instrument, auf dem Schweitzer in Halle spielte, war 1896/97 von der Firma Wilhelm Rühlmann aus Zörbig hinter dem Barockprospekt von Christoph Cuncius (Halberstadt) aus dem Jahre 1716 mit pneumatischer Traktur erbaut worden; es wies die folgende Disposition auf:

I.

Flûte harmonique
Gedackt
Gemshorn
Hohlflöte
Gambe
Prinzipal
Rohrflöte
Gemshorn
Oktave
Nasat
Quinte
Oktave
Prinzipal
Bordun
Cornett
Mixtur
Trompete
Trompete
8′
8′
8′
8′
8′
8′
4′
4′
4′
5 1/3′
2 2/3′
2′
16′
16′
3f.
4f.
8′
16′
II.

Dolce
Rohrflöte
Doppelflöte
Salicional
Geigenprinzipal
Gedackt
Gedackt
Prinzipal
Quinte
Waldflöte
Scharf
Klarinette
Fugara
Flûte harmonique
8′
8′
8′
8′
8′
4′
16′
4′
2 2/3′
2′
4f.
8′
16′
4′
III.

Gedackt
Flauto traverso
Viola
Viola d’amore
Vox coelestis
Prinzipal
Flauto dolce
Fugara
Harmonia aetherea
Flautino
Rauschquinte Gedackt
Oboe
8′
8′
16′
8′
8′
8′
4′
4′
3f.
2f.
16′
8′
Pedal

Gedacktbaß
Subbaß
Violon
Prinzipal
Flötenbaß
Cello
Quintatön
Prinzipalbaß
Oktave
Cornett
Quinte
Untersatz
Fagott
Posaune
Trompete
Dulciana
16′
16′
16′
16′
8′
8′
8′
8′
4′
3f.
10 2/3′
32′
16′
32′
8′
8′

Obwohl diese Disposition erst aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stammt, entspricht sie doch denjenigen der nach Albert Schweitzer „besten Orgeln“, die etwa zwischen 1850 und 1880 erbaut wurden6. Nehmen wir noch an, daß das III. Klavier als Schwellwerk gebaut war (was ich nicht ermitteln konnte), so finden wir in dieser Disposition Schweitzers eigene Dispositionsprinzipien so weitgehend verwirklicht, daß sich gar ein Einfluß der Elsässischen Reformbewegung vermuten ließe, wäre diese nicht erst Jahre später zur Wirkung gekommen.
Auch die pneumatische Traktur widerspricht dem nicht: Schweitzer, zwar verbal ein Verfechter der mechanischen Traktur und der Schleiflade, ließ noch 1932 die Günsbacher Orgel mit Pneumatik und Kegelladen versehen, da der Orgelbau noch nicht wieder in der Lage gewesen sei, eine ordentliche Mechanik zu bauen. Erst 1961 erhielt diese Orgel mechanische Schleifladen, wobei sich auch in diesem vorgerückten Jahr Schweitzer persönlich von Lambarene aus um alle Einzelheiten des Orgelneubaues kümmerte (also noch in seinem 87. Lebensjahr kein Rückzug!). Was den Klang der Günsbacher Orgel von 1932 betrifft, so erinnere ich mich gut an ebensolches enttäuschtes Erstaunen in damals noch ungebrochen orgelbewegten organistischen Kreisen der 60er Jahre, wie Tappolet und Ramin es schon 1928 in Halle erlebten. Daß Schweitzer für seine Orgeleinspielungen im Jahre 1952 die Orgel in Günsbach wählte, wurde nie als sein Bekenntnis zu dieser Orgel für möglich gehalten; man bedauerte vielmehr diesen „Fehlgriff“ Schweitzers und hatte dafür alle möglichen Entschuldigungen bereit, wie: Schweitzer habe sich in seinem Alter nicht mehr auf eine andere Orgel umstellen wollen, viel lieber hätte gerade er auf einer Barockorgel gespielt usw.

Wie die Rühlmann-Orgel in Halle tatsächlich geklungen hat, läßt sich anhand der Disposition leider nicht verlebendigen. Wie Albert Schweitzer aber diesen Klang beurteilte, das läßt sich authentisch belegen. Er schrieb an die Orgelbaufirma Rühlmann: „Schon lange wollte ich Ihnen schreiben, um Ihnen meine lebhafte Anerkennung für die Restauration der Orgel in der Liebfrauenkirche zu Halle a. S. auszusprechen. Ich habe das Instrument am zweiten Adventssonntage 1927 auf der Heimkehr von einer Konzertreise in Schweden gespielt und war von dem Klange entzückt.“7
Mit „Restauration“ meint Schweitzer wohl den Orgelneubau in dem Barockgehäuse von Cuncius. Sein Restaurationsbegriff hatte noch nichts zu tun mit historisierenden Tendenzen, forderte er doch z.B. bei der Restaurierung zweier bedeutender Barockorgeln (in Harlem, St. Bavo, und in Hamburg, St. Jakobi) den Einbau eines Schwellkastens (in Hamburg sogar mit Erfolg!). So bleibt uns nichts anderes übrig als anzuerkennen, daß Schweitzer tatsächlich von der nach Tappolets und Ramins Urteil „wirklich ziemlich schlechten, dickflüssigen, vom 8′-Ton bestimmten ,Orchesterorgel'“ der Marktkirche in Halle, die er gleich durch zweimalige Begegnung kannte, aufrichtig begeistert war – unabhängig von seinem Einsatz für das Spital in Lambarene.
Worin liegt nun der Grund für Tappolets Enttäuschung über Schweitzers Ansprache in Halle? In einem Missverständnis. In der unreflektierten Annahme nämlich, daß sein klangästhetischer Wertmaßstab mit dem des früheren Schweitzer identisch sei, so wie er Schweitzer bisher jedenfalls verstanden hat. Durch Schweitzers Äußerung nach jenem Konzert, also angesichts des gerade eben vernommenen konkreten Klangerlebnisses, wird unausweichlich klar, daß Schweitzers ästhetische Klangbeurteilung eben eine ganz andere ist. Um das eigene, sicher geglaubte Urteil nicht in Frage gestellt zu sehen, muß Tappolet annehmen, Schweitzer sei inzwischen seiner ursprünglichen Initiative als Orgelbaureformer wegen anderer Prioritäten untreu geworden.
Wie kommt es zu einem solchen Missverständnis? In erster Linie wohl durch verbal bedingte Fehlinterpretationen, die sich meist nur am erlebten Klang selbst aufklären lassen. Tappolet kannte bis zum Besuch jenes Orgelkonzertes in Halle Schweitzers Ansichten offensichtlich nur durch verbale Vermittlung (und auch so wahrscheinlich nur recht unvollständig). Erst durch den Klang der Rühlmann-Orgel und dessen unterschiedliche Beurteilung wird die unerwartete Differenz der beiden Standpunkte schlagartig deutlich (die erneute Fehlinterpretation Tappolets verhindert hier jedoch seine Aufklärung). Schweitzer selbst sagt hierzu ein erhellendes Wort: „Sooft ich über Orgelbau schreibe, habe ich das Empfinden, daß es sehr schwer ist, sich darüber auf dem Papier zu erklären und zu verständigen. Das, um was es sich handelt, ist etwas Klingendes und muß als solches von denen, die sich mit stummen Worten auseinandersetzen, hinzugedacht werden. Und jeder denkt sich unter denselben Bedingungen und Worten etwas anderes.“8
Unter anderem waren es diese rein verbalen Missverständlichkeiten, die halfen, das Bewusstwerden der Radikalität des geistigen Umbruches nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber dem Ansatz der Elsässischen Reform, die Wolfgang Metzler „als den letzten Höhepunkt des romantischen Orgelbaues“ bezeichnet9, zu verschleiern. Nicht Schweitzer war inzwischen seiner früheren Initiative untreu geworden – genau das Gegenteil war der Fall! -, sondern man huldigte bereits in den Anfangszeiten der Orgelbewegung der 20er Jahre, deren „überzeugter Verfechter“ sich Walter Tappolet nennt, einem ganz anderen Orgelideal als dem von Albert Schweitzer vertretenen, wobei man sich paradoxerweise meist noch als konsequenter Vollstrecker und Vollender der Schweitzerschen Maximen fühlte. Wer so fühlte, mußte fast zwangsläufig bei einer so enthüllenden Begegnung wie der in Halle enttäuscht sein und Schweitzer der Untreue gegenüber seiner früheren Initiative verdächtigen, wie Tappolet es tat.

Es muß klar angesprochen werden, daß Schweitzers Orgelideal wesentlich geprägt wurde durch die Orgel der Hochblüte des Orgelbaues gerade des 19. Jahrhunderts, das im Zuge der Orgelbewegung fast vergessen gemacht worden war. Seine Persönlichkeit wurzelt in diesem 19. Jahrhundert. Unmissverständlich äußerte er sich 1931 über sein Orgelideal: „Die besten Orgeln wurden etwa zwischen 1850 und 1880 erbaut, als Orgelbauer, die Künstler waren, sich die Errungenschaften der Technik zunutze machten, um das Orgelideal Silbermanns und der anderen großen Orgelbauer des 18. Jahrhunderts in höchstmöglicher Vollendung zu verwirklichen. Der bedeutendste von ihnen ist Aristide Cavaillé-Coll… Während mir die monumentale Orgel des 18. Jahrhunderts, wie sie später durch Cavaillé-Coll und andere ihre Vollendung erfuhr, in klanglicher Hinsicht als das Ideal gilt, wollen neuerdings Musikhistoriker in Deutschland auf die Orgel der Zeit von Bach zurückgehen. Diese ist aber nicht die wahre Orgel, sondern nur ihr Vorläufer. Es fehlt ihr das Majestätische, das zum Wesen der Orgel gehört.“10
Sosehr er es begrüßte, daß nach dem Ersten Weltkrieg die Orgel Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden war, sowenig war er mit der Idealisierung des barocken Orgelbaus dieser neuen Ära einverstanden: „Ich habe darunter gelitten, daß eine gewisse Richtung sich … auf einen historischen Orgeltypus, und gar noch auf einen vorbachischen, festlegte.“11 Gerade in Briefen äußert sich Schweitzer weit freimütiger als in seinen Schriften, so auch an den Architekten Leitolf in Aschaffenburg: „Günsbach, 7. Oct. 32 …Hören Sie nicht auf die Leute, die Ihnen eine ,Barock-Orgel‘ oder ,Praetorius-Orgel‘ aufschwätzen wollen. Das ist vorübergehende Mode.“12 Ebenso im Brief an Johannes Schäfer in Osterode: „Günsbach, 6. März 36 …arbeiten Sie für die wahre Orgel, die gleich weit entfernt ist von der heutigen Barock-Gebimbel-Orgel, wie von der früheren Orchester-Fabrikorgel!“13
Trotz solcher Äußerungen machte das Mißverständnis von Schweitzers Orgelideal seine Runde wie einmal in Umlauf gebrachtes Falschgeld – und nur wenige merkten, daß sie betrogene Betrüger waren. Walter Tappolet stehe in diesem Beitrag stellvertretend für viele Fachleute der fünf Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg.

In dem Aufsatz „Zur Reform des Orgelbaus“14 muß sich Schweitzer bereits gegen eine falsche Inanspruchnahme seines Namens in einem Artikel von Peter Epstein (Breslau) in derselben Zeitschrift wehren: „Etwas irreführend in seiner [Epsteins] Darstellung ist, daß er mich die Forderung aufstellen läßt, für die Wiedergabe der Orgelwerke Bachs sollten wir zur Orgel des achtzehnten Jahrhunderts zurückkehren… Weder in meiner Schrift über deutsche und französische Orgelbaukunst (1906), noch in meinem Buche über Bach (1906) [sic!], noch bei den Verhandlungen über Orgelbau auf dem Kongreß der ‚Internationalen Musikgesellschaft zu Wien‘ (1909), die zur Aufstellung des ‚Internationalen Regulativs für Orgelbau‘ (Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1909) führten, noch in der amerikanischen Ausgabe der Orgelwerke Bachs (Schirmer, New York, 1913) habe ich archaistische Ansichten vertreten… Die in meiner Schrift von 1906 ausgegebene Losung lautet: Zurück von der dröhnenden Fabrikorgel zur tonreichen und tonschönen Orgel der Orgelbaumeister.“ Immer wieder muß Schweitzer Mißverständnisse klarstellen: „Mancherorts ist die Losung ‚Zurück zur alten tonschönen Orgel‘ so mißverstanden worden, als sollte die Orgel des achtzehnten Jahrhunderts zum Ideal erhoben werden. Dies ist nicht der Fall.“15
Zu Mißverständnissen Anlaß gab auch Schweitzers Forderung nach zahlreichen und weichen Mixturen. Bereits der Begriff stiftet Verwirrung: Aus Schweitzers Äußerungen geht hervor, daß er unter „Mixturen“ auch Einzelaliquotregister versteht. Die bisweilen scharfen Mixturen des norddeutschen Barock waren nie sein Fall. Dieser Ruf nach Mixturen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schweitzer den größten Wert auf tragfähige, verschmelzungsfähige Grundstimmen verschiedener Bauart legte (sogar auf Kosten der Klangkrone im I. und des Prinzipalaufbaues im II. Manual). Die 8′-Register sind für ihn das Fundament, auf dem die ganze Schönheit einer Orgel beruht. Flöte 8′, Bordun 8′ und Salicional 8′ braucht er besonders für den runden Flötenton, gegen den sich die Solostimme in Bachs Choralvorspielen besonders gut abhebt16. Gerade den lange Zeit mißbilligten streichenden Stimmen galt seine besondere Aufmerksamkeit: „Die Ablehnung streichender Stimmen (Salicional 8′, Gambe 8′, Cello 8′, Violonbaß 16′) habe ich nicht begreifen können und daher nie mitgemacht. Bach hat sie nie abgelehnt. Er hatte Violonbaß 16′ in den Pedalen von Orgeln, die er spielte. Beim Umbau der Mühlhauser Kirche fordert er die Einsetzung einer Gamba 8′, die er mit Salicet 4′ verbinden will… Aber diese Stimmen dürfen nicht schneidend und scharf sein wie so um 1900 herum, sondern milde und edel. Ein Violon 8′ (Cello) gut und mild intoniert im Pedal halte ich auch in einer Orgel von 20 Stimmen erfordert, um den Baß im Piano aufhellen zu können.“17 Der ehemalige Organist der New Yorker Philharmoniker, Edouard Nies-Berger, langjähriger Freund und Mitarbeiter Schweitzers, erzählte mir, mit welchem Stolz Schweitzer immer von „seinem“ Violoncello 8′ der Orgel in Günsbach sprach: „Ein solches Cello findest du in ganz Paris nicht!“
Eine der problematischsten Äußerungen Schweitzers, die manche Fehlinterpretation verursacht hat, lautet: „Maßstab einer jeglichen Orgel, bester und alleiniger Maßstab, ist die Bachsche Orgelmusik.“18 Dieser Satz muß als Schnittpunkt zwischen Schweitzers orgelbaulichen Ansichten und seiner Bachinterpretation19 verstanden werden. Der wahre Sinn dieses Leitwortes bleibt nämlich unverständlich, wenn man nicht berücksichtigt, wie Schweitzer Bach begreift: nicht als historische, sondern als ihn unmittelbar betreffende ästhetisch-ethische Größe! „Es ist an der Zeit, daß die Ästhetik an die Stelle der Geschichte trete und das Wesen der Bachschen Kunst in seiner ganzen Tiefe und seiner reichen Mannigfaltigkeit zu erfassen suche“, sagt er im Bach-Buch20. Mag Schweitzer auch seine philosophisch-ästhetischen Studien unabhängig von seinen ethischen Intentionen betrieben haben (wie ja auch z.B. ein Medizinstudium an sich und unabhängig von dem später damit beabsichtigten ethischen Wirken absolviert werden muß): Seine Bach-Interpretation wie auch sein damit verknüpftes Orgelideal, die praktischen Seiten seiner Ästhetik sozusagen, leben nicht aus einer historischen Sicht, sondern letztlich aus einer erzieherisch-ethisch-religiösen Absicht heraus. Am Schluß seines Vortrags zum 1. Westfälischen Bach-Fest in Dortmund im Jahre 1909 sagt Schweitzer: „In dem Thomaskantor redet einer der größten Mystiker, die es je gegeben hat, zu den Menschen und führt sie aus dem Lärm zur Stille. Er gehört zu denen, welchen es verliehen ward, an der Erlösung der Menschheit mitzuhelfen… Möge uns verliehen sein, was er zu sagen hat, in der rechten Sammlung zu vernehmen und Stunden zu feiern, aus denen wir innerlich stärker und besser, reicher an dem was die Welt nicht geben kann, wieder in das Leben und die Arbeit hinaustreten.“21 An Willibald Gurlitt schreibt er am 23.2.1926: „Wer sich mit Orgel beschäftigt, wird über alles Menschliche und Allzumenschliche hinausgetragen und zur reinen Freude an der Wahrheit geläutert und verehrt Orgel und Orgelklang als die großen seelischen Erzieher zum Erleben der Ewigkeitsgesinnung.“22 Es mag damit hinreichend deutlich geworden sein, daß die Orgeln der Bachzeit dem Maßstab Bachscher Orgelmusik im Sinne Schweitzers nicht genügen.

Für die Orgelmusik der französischen Romantiker stellt Schweitzer berechtigte Forderungen an die Disposition, die erst im Orgelbau unserer Tage wieder häufiger Beachtung finden: „An dem Grundsatz, daß das Schwellwerk das vollständigste sein müsse, ist unter allen Umständen festzuhalten… César Franck, Widor und die anderen romanischen Meister setzten voraus, daß das Schwellwerk mit einer intensiven Gambe, einer nicht minder intensiven und nicht zu engen Voix céleste, mit Oboe 8′ und Clairon 4′ ausgestattet ist. Klarinette 8′ erwarten sie auf dem Positiv. Finden sich diese Stimmen aus irgendeiner Willkür des Erbauers auf einer Orgel nicht an ihrem Platze, so muß für die Wiedergabe der Werke dieser Meister und aller von ihnen beeinflussten Komponisten die ganze Registrierung umgeworden werden.“23 Die volle Bedeutung dieser Äußerung wird erst klar, wenn man bedenkt, welch wesentliches kompositorisches Element die Klangfarbe für Orgelwerke des angesprochenen Stilkreises ist.
So, wie man sich vorher an herrlichen Instrumenten des 18. Jahrhunderts verging, so lud die Orgelbewegung eine Schuld gegenüber den Instrumenten des 19. Jahrhunderts auf sich. Von Anfang an, so bereits 1914, erhob Schweitzer warnend seine Stimme gegen die Anfänge dieses Trends. Er hat nicht nur das Verschwinden vieler Orgeln aus dem 18. Jahrhundert bedauert: „Auch der Verlust von Instrumenten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – genannt seien nur die Namen Ladegast und Walcker – wiegt schwer. Die Gefahr liegt nahe, daß ihrer über der Verherrlichung der Meister des 18. Jahrhunderts, deren würdige und verständnisvolle Erben sie waren, nicht genug gedacht werde“24. Daß aber Schweitzer trotz seiner Liebe und seines Kampfes für schöne alte Orgeln eigentlich mehr zukunftsweisend-modern als historisierend dachte, dokumentiert folgendes Zitat: „Sicherlich müssen wir die noch vorhandenen alten Orgeln des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts als historische Kleinodien erhalten und möglichst sachgemäß und pietätvoll restaurieren… Sicherlich müssen wir die Orgeln aus jener Zeit noch viel besser kennenlernen… Unser Ideal der Orgel ist aber auch durch die Errungenschaften der großen Orgelbaumeister der sieben ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts bestimmt. Weiter noch hat es den Forderungen Rechnung zu tragen, die die bedeutenden Orgelkomponisten – die César Franck, die Widor, die Reger und die anderen – in ihren Schöpfungen an die Orgel stellen.“25

Während sich in der Orgelbewegung das Ideal einer Orgel zunehmend zur Ideologie der „Barockorgel“ verengte und der Bruch mit der Tradition des 19. Jahrhunderts bewußt herbeigeführt wurde, wollte Schweitzer die Weiterentwicklung wieder da anknüpfen, wo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Faden der künstlerischen Tradition im Orgelbau gerissen war und der Verfall durch Industrialisierung und den Sieg des Kaufmännischen über das Künstlerische begonnen hatte. Je mehr die neobarocke Ära der Orgelbewegung nach vielen Jahrzehnten sich ihrem Ende zuneigte, desto aktueller wurde plötzlich der allzu früh überholt geglaubte Albert Schweitzer – und desto treffender wurde die Einschätzung und Würdigung seiner Leistung. Sein Anliegen und Verdienst war die Wahrung des geschichtlichen Kontinuums in der schöpferischen Evolution des Orgelbaus. Alles Epigonenhafte, archaistische Tendenzen und Historizismus lehnte er ab. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hielt er Namensgebungen wie „Elsässische Orgelreform“ für zu eng und deshalb nicht für angebracht für die Idee, um die es ging.26 Nicht um die Wiederbelebung oder gar Nachahmung eines historischen Ideals ging es ihm, sondern um die Schaffung eines künstlerisch wertvollen ästhetischen Orgelideals für seine Zeit durch eigenschöpferisches geistiges Ringen aus Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft gewonnen. Der Glaube an die schöpferische Kraft des eigenen Geistes war in Schweitzer unerschüttert lebendig geblieben.

Beenden wir unsere Überlegungen an dem Ort, von dem wir ausgingen: Dank seiner Autorität hatte Albert Schweitzer seinerzeit Erfolg mit seinem Plädoyer für die Rühlmann-Orgel der Marktkirche in Halle. Sie mußte keinem Neubau weichen. Mehr noch, sie gelangte zu ungeahnten neuen Ehren: Der langjährige Marktkirchenorganist Oscar Rebling kündete mit Berufung auf Schweitzer von dem Anspruch seiner Orgel, eine der besten Deutschlands zu sein.

Im Jahre 1967 wurde das Instrument das Opfer einer Explosion der Fernwärmezuleitung in die Kirche. Die Orgelbaufirma Schuke aus Potsdam erbaute 1984 ein neues Werk mit 56 Stimmen.27

 

 

Der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Hans Heinrich Eggebrecht () urteilte über diesen Beitrag während der Planungsphase von „Albert Schweitzer heute“ Bd. 1 im Brief vom 7. Nov. 1989 an Pastor Helmut Amelung (Osnabrück), dem Initiator der „Wissenschaftlichen Albert-Schweitzer-Gesellschaft“:

„Der Aufsatz von Herrn Noll paßt gut in den geplanten Band. Er ist stilistisch gut und wissenschaftlich einwandfrei geschrieben und sehr glaubhaft und interessant. Schweitzers Auffassung über das erstrebenswerte Instrument Orgel erscheint – dargestellt an einem konkreten Fall! – in einem in seiner Klarheit neuen Licht, wobei der Aufsatz von Herrn Noll den Grundtendenzen des Aufsatzes von Herrn Schützeichel nahesteht. Also: ein Gewinn für die geplante Publikation. Unbedingt aufnehmen!“

1 Harald Schützeichel: Die Konzerttätigkeit Albert Schweitzers (Stand: November 1986), 55.

2 Walter Tappolet: Erinnerungen an Albert Schweitzer, in: Musik und Gottesdienst 3, 1984, 104.

 

3 Gemeint ist das „Internationale Regulativ für Orgelbau“, das unter Schweitzers Federführung auf dem Kongreß der Internationalen Musikgesellschaft 1909 in Wien ausgearbeitet und veröffentlicht wurde.

4 Tappolet, 104.

5 Albert Schweitzer: Zur Diskussion über Orgelbau, in Erwin R. Jacobi: Musikwissenschaftliche Arbeiten, 1984, 376.

6 Albert Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken, 193 (GW 1, 89).

7 Albert Schweitzer weilte in Halle, in: Der neue Weg v. 18.1.1975 (mitgeteilt durch Rudolf Schweitzer, Ulberndorf).

8 Zur Diskussion über Orgelbau, 396.

9 Wolfgang Metzler: Romantischer Orgelbau in Deutschland, o.J., 70.

10 Aus meinem Leben und Denken (GW I, 89, 91).

11 Aus einem Brief Schweitzers an Rudolf Quoika vom 2.8.1954 (Rudolf Quoika: Ein Orgelkolleg mit Albert Schweitzer, 1970, 29.).

12 Albert-Schweitzer-Zentralarchiv, Günsbach (ZAG).

13 ZAG.

14 In: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 32, 1927, 148-154.

15 Albert Schweitzer: Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst (mit Nachwort über den gegenwärtigen Stand der Frage des Orgelbaus), 1927 (GW V, 453).

16 Siehe die Briefe an Orgelbaumeister Alfred Kern vom 6.6.1959 und 24.1.1960, gedruckt bei Bernhard Billeter: Albert Schweitzer und sein Orgelbauer, in: Acta Organologica 11, 1977, 218f. Daß Schweitzer auch beim Bau der Günsbacher Orgel (1961) besonderes Gewicht auf die Grundstimmen legte, bestätigte mir Alfred Kern im Gespräch nach dem Gedenkkonzert zu Schweitzers Todestag in Günsbach im Jahre 1973.

17 Quoika, 29.

18 Deutsche und französische Orgelbaukunst (GW V, 410).

19 Siehe zu dieser Problematik meinen Beitrag „Der Orgelfachmann und Bach-Interpret Albert Schweitzer und mein Weg zur Orgel“, in: Rundbrief für alle Freunde von Albert Schweitzer, 48 und 49, 1979/80, sowie die gekürzte und überarbeitete Fassung „Albert Schweitzer als Orgelfachmann und Bach-Interpret“, in: Musik und Kirche 55, 1985, 122-132.

20 Albert Schweitzer: J. S. Bach, 1908, Neusatz 1960, 230.

21 Albert Schweitzer: Aufsätze zur Musik, hrsg. Von Stefan Hanheide, 1988, 46.

22 Schweitzer, Aufsätze zur Musik, 228.

23 Deutsche und französische Orgelbaukunst (GW V, 455).

24 Zur Diskussion über Orgelbau, 382.

25 Deutsche und französische Orgelbaukunst (GW V, 453f).

26 Zur Diskussion über Orgelbau, 377f.

27 Für Informationen zur Geschichte und Disposition der Orgel der Marktkirche, brieflich mitgeteilt am 29.5.1985, bin ich Herrn Carl-Gustav Naumann in Halle zu Dank verpflichtet.

„Geistesgegenwart“ – ein Beispiel aus der modernen Musik der Kirche

„Geistesgegenwart“ – ein Beispiel aus der modernen Musik der Kirche (1)
(mit Exkurs: »„im Geiste von…“ bei Albert Schweitzer«)

Vortrag von Rainer Noll, gehalten am 15. März 1997 während der Internationalen Seminartage des Albert-Schweitzer-Hauses in Günsbach/Elsaß (Gesamtthema: Heiliger Geist – Geist des Lebens – Geist der Wahrheit) als Einführung zum abendlichen Orgelkonzert von Rainer Noll in der Pfarrkirche Günsbach auf der von Schweitzer geplanten Orgel

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

das Thema dieses Referates wurde mir vorgegeben und von Herrn Dr. Zager und seiner Frau formuliert. Es zog mich an, fast habe ich mich darum gerissen, um mich selbst zu einer Auseinandersetzung zu zwingen, ohne zu ahnen, worauf ich mich da eingelassen habe. In manchen Gesprächen mit Freunden (darunter Theologen, Komponisten, Interpreten, Hochschullehrer usw.) steuerte ich dieses Thema an. Mit seltener Einmütigkeit bekam ich früher oder später zu hören: „Ich möchte diesen Vortrag nicht halten müssen!“ – Sehr ermutigend… Und nun sitzen wir hier zusammen mit mehr oder weniger großen Erwartungen. Sie werden sehen, dass es sehr schwierig ist, zu diesem Thema etwas zu sagen, was wirklich „Hand und Fuß“ hat (wie immer, wenn es um „Geist“ geht).

Ich bin schon froh, wenn es mir heute noch gelingt, Ihnen doch etwas mit Hand und Fuß nahezubringen, nämlich die überwiegend zeitgenössische Musik, die ich nachher im Orgelkonzert spielen werde, und die ich ganz bewusst im Hinblick auf den zweiten Teil des Themas ausgewählt habe. Lassen Sie mich versuchen, Sie schonend darauf vorzubereiten.

Doch zunächst möchte ich Ihnen einen Überblick geben, was Sie im Folgenden erwartet. Nicht erwarten können Sie eine systematische Geschlossenheit – eher schon eine aspekthaft schweifende Offenheit (dem Geist selbst verwandt). Bewusst werde ich nicht vom Heiligen Geist sprechen. Auch bewege ich mich im Vorfeld der „Unterscheidung der Geister“ (so nötig diese irgendwann auch werden mag), es geht mir zunächst um Grundsätzlicheres. Auch bei den musikalischen Ausführungen dringe ich nicht vor bis zu Feinheiten interpretatorischer Unterschiede. Überhaupt werde ich, bevor ich endgültig zur Musik komme, noch einmal kräftig abschweifen, sozusagen einen Vortrag im Vortrag halten in einem Exkurs über „»im Geiste von…« bei Albert Schweitzer“, um auf diese Weise auch Schweitzer einzubeziehen.

Sie werden bemerken, dass ich in meinen Ausführungen sehr viel mehr Dinge anspreche, als ich ausführlich benennen kann (aus manchem Für und Wider könnten dann wieder eigene Abhandlungen erwachsen). Ich möchte Sie zum Nachdenken anregen und Sie geistig herausfordern (auch zum Widerspruch). Nehmen Sie diesen Vortrag wie einen Notizzettel, der im Papierkorb verschwinden kann, wenn er seine Funktion erfüllt hat und Sie klüger sind als zuvor … oder gar als der Referent. Das Wesentliche ist ohnehin nicht verbalisierbar. Alles bleibt Annäherung.

Ich beginne nun mit des Themas erster Hälfte: „Geistesgegenwart“.
Das Wort „Geistesgegenwart“ ist eine sogenannte Lehnübersetzung des französischen présence d’esprit und taucht erstmals 1791 bei Herder auf. Der französische Begriff ist eindeutiger als der deutsche: Er meint das, was wir mit Schlagfertigkeit umschreiben könnten. Umgangssprachlich ist jemand, der „geistesgegenwärtig“ ist, „voll da“ (und ich hoffe, dass ich dies nachher beim Konzert auch noch sein werde – so ganz unwichtig ist dieser Aspekt also auch nicht). Primär gemeint ist aber hier die andere Bedeutung des deutschen Wortes: Gegenwart von Geist (und die hieße auf französisch présence de l’esprit).

Zum „Geist“ nun Geistreiches zu sagen, ist ein schwieriges Unterfangen, bei dem nicht leicht ein Anfang und Ende zu finden ist. Man bekommt nur mühsam Boden unter die Füße. Vielleicht ist „Geist“ deshalb immer als etwas Schwebendes (Anfang der Schöpfungsgeschichte!), Wehendes, Unfassbares und Unverfügbares empfunden worden (einigen dieser Aspekte begegnen wir nachher in Dick Troosts Pfingstpartita).

Im Philosophie-Duden lesen wir: „Geist: einer der am schwersten zu bestimmenden und umstrittensten Termini der Philosophie“. Lässt Geist sich überhaupt definieren? Gerade in diesem Zusammenhang sind nach Karl Popper „»Was ist«-Fragen niemals fruchtbar, auch wenn sie von Philosophen häufig gestellt und behandelt worden sind (…) »Was ist«-Fragen sind immer in Gefahr, zu einem Verbalismus zu degenerieren – zur Diskussion über die Bedeutung von Worten oder Begriffen oder zur Diskussion über Definitionen. Aber im Gegensatz zu einem immer noch weitverbreiteten Glauben sind solche Diskussionen und Definitionsversuche nutzlos.“(2) So will ich nach Ludwig Wittgensteins berühmtem Satz „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ die Wesenheit des Geistes dahingestellt sein lassen … und dennoch nicht schweigen. Denn reden lässt sich vielleicht über Wirkungen und Erscheinungen des Geistes, darüber, wie er wahrgenommen werden kann. Wie ich dies meine, macht Ihnen sofort ein Beispiel aus der Physik klar, das uns ausnahmslos alle ebenso betrifft wie das Phänomen des Geistes: die Gravitation. Kein Naturwissenschaftler kann Ihnen sagen, was Gravitation eigentlich „ist„, ihrem Wesen nach ist. Aber ihre Wirkungen sind zu messen und zu spüren, sogar subjektiv sehr verschieden z.B. je nach Mahlzeit, Müdigkeit und Alkoholgenus. Und alle müssen wir mit ihr leben, solange wir nicht in Raumstationen verfrachtet worden sind, auch wenn wir uns ihrer nicht ständig bewusst sind. Gleichzeitig beherrscht Gravitation, von der wir nicht wissen, was sie „ist“, mit ihrer Wirkung das ganze Universum, so weit wir dies bis heute überblicken können, ja, sie ermöglicht dieses von uns beobachtete Universum überhaupt erst.

Meiner Meinung nach verhält es sich ganz ähnlich mit dem, was wir Geist nennen. Auch Geist (als Zusammenspiel – Betonung auf -spiel, das auch dem Zufall Raum gibt! – von Intelligenz, Kreativität, Gedächtnisleistung usw.) muss von allem Anfang an im ganzen „Sein“ (nicht nur im „Leben“) angelegt gewesen sein, sozusagen als Vorbedingung für alle Evolution, als Axiom der Möglichkeit jeder Entwicklung. Diese Aussage widerspricht keineswegs neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, ganz im Gegenteil!

Die Frage ist hier nur, wie weit man den Begriff des Lebendigen fasst. Der englische Physiker David Bohm und der französische Physiker J. E. Charon sind davon überzeugt, dass sogar Elektronen „leben“. Charon: „Das Elektron umschließt innerhalb seines Mikrouniversums einen Raum, der erstens Information zu speichern vermag, zweitens mit Hilfe einer Art von Erinnerungssystem diese Information in jeder Pulsperiode seines Zyklus wieder verfügbar machen kann und drittens die Fähigkeit besitzt, komplexe Operationen durch Kommunikation und Zusammenarbeit mit den anderen Elektronen des zu bildenden Systems zu steuern.“ – „Mein Denken ist das Denken meiner Elektronen, es herrscht also nicht bloß Analogie, sondern Identität.“(3) Der deutsche Physiker Hans-Peter Dürr sagt: „Elektronen beispielsweise entstehen unberechenbar und spontan. Aber sie entstehen nicht aus Nichts, sondern aus Etwas. Dieses Etwas drückt aber nichts Materielles aus. Potentialität, also Mögliches, verwandelt sich dann in Realität.“(4) Am Anfang steht also ein „Entwurf“, so etwas wie reine Information, Idee oder Prinzip als virtuelles Etwas, aus dem Realität erst „geboren“ wird. Gerade nach den revolutionären Erkenntnissen der Quantenphysik gemahnt uns Dürr, „die berechenbare, träge Materie nicht für das Fundament der Welt zu halten. (…) Das Geistige ist für mich fundamental, ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass es keine Materie gibt, sondern nur Geist.“(5) Der englische Astrophysiker James Jeans kommt zu dem Schluss: „Nimmt man die unterschiedlichen möglichen Beweisführungen zusammen, wird es immer wahrscheinlicher, dass Realität mit ‚geistig‘ treffender beschrieben wird als mit materiell (…), das Universum scheint einem großen Gedanken ähnlicher zu sein als einer großen Maschine.“(6) Ähnliche Zitate von Physikern lassen sich noch viele finden.

Zwischenbemerkung: Unwillkürlich fällt einem hier der Beginn des Johannes-Evangeliums ein: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. (…) Alle Dinge sind durch dasselbe geworden, und ohne dasselbe ist auch nicht eines geworden, das geworden ist.“ Die Theologen wissen hier sofort, dass das Wort, das im griechischen Urtext für „Wort“ steht, nämlich logos (?ó ?o?), auch zugleich Geist bzw. eine gewisse Form von Geist bedeutet, was die Sache eigentlich noch aussagekräftiger macht.

Lassen Sie mich für die Naturwissenschaft noch Hoimar von Ditfurth zitieren: „Die Funktionen, die wir als ,psychische‘ [und ,geistige‘] zu bezeichnen gewohnt sind, weil wir sie an uns selbst bewusst erleben, sind älter als alle Gehirne. Sie haben ihre Aufgabe in den unvorstellbar langen Zeiträumen, die der Entstehung von Gehirnen vorausgingen, auch ohne Bewusstsein erfüllt. Sie sind nicht das Produkt von Gehirnen. Das Gegenteil trifft zu: Wie alles andere, so konnten auch Gehirne von der Evolution nur deshalb schließlich hervorgebracht werden, weil die hier angesprochenen Funktionen die Evolution von allem Anfang an steuerten. (…) Unser Gehirn ist nicht die Quelle aller dieser Leistungen, es integrierte sie lediglich im Individuum. (…) Es ist eine triviale Feststellung, dass weitaus das meiste von dem, was die Evolution – ohne Bewusstsein und ohne Gehirn! – hervorzubringen in der Lage war, von uns trotz aller Anstrengungen erst zu einem winzigen Teil verstanden, geschweige denn nachgeahmt werden kann.“(7)

[Kurzer Hinweis auf die völlige Unzulänglichkeit unserer Sprache: Denken Sie doch einmal darüber nach, was das eigentlich heißen soll: „die Evolution hat hervorgebracht“!] Bei genauerem Hinsehen sind unsere technischen Leistungen Plagiate, Nachahmungen unerreichter Vorbilder in der Natur. Unsere Hybris gegenüber der Natur ist völlig unangebracht. Angemessener wäre hier Ehrfurcht vor allem Lebendigen, ja, vor allem Sein, das wir „Schöpfung“ nennen, die ihr Werk in jedem Augenblick, den wir als Gegenwart erleben, fortsetzt – nicht ohne uns als Mit-Schöpfer, die mit Verantwortung dafür tragen, wie diese Welt in ihren zukünftigen Augenblicken aussehen wird. Wir müssen uns klar darüber werden (jeder als Einzelner!), was wir wollen, dass es in der Welt sein soll; was uns wert ist, dass es Wirklichkeit werde. Beim Vollbringen mögen uns tausend Hindernisse entschuldigen, für das Wollen tragen wir als Einzelne die uneingeschränkte Verantwortung. Nicht alles, was ich will, ist realisierbar, aber nur im Kraftfeld des Wollens ergreife ich mit ganzer Seele das Mögliche und lasse es, soweit es nur irgend geht, Realität werden. Mit anderen Worten: Wo die Kraft fehlt, gegen das unmöglich Erscheinende anzuwollen, wird nicht einmal das Mögliche erreicht. Resignation ist hier zugleich Ursache und Folge. Dies gehört nicht mehr in den Bereich der Naturwissenschaft, ist aber letztlich viel wichtiger als diese.

Zurück zur Natur: Wir finden die Welt (und uns selbst als Selbst) schon (funktions)fertig vor und versuchen mühsam, sie mittels unseres Verstandes zu verstehen, zu interpretieren und zu imitieren. So verwies der Hirnforscher Ernst Pöppel kürzlich in einem Vortrag der Tele-Akademie des Südwestfunks nachdrücklich auf die Tatsache, dass nicht der Computer das Modell für unser Gehirn abgibt, sondern genau umgekehrt unser Gehirn das unerreichte Modell für den Computer darstellt.

Die Vernunft vernimmt darüber hinaus mehr: Sie erkennt die Grenzen des Verstandes und erahnt ein Umgreifendes, ohne das all unser partielles Wissen sozusagen in der Luft hängen würde. Das große Ereignis der menschlichen Vernunft ist, dass hier der lebendige und Leben schaffende Geist zum Bewusstsein seiner selbst kommt und wirkt, nicht aber eigentlich hervorgebracht wird. Bewusstsein ist so etwas wie der Widerschein des Geistes, der uns erhellend Denken und Fühlen in der kalten Nacht des bloßen Seins überhaupt erst ermöglicht.

Auch führende Hirnforscher (wie z.B. John C. Eccles) stellen die Frage, ob das Gehirn den Geist oder der Geist sich das Gehirn geschaffen hat. Dabei wäre dann das Gehirn so etwas wie ein „Empfangsgerät“. Ein Beispiel, das klar werden lässt, was damit gemeint ist: Das Auge bringt ja auch nicht das Licht hervor, das es sieht, auch wenn wir hier ichbezogen vom „Augenlicht“ sprechen (allerdings wird das Licht mit all seinen Farbwirkungen erst dadurch zur subjektiven Realität, dass es auf unserer Netzhaut Impulse auslöst, die im Gehirn verarbeitet werden). Vielmehr hat das Licht das Auge „provoziert“, hervorgerufen. Denken Sie an Goethes Wort: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken?“(8) [Nachdem ich diese Sätze geschrieben hatte, fand ich bei der Zitatquellensuche an gleicher Stelle bei Goethe noch die folgenden ähnlichen Aussagen: „Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus gleichgültigen tierischen Hülfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor (…) Jene unmittelbare Verwandtschaft des Lichtes und des Auges wird niemand leugnen; aber sich beide zugleich als eins und dasselbe zu denken, hat mehr Schwierigkeit. Indessen wird es fasslicher, wenn man behauptet, im Auge wohne ein ruhendes Licht, das bei der mindesten Veranlassung von innen oder von außen erregt werde.“ Diese intuitive Sicht Goethes erfährt eine erstaunlich parallele Sichtweise in der Wheeler-Feynman-Absorber-Theorie in der Quantenphysik. Nach dieser erregen im Auge auftreffende Lichtquanten dort Elektronen in Resonanzstrukturen, und dabei werden von diesen Elektronen auch aus dem Auge heraus „Angebotswellen“ und „Bestätigungswellen“ zur Lichtquelle gesendet.] Wir alle wissen, dass die Augen nur einen kleinen Ausschnitt des gesamten Lichtspektrums wahrnehmen können (und dieser Ausschnitt ist bei verschiedenen Lebewesen verschieden gelagert). Ebenso dürfte sich in unserem Gehirn, dem Wahrnehmungsorgan für Geist, nur ein kleiner Ausschnitt des im Kosmos wirkenden Geistes widerspiegeln. Gerade auch unsere Naturwissenschaft erfasst ja nicht die Natur, sondern eben nur, was wir von ihr wissen. Solange sich unsere Gehirne nicht weiterentwickeln, wird uns wohl verborgen bleiben, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die höchste Erkenntnis ist hier zu wissen, dass wir nichts wissen (können!).

Diese sokratische Einsicht ist nicht neu. Nikolaus von Kues (1401-1464) sagt in seiner Docta ignorantia: „Nichts Vollkommeneres kann dem Menschen, auch dem Gelehrtesten in seiner Wissensweise (doctrina) geschehen, als dass er im Nichtwissen selber, das ihm eigen ist, als der Wissendste gefunden werde; und um so wissender (doctior) wird er sein, je mehr er sich als den Nichtwissenden (ignorantem) wissen wird.“(9) Und nochmals Goethe: „Derjenige, der sich mit Einsicht für beschränkt erklärt, ist der Vollkommenheit am nächsten.“(10) Bis heute hat sich daran trotz der ungeheuren Wissensflut aller Wissenschaften nichts geändert: Je mehr wir wissen, desto größer werden unsere Fragen.

Ob dies auch für den sich in uns offenbarenden ethischen Geist gilt, diese Problematik möchte ich zwar ansprechen, aber hier dahingestellt sein lassen. Dazu wäre ja auch einiges von Schweitzers Philosophie her zu sagen. Als eine Möglichkeit, den Dualismus zu überwinden, möchte ich als offene Frage in den Raum stellen, ob nicht auch der Geist, der sich in uns als ethischer offenbart, sich letztlich doch als höchste Zweckmäßigkeit im Geist des Weltganzen erweist, wenn wir einmal unsere kurzsichtige anthropozentrische Sichtweise aufzugeben bereit sind und zu kosmischem Bewusstsein gelangen. Oder zeigt sich in solchen Aussagen nicht bloß unsere Sehnsucht nach Sinn, die uns zu Projektionen aufs unmittelbar nicht erfahrbare Weltganze (Makro- wie Mikrokosmos) treibt, damit wir den unerträglichen Gedanken verdrängen, vielleicht doch nur „Zigeuner am Rande des Universums“ zu sein, das für unsere Musik taub ist und gleichgültig gegen unsere Hoffnungen, Leiden und Verbrechen, wie der französische Biochemiker Jacques Monod 1970 in „Zufall und Notwendigkeit“ schrieb?

Muss uns nicht jede Zweckmäßigkeit im Geist des Weltganzen verborgen bleiben? Oder ist das, was wir damit benennen, gar nichts statisch Festgelegtes und wir wirken unbewusst in jedem Augenblick unseres Seins – positiv wie negativ – an deren inhaltlicher Bestimmung mit? Dann wären wir Mit-Schöpfer und Mit-Zerstörer zugleich, und in unserem Wollen würden sich Außen- und Innenansicht der Welt (Welt- und Lebensanschauung) berühren und wechselseitig Realität mitbestimmen. Unser Wollen als Feld von Potentialitäten, deren Realwerdung mitentscheidet (nicht entscheidet!), wohin die Reise geht?! Also doch Teleologie in dem Sinne, dass das Ziel sich auf und durch den Weg erst ergibt?!

Wieder ist es die Quantenphysik, die diesen Ansatz unterstützt. Während eines Seminars in Princeton bei John Wheeler sagte Einstein: „Wenn eine Maus das Weltall anschaut, ändert das den Zustand des Weltalls.“(11) G. S. Chew (Leiter Institute Physik, Berkeley-Laboratorien, Universität Californien): „Alles im Universum ist verbunden mit allem anderen in einem totalen Gewebe wechselseitiger Wirkungen.“(12) Ilya Prigogine (belgischer Chemiker und Nobelpreisträger): „Erstaunlich ist, dass jedes Molekül weiß, was die anderen Moleküle zur selben Zeit und über makroskopische Entfernungen hinweg tun werden.“(13) Und nochmals Hans-Peter Dürr (Direktor des Max-Planck-Institutes für Physik und Astrophysik in München): „Was im nächsten Moment passiert, ist aber gar nicht eindeutig festgelegt, weil es aus dem Zusammenspiel von allem entsteht, was es gibt. (…) Was hier abläuft, ist vielmehr ein Zusammenspiel von allem, was das Universum eigentlich ausmacht. Und deshalb kommt man in der Quantenmechanik zu der Vorstellung, dass die Welt eigentlich immer ein Ganzes ist.“(14)

Ebenso wie Gravitation lässt sich Geist nicht herausfiltern oder in der Art wie ein chemisches Element in einer Substanz nachweisen. Auch nicht in der Musik. Geist im menschlichen Bereich ereignet sich im Vollzug, im Hören, in der Kommunikation … oder er ereignet sich eben nicht, bleibt aus. Dies ist ein Unterschied zur Gravitation: Der Geist, der in uns wirkt und zum Bewusstsein kommt, ist nicht verfügbar, nicht zu zwingen. Er schenkt sich sozusagen selbst … oder auch nicht. So ist z.B. die Epiklese, die Herabflehung des Heiligen Geistes in der Eucharistie, ein Akt der Demut: Man muss sich öffnen und um ihn bitten, er lässt sich eben auch nicht durch eine magische Zauberhandlung oder -formel herbeizwingen.

Sie alle kennen das geflügelte Wort: „Der Geist weht [wörtlich ,geistet‘], wo er will.“ Es findet sich bei Johannes 3, 8. Für Geist steht hier auch manchmal „Wind“, was übersetzungsbedingt ist. Im Urtext finden wir hier das griechische Wort pneuma (??????), das beides bedeuten kann, was sehr bezeichnend ist. [Der Wissenschaftstheoretiker Max Jammer hat gezeigt, dass der physikalische Feldbegriff eine Formalisierung der Grundvorstellung des antiken Pneuma ist.] Auch im Hebräischen hat das Wort RUACH zumindest zwei Bedeutungen: Wind und Geist. So übersetzt Martin Buber den bekannten Anfang des Schöpfungsberichtes Gen. 1, 2: „Finsternis lag über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser.“ (Statt: „… der Geist Gottes schwebte über den Wassern.“). Ein Wort für Geist und Wind: Wie der Wind, ein flüchtiges Element, weht der Geist, wo er will. Man sieht ihn nicht, man fasst ihn nicht bei allem Haschen nach Wind, aber man spürt seine Wirkung, ohne sein „Wesen“ zu kennen.

Auch die Luft, die das Gebläse in die Orgel bläst, nennt man in der Fachsprache „Wind“. Die Orgel ist ihrem Wesen nach wörtlich ein „pneumatisches“ Instrument. Diejenige Trakturart, die mittels Luft die Kraftübertragung von der Taste zum Pfeifenventil besorgt, heißt im Fachjargon „Pneumatik“. (Sie ist allerdings trotz des „geistvollen“ Namens vom künstlerischen Standpunkt her nicht zu empfehlen.)

Die Musik selbst ist dem Geist verwandt. Sie breitet sich aus als Tonwelle in der Luft (Wind). Sie ist unsichtbar und als eine Zeitkunst flüchtig. Man erfährt aber ihre Wirkung, wenn man dafür offen und empfänglich ist. Nur dann schenkt auch sie sich selbst als geistige Offenbarung. So kann beim Musikhören der Augenblick scheinbar verweilen und subjektiv der Zeitfluss bis zum Stillstand verformt werden.

Derjenige, der Musik komponiert, sollte „inspiriert“ sein. Ebenso der, der sie vermittelt, interpretiert, sonst kann er sie nicht zum Leben erwecken. „Inspiration“: das bedeutet wörtlich „Einhauchung“, inspirare heißt atmen (diesen Zusammenhang sollte man sich als Interpret, der auf Inspiration hofft, immer bewusst machen!). Auch hier also das Bild von „Hauch“, „Atem“, was ja auch eine Form von „Wind“ ist. Wieder muss man an die Schöpfungsgeschichte denken: „Da bildete Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Ackerboden und hauchte ihm Lebensodem in die Nase; so war der Mensch ein lebendes Wesen.“ (Gen. 1, 7) Der Geist wird hier als das Verlebendigende, Lebendigmachende schlechthin verstanden. Umgekehrt: Wenn wir sterben, hauchen wir den Geist wieder aus. Hierzu fällt mir ein Ausspruch des bereits erwähnten Kernphysikers Hans-Peter Dürr ein: „Was der Theologe ‚Atem Gottes‘ nennt, ergänzt sich im Prinzip mit einer Grundstruktur, die auch in der naturwissenschaftlichen Beschreibung auftritt. Für die Quantenphysik gibt es eine immaterielle Grundstruktur. Meiner Auffassung nach gibt es das Immaterielle in der Gegensetzung zum Materiellen gar nicht. Denn alles ist sozusagen ‚Atem Gottes‘. Man könnte das Materielle so beschreiben, dass Teile dieses Atems anfangen zu erstarren und so das Unbelebte bilden. Aber das Wesentliche ist immer das, was ‚Atem‘ genannt wird.“(15)

Gerade bei der Inspiration zeigt sich auch eine schöpferische „Nachtseite des Geistes“. Damit spreche ich seelische Bereiche und psychologische Dimensionen an, die vor dem Einsetzen der Logik oder des Bewusstseins eine Rolle spielen. Dort finden wir im Dunkeln Quellen, die neben denen der Rationalität existieren und vor ihnen in uns sprudeln. Sie spielen in der Kunst eine große Rolle, aber auch bei der Erkenntnisgewinnung in den, ach, so nüchternen und rationalen Naturwissenschaften, wie sich durch viele Beispiele belegen ließe. Schöpferische Prozesse kommen dem Schaffenden nicht immer voll zum Bewusstsein. Er ist dann nicht der Macher, sondern der Empfangende, der weitergibt. Oft können Sie die Erfahrung machen, dass, wenn Sie einen Künstler nach der „Bedeutung“ seines Werkes fragen, Sie bald wünschten, dass er wieder schwiege, sobald er den Mund aufmacht. Er hat ja als Medium seiner Sprache sein Kunstwerk gewählt, das für sich selbst sprechen soll. In der Musik könnte man mit Jesus sagen: „Wer Ohren hat zu hören, der höre.“ Basta! Das Kunstwerk (wie auch das Gleichnis) legt sich selbst aus, spricht für sich … oder gar nicht. Auf banalerer Ebene: Ein erklärter Witz ist kein Witz mehr.

Wenn ich nachher für Sie spiele, spielen sich dabei geistig-seelische Prozesse ab (man beobachte die Formulierung!), die ich mittels meiner Hände und Füße „ins Werk setzen“ muss. Aber diese komplizierten Abläufe steuere ich nicht mehr nur bewusst. Ja, ein Zuviel an bewusster Aufmerksamkeit würde geradezu störend wirken. Der Seiltänzer stürzt ab, wenn er denkt; der Tausendfüßler kann dann nicht mehr gehen.

Geist ist also mehr als Bewusstsein, Rationalität und Intelligenz. Ein „geistvoller“ Mensch ist eben kein trockener Rationalist, er ist ein Mensch mit Esprit, und „esprit“ heißt im Französischen auch „Witz“.

Das deutsche Wort Geist hat indogermanische Wurzeln und bedeutet im Gotischen und Westgermanischen Erregung, Ekstase. Jemand, der „vor Geist sprüht“, ist in einer gehobenen Verfassung. Be-geisterung spielt hier eine Rolle. Denken wir an das Pfingstereignis (auch hier ist die Rede von Brausen und gewaltigem Wind). Die Ekstase war so groß, dass einige über die vom Geist Ergriffenen spotteten: „Sie sind voll des süßen Weines.“ [Nicht umsonst spricht man ja auch von „Spirituosen“.] Das Wirken des Geistes an Pfingsten war kommunikationsfördernd. Sprachbarrieren wurden überwunden. Das Gegenstück hierzu ist die babylonische Sprachverwirrung.

Exkurs: „im Geiste von“ bei Albert Schweitzer

Etwas nicht wie, sondern „im Geiste von“ jemandem tun, spielt bei Albert Schweitzer eine große Rolle. Im Geiste Jesu handeln, im Geiste Silbermanns eine Orgel restaurieren oder konzipieren, im Geiste Bachs eines seiner Werke interpretieren.

Was er damit meint, scheint mir am deutlichsten zu werden in seinem Buch „Die Mystik des Apostels Paulus“. Nicht umsonst nennt er Paulus den „Schutzheiligen des Denkens“, womit er das eigene schöpferische Denken meint, das selbstbewusst neben historische Autoritäten tritt. Nach Schweitzer (und nicht nur nach Schweitzer!) ist für Paulus nicht der Jesus „im Fleische“ und dessen zu seinen Lebzeiten vorgetragene Lehre Quelle der Erkenntnis und Basis seiner Autorität, sondern der gestorbene und auferstandene Christus, der sich ihm „im Geiste“ offenbart. „Was ihm durch den Geist Christi offenbar wird, gilt ihm als ein von Christo empfangenes Wort.“ (S. 170) „Wären wir nur auf ihn angewiesen, wüssten wir nicht, dass Jesus Gleichnisse geredet, die Bergpredigt gehalten und die Seinen das Vaterunser gelehrt hat.“ ((171) „Weil er die Konsequenzen aus der veränderten Weltzeit zieht [gemeint ist die Parusieverzögerung], kommt Paulus in die Lage, in der Lehre schöpferisch neben Jesus auftreten zu müssen. (…) Er fällt nicht von ihm ab, sondern setzt seine Verkündigung in sinngemäßer Weise fort.“ (115) Dies geht ziemlich weit: Laut Schweitzer „gelangt Paulus (…) zu Behauptungen, die Jesus fern lagen.“ (116) Dies besagt, dass Paulus „denkerisch“ und nicht historisch-wissenschaftlich mit seinem Stoff umgeht: Der Geist ist’s, der da lebendig macht und nicht der tote Buchstabe der Überlieferung. Bei Pinchas Lapide lesen wir dazu: „Von den 82 Zitaten, die Paulus aus seiner hebräischen Bibel bringt, stimmen 30 mit der Septuaginta-Übersetzung überein; 36 weichen beträchtlich von ihr ab; 12 Zitate weisen wesentliche Sinnveränderungen auf; der Rest besteht aus äußerst freien Paraphrasierungen, die kaum dem Sinn, geschweige denn dem Wortlaut des Originals entsprechen. Für sie gilt wohl das Pauluswort: ‚Alle sind sie abgewichen‘ (Röm. 3, 12).“(16) Der katholische Theologe Joseph Blank bemerkt hierzu: „Würde ein heutiger Experte mit der Schrift so umzugehen wagen wie Paulus mit dem AT, dann wäre er wahrscheinlich wissenschaftlich und kirchlich erledigt.“(17)

Auch Schweitzer ist nur sekundär an historischer Authentizität interessiert. In seinen Jugenderinnerungen finden wir die Geschichte vom Juden Mausche, der von der Dorfjugend verhöhnt wird und dabei freundlich und gelassen bleibt. Dazu Schweitzer: „Es ging das Gerücht, er sei ein Wucherer und Güterzerstückler. Ich habe es nie nachgeprüft. Für mich ist er der Mausche mit dem verzeihenden Lächeln geblieben, der mich noch heute zur Geduld zwingt, wo ich zürnen und toben möchte.“(18) Mausche löste etwas aus, das eine geistige Kraft in Schweitzer wurde. Der „historische“ Mausche, der Mausche „im Fleisch“, war für Schweitzer weniger wichtig und hat nie erfahren, was er für ihn bedeutete.

Über seinen Umgang mit historischen Persönlichkeiten äußert sich Schweitzer an anderer Stelle: „Keine Persönlichkeit der Vergangenheit kann durch geschichtliche Betrachtungen oder durch Erwägungen über ihre autoritative Bedeutung lebendig in die Gegenwart hineingestellt werden. Eine Beziehung zu ihr gewinnen wir erst, wenn wir in der Erkenntnis eines gemeinsamen Wollens mit ihr zusammengeführt werden, eine Klärung, Bereicherung und Belebung unseres Willens in dem ihrigen erfahren und uns selbst in ihr wiederfinden.“(19)

Auch beim Predigthören ist für Schweitzer nicht das genaue Verstehen des Gesagten, sondern das, was dadurch ausgelöst wird, das Entscheidende: „Die Predigt ist eine Melodie, die in einer Seele eine neue Melodie weckt, die nun selbständig erklingt [Resonanz!]. Was du für dich denkst bei der Predigt, was du in deinem Innern dir selbst predigst, das ist die Hauptsache.“(20)

Wenn Schweitzer von der „Restaurierung“ einer schönen alten Orgel redet, hat dieser Begriff nichts mit dem zu tun, was wir heute darunter verstehen. Bedenkenlos lässt er ändern und ergänzen: So erhielt zum Beispiel die aus dem 17. Jahrhundert stammende Schnitger-Orgel in St Jakobi in Hamburg auf sein Anraten einen Schwellkasten, der erst im 19. Jahrhundert aufkam und den Schweitzer sehr schätzte. In den vergangenen Jahren wurde diese Orgel dann nach dem heutigen Verständnis von Restaurierung für einige Millionen DM in den „Urzustand“ zurückgeführt, in dem sie seit ihrer Erbauung nie mehr war. Harald Schützeichel hat es treffend gesagt: „…unter einer idealen ‚Bach-Orgel‘ versteht Schweitzer weder ein Instrument, das so gebaut ist wie die Orgeln zur Zeit Bachs, noch eines, das Bach selbst für seine Werke als Vorbild vorschwebte, sondern allein jenes Instrument, auf dem Bachs Werke in der von Schweitzer als ideal empfundenen Weise gespielt werden können.“(21)

Damit glaubt Schweitzer „im Geiste Bachs“, der ihm ein „Prophet im Geiste“ ist, zu handeln, wie folgendes Zitat belegt: „(…) wie froh wäre Bach gewesen, wenn er auf seinem dritten Klavier das piano durch Abdämpfen der Stimmen, wie solches durch den Jalousieschweller möglich ist, noch weiter hätte fortführen können! Wer dieses Mittel im großen (…) Zwischen-[teil] der a-moll-Fuge nicht anwendet (…), versündigt sich geradezu an Bach.“(22) An historischen Aufführungspraktiken war Schweitzer wenig interessiert, obwohl er mehr Kenntnisse davon hatte, als man manchmal annimmt [wäre eine eigene Untersuchung wert]. Er und Widor verstanden sich als Erben der „authentischen Bach-Tradition“ (über Hesse, Lemmens usw.). Dieses Bewusstsein war ihnen nicht der Ausgangspunkt, zurück zu Bach zu gehen, sondern von da aus in unsere Zeit. Sie fühlten sich sozusagen berufen, „Testamentvollstrecker im Geiste Bachs“ zu sein, und zwar weniger im historischen als vielmehr im ästhetischen Sinn. – Schweitzer wollte Bach nicht wie Bach spielen (was auch kaum möglich ist), sondern so, wie er Bach im Innern erlebte, und dies nennt er „im Geiste Bachs“. So wird Bach durch ihn, Schweitzer, lebendig für die Gegenwart.

Sehr aufschlussreich ist ein Satz Schweitzers in einer Vorstudie zu „Zur Diskussion über Orgelbau“: „So tritt jeder Organist sich selbst überlassen für das Instrument ein, dessen Idee in ihm liegt und dem Wesen seiner künstlerischen Persönlichkeit entspricht.“(23) Klugerweise hat Schweitzer diesen Satz nicht in die Druckfassung übernommen, auch wenn (oder gerade weil) er sehr Wahres aussagt, auch über ihn selbst. Zu entlarvend für die eigentliche Basis seines künstlerischen Handelns wäre er gewesen. Auch wollte er die anderen keineswegs „sich selbst überlassen“, sondern an die Hand nehmen und nicht selten gängeln [hier gibt es Gegenbeispiele, aber auch genügend Beispiele]. Denn er wusste, wo es nach seiner Meinung lang gehen sollte. Etwas weniger positiv könnte man das „im Geiste von“ auch als Deckmantel zur Verschleierung der ureigenen Absichten und als deren historischen Legitimierungsversuch interpretieren, nachdem paradoxerweise Schweitzer gerade eben noch die Bezugsperson als rein historische Autorität zu demontieren versucht hatte.

Alles Epigonenhafte, archaistische Tendenzen und Historizismus lehnte Schweitzer ab. Nicht um die Wiederbelebung oder gar Nachahmung historischer Ideale ging es ihm, sondern um die Schaffung neuer Ideale für seine Zeit, durch eigenschöpferisches geistiges Ringen aus der Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft gewonnen. Persönlichkeiten der Vergangenheit dienen ihm hierbei nur als Katalysatoren, nicht als zu kopierende Vorbilder. Der Glaube an die schöpferische Kraft des eigenen Geistes gibt ihm den Mut, selbständig neben historische Größe zu treten und den Faden der Geschichte in der Gegenwart weiterzuspinnen. Das heißt für ihn handeln „im Geiste von…“. Dies ermöglicht ihm, schöpferisch zu sein bei gleichzeitiger Wahrung des geschichtlichen Kontinuums.

So weit unser Exkurs zu Albert Schweitzer

Weiter vorn sagte ich: Geist im menschlichen Bereich ereignet sich im Vollzug, im Hören, in der Kommunikation. Dies lässt sich am Beispiel der Musik besonders gut verdeutlichen. Ein Musikstück entsteht im Kopf des Komponisten, der einen Einfall, eine Inspiration fühlend erlebt und denkend durchkonstruiert. Um es mitzuteilen und reproduzierbar zu machen, muss er es zu Papier bringen. Hierbei materialisieren sich sozusagen seine musikalischen Gedanken in einer Substanz (Bleistift, Tinte, Druckerschwärze) auf Papier. Die Anordnung dieser Substanz geschieht nach einem Code, den der Kundige wieder entschlüsseln und zu Musik werden lassen kann (der sehr Kundige kann dies sogar ohne instrumentale Hilfsmittel, rein als Vorstellung in seinem Kopf). Damit ist bereits über Raum und Zeit hinweg eine Beziehung zum Komponisten hergestellt.

Der Interpret wird beim Entschlüsseln des Codes (der Noten) veranlasst, gewisse Körperteile so in feinmotorische Bewegung zu versetzen, dass durch ein Instrument (bei Sängern der Mensch selbst) die Luft in entsprechende Tonschwingungen versetzt wird. Diese immateriellen Schallwellen lösen in unserem Gehör Reaktionen aus, die wiederum eine codierte Botschaft enthalten. Je nach Musikalität ist unser Gehirn dann in der Lage, den Code zu knacken und ein musikalisches Erlebnis daraus entstehen zu lassen, das etwas von dem vermitteln soll, was sich der Komponist vorgestellt hat. Dem Interpreten als Vermittler kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Bereits bei ihm müssen „Hirn“ und „Herz“ mitschwingen, wenn beim Hörer eine Resonanz in Geist und Seele geweckt werden soll, und das ist doch das Wesentliche bei dem ganzen Vorgang!

Heute können wir den Tonschwingungen, die ein Musikstück bilden, quasi „einfrieren“ auf Tonträgern … und sie beliebig oft wieder „auftauen“. Was beim Live-Erlebnis noch als hinreißender Affekt einmalig wahrgenommen wurde, kann beim x-ten Hören aus der Konserve leicht zum lästigen Effekt verkommen (vielleicht müssen Studio-Aufnahmen deshalb oft so steril, „nur richtig“ sein!?). Durch Aufnahmetechnik können auch bewusst Effekte erzielt werden, die live nicht möglich wären. Aber nichts darf uns darüber hinwegtäuschen, dass eine noch so perfekte Tontechnik nichts an der geistigen Substanz einer Komposition oder Interpretation ändern kann.

Betrachten wir nun, was an unserem Musikstück wirklich materiell „greifbar“, gegenständlich ist. Etwa die Druckerschwärze auf dem Papier oder die Rille auf der Schallplatte. Wenn wir nun die Druckerschwärze einer chemischen Analyse unterziehen und die Rille mit Lupe und Mikroskop studieren, alles exakt wissenschaftlich, glauben Sie, dass wir uns dann dem Verständnis der Musik, was sie uns sagen will (also dem eigentlich Wesentlichen!) nähern? Schon die Druckerschwärze an sich ist ja gar nicht wichtig, es ist ihre Anordnung, ihre Verteilung auf dem Papier, ihre Struktur als Code. Bei der Rille ist es ähnlich. – Gleiches gilt entsprechend für andere Bereiche, z.B. auch für diesen Vortrag.

Das rein Materielle ist also nur so etwas wie Transportmittel für das Geistige, das sich als ästhetisches Erlebnis, als Betroffenheit in mir manifestiert. Dies ereignet sich aber nur, wenn ich mich öffne und auf Kommunikation mit dem Interpreten und Komponisten durch das Medium Musik einlasse. Anders als im ganzheitlichen Vollzug, im Hören, ist dies überhaupt nicht möglich.

Dass „Geist“ nicht nur, aber auch in zeitgenössischer Musik zu finden ist, das wollen wir uns nun erlebend vergegenwärtigen. Etwas so Flüchtiges wie Geist braucht ein „Gefäß'“, um sich darin zu sammeln. Ein solches Gefäß kann Musik – auch die moderne – sein. Ich wollte zunächst alles Einengende wegräumen und allgemein einen Horizont öffnen, der vielleicht empfänglicher macht auch für den Geist in der Musik und besonders der zeitgenössischen, denn diese braucht kosmische Offenheit. Sie ist Aufbruch aus Gewohntem in neue Sphären.

Ein Mensch, der gerne Musik hört und „weiter nichts davon versteht“, erlebt bereits ein ästhetisches Verstehen im Ursinn des griechischen Wortes aisthanomai (??????????) = sinnlich wahrnehmen. Diese ästhetische Wahrnehmung hat jedoch ihre Vorbedingungen in der Geschichte, im Kulturkreis, in der sozialen Umgebung, in der wir aufwachsen, und nicht zuletzt auch im Ich-Verständnis der einzelnen Person. Schon daher ist es barer Unsinn anzunehmen, dass ein harmonischer Dreiklang per Naturgesetz die Harmonie der göttlichen Schöpfungsordnung oder gar noch die Trinität persönlich darstellt. Ein Merkmal zeitgenössischer Musik ist oft gerade die Emanzipation der Dissonanz, und diese kann einen ebenso großen ästhetischen Reiz haben wie eine Konsonanz. Bei traditioneller Musik hören wir innerlich sozusagen schon voraus, und je mehr unsere Hörerwartung erfüllt wird, desto heiler erscheint uns die musikalische Welt, in die man sich flüchten kann. Je mehr eine Musik dieses Heile-Welt-Bedürfnis erfüllt, desto mehr ist sie eigentlich eine Musik zum Weghören statt zum Hinhören: Unterhaltungsmusik, Backgroundmusik. Die zeitgenössische Musik zwingt dagegen zum Hinhören – oder zum Abschalten, weil sie stört, da unsere unbewusste Hörerwartung ständig enttäuscht wird, und das ist’s, was wehtut. Dabei hatte ja auch die ältere Musik für ihre Zeitgenossen solche „Härten“ (über einige Streichquartette von Mozart hieß es, man müsse mit Eisen gepanzerte Ohren haben, um sie zu ertragen!). Wenn wir in dieser Musik heute fälschlich eine Idylle erleben, liegt dies an unseren heutigen Ohren, die inzwischen eine ganz andere Hörerfahrung durchgemacht haben und das Ungeheure dieser Musik gar nicht mehr als ungeheuer empfinden.

Der Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht schreibt in seinem großartigen letzten Buch „Musik im Abendland“: „Tatsächlich lässt sich die ästhetische Schönheit und Größe von Musik nicht (oder nur sehr begrenzt) durch beschreibende und erklärende Sprache plausibel machen: Die Musik will und kann das nur durch sich selber tun. Und selbst wenn wir auf dem ästhetischen Weg erfahren haben, dass Musik schön und groß ist, lässt sich dasjenige, was ihre Schönheit und Größe ausmacht, nicht sprachbegrifflich erfassen und beweisen: Wann immer wir über sie sprechen, schreiben und lesen, indem wir analysierend und deutend zu verstehen suchen, wie sie gemacht ist und was sie ausdrückt, setzen wir ihren durch Erfahrung gewonnenen ästhetischen Wert voraus.“ (S. 720 f.) Auf einem Seminar in Karlsruhe sagte Eggebrecht einmal nach dem Anhören von Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“: „Wenn Sie die Schönheit einer zeitgenössischen Komposition nicht wahrnehmen, dann liegt das nicht an der Musik, sondern an Ihnen!“ So gibt es auch nur eine Möglichkeit, moderne Musik zu verstehen: durch die Erfahrung, die Eingewöhnung (Vorsicht: man gewöhnt sich an alles!), eben durch Zuhören, also im Vollzug, auch wenn selbst Eggebrecht zugesteht, dass man die ästhetische Erfahrung animieren und fördern, das ästhetische Verstehen vertiefen und bereichern kann durch erkennendes Verstehen, Bedenken, Beschreiben und Erklären von Musik. Dies will ich nun noch versuchen.

Musikbeispiele vom Tonband zum Programm meines Orgelkonzertes

Alle Musikbeispiele haben etwas gemeinsam, das Ihnen den Zugang erheblich erleichtert: Den Zellkern bilden bekannte (und hoffentlich auch vertraute) Choralmelodien, um die herum sich Neues kristallisiert. Es sind die uralten Hymnen zu Advent und Pfingsten, „Nun komm, der Heiden Heiland“ und „Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist“ (die auch inhaltlich zu unserem Thema passt), sowie der alte Passionschoral „O Haupt voll Blut und Wunden“ (gleich zweimal unter Einbeziehung des Bachschen Choralsatzes). Ich führe Sie gleichsam auf den Trampelpfaden der (Hör-)Gewohnheit durch eine vertraute Welt, die Sie aber in neuer Beleuchtung plötzlich ganz anders, intensiver, wie am ersten Tag erleben. Sie müssen hinhören und staunen wie ein Kind! Immer wieder aufs neue müssen wir uns die Welt unvertraut werden lassen, innerlich „leer“ werden für Neues, damit wir nicht verkrusten und erstarren in Gewohntem, damit wir lebendig und offen bleiben für neue kreative Perspektiven, unter denen sich die alte Welt täglich neu schenkt. Dafür trägt auch die moderne Musik eine große Verantwortung – sie ist mitverantwortlich für den geistigen Zustand der Welt, wie überhaupt die Musikpflege mindestens so wichtig ist wie Hege und Pflege der Natur. Beide, Musik und Natur, bedürfen unseres Schutzes.

Gerade auch die Kirchenmusik sollte ihre Verantwortung erkennen und mithelfen, kirchliche Strukturen, in denen sich auch gerne engstirnige Spießer- und Funktionärsmentalität einnisten, aufzubrechen und vor geistiger Verfilzung, Verkrustung und Verarmung bewahren zu helfen, damit auch in der Kirche die Rede vom Heiligen Geist als Schöpfer nicht zur hohlen Phrase verkommt. Das geschieht aber ganz gewiss nicht, indem die Kirche ihren unermesslichen Reichtum an musikalischen Kulturgütern (einschließlich der Moderne) leichtfertig preisgibt und diesen, sich anbiedernd, gegen etwa trivialen Sacropop eintauscht, bzw. gegen seichte Gebrauchsmusik oder nichtssagende Background-Weghörmusik, die den einzigen Vorteil hat, nicht zu „stören“. Dieser „Vorteil“ erweist sich als der größte Nachteil, nimmt man Kirchenmusik auch als Verkündigung ernst: Verkündigung, die nicht „Unerhörtes“ zur Sprache bringt, drischt leeres Stroh. [Analog: Wer in den ersten Nachkriegsjahrzehnten des Wirtschaftswunders seine soliden handwerklichen Möbel verheizte und durch damals moderne Sperrholz- und Pressspanfabrikware ersetzte, die das solide Handwerk ruinierte, der handelte zwar angepasst, up-to-date, aber sicherlich nicht wirklich weitblickend fortschrittlich. Als man sich schließlich des Verlustes bewusst wurde, setzte eine nostalgische Jagd nach Antiquitäten ein, die erneut alle Kreativität erstickte.] – Auch in dieser Hinsicht will meine Auswahl der Musikstücke ein Zeichen setzen: Altes Liedgut wird hier weder verherrlicht noch abgeschafft, sondern in Zeitgenössisches integriert und damit aktualisiert.

Nach Hans Heinrich Eggebrecht teile ich die folgende Betrachtung ein in ästhetisches Bedeuten (unmittelbar verständliche rein musikalische Aussage) und in symbolisches Meinen (verabredete Symbolik, die man wissen muss, um sie zu erkennen und zu verstehen).

  1. Partita „Komm, Gott Schöpfer, Hl. Geist“ (Rainer Noll gewidmet) von Dick Troost, geb. 1949 in Marknesse/Holland. Nach dem Studium an der Musikhochschule in Utrecht wirkte er als Dozent für musiktheoretische Fächer an der Musikhochschule in Tilburg (Nord-Brabant) sowie als Kantor und Organist der Evang.-Luth. Kirche in Den Haag. Zurzeit ist er Dozent an der Stichting Musikschule in Ede und Kantor der dortigen Lutherischen Kirche. Preisträger verschiedener Orgelimprovisations- und Kompositionswettbewerbe. Bekannt durch Konzerte, Rundfunk-, Fernseh- und Schallplattenaufnahmen in vielen Ländern.
    Aufnahme: Schallplatteneinspielung durch den Komponisten in der Luth. Kirche in Den Haag.

    Ästhetisches Bedeuten symbolisches Meinen
    „schwebender“ Charakter (bes. Var. 4) 5 – Zahl (für pentêkostê, gr. = der 50. ? Pfingsten):
    5 Variationen
    Quintparallelen
    1. Var.: alle 12 Halbtöne kommen vor
    2. Var.: 5/8-Takt (gegen 3/8 im cantus firmus!)
    3. Var.: fünfstimmig
    Kanon in der kleinen Unterterz zwingt zu Veränderungen der Melodie
    „Brausen“ 5. Var.: Satzbezeichnung „con spirito“,
    Pedal: c.-f.-Imitation zum c.f. im Sopran
  2. Fantasie „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Christoph Nogay, geb. 1941, seit 1969 [- 2006] Kantor der Apostelkirche Bonn-Tannenbusch.
    Aufnahme: Live-Mitschnitt vom Karfreitag 1996 in St. Martin zu Kelsterbach mit Rainer Noll.Nogays Choralfantasie verbindet harmonische Melodik mit neuen Satztechniken und Stilelementen. Sie ist rondoartig aufgebaut. Formale und symbolische Bedeutung hat die Dreiteiligkeit, wie sie sich in Wiederholungen und im Aufbau der einzelnen Teile findet. Das Werk schließt nach einem meditativen Teil und der Wiederholung des erweiterten Pedalsolos mit dem notengetreuen Choralsatz „O Haupt voll Blut und Wunden“ aus Bachs Matthäus-Passion mit hinzugefügtem B.A.C.H-Monogramm am jeweiligen Zeilenende (symbolisches Meinen!). – Auf der Ebene des ästhetischen Bedeutens ist das Werk als „musikalische Dornenkrone“ unmittelbar verständlich.
  3. Die letzten drei Stationen des „Kreuzweges nach Holzschnitten von HAP Grieshaber“ von Wolfgang Wiemer, geb. 1934, studierte Schul- und Kirchenmusik in Frankfurt/Main, war Lehrer am musischen Internat in Laubach und zuletzt Hochschullehrer in Esslingen.
    Aufnahme: Live-Mitschnitt vom Karfreitag 1992 in St. Martin zu Kelsterbach mit Rainer Noll.Diese kurzen Szenen fassen den Kern des Karfreitagsgeschehens zusammen. Man bedenke, dass es sich hier um eine Hinrichtung auf grausamste Weise handelt. Und dem versucht diese Musik gerecht zu werden – nicht in „schöner“, sondern „wahrer“ Expressivität. (Auf der Ebene des ästhetischen Bedeutens unmittelbar verständlich.)Station XII hat das schmerzvolle Sterben Jesu in tiefster Gottverlassenheit zum Thema. Sämtliches Tonmaterial entnimmt Wiemer dem Choralsatz „Wenn ich einmal soll scheiden“ aus Bachs Matthäus-Passion (symbolisches Meinen!). Dieser Choralsatz klingt jedoch quasi zerstört, in Klangfetzen polarisiert, die sich durch Paralleltranspositionen, gegensätzliche Artikulation und Klangfarbe stark gegeneinander abheben. Der übliche Lauf der Welt scheint durch die Hinrichtung dieses unschuldigen Gerechten namens Jesus aus den Fugen geraten zu sein.Station XIII: Jesus ist gestorben. Der Tod hat ihn von seinen Qualen erlöst. Unbändiger Schmerz bricht in wilder Zerrissenheit nun aus denen hervor, die seinen Tod miterlebt und überlebt haben. Der Leichnam Jesu wird vom Kreuz genommen und seiner Mutter, die unter dem Kreuz ausharrte, in den Schoß gelegt, aus dem er geboren worden war. Die Mutter Jesu ist untröstlich in ihrem verzweifelten Schmerz – wie alle Mütter der Welt, die den (gewaltsamen) Tod ihrer Kinder erleben müssen.

    Station XIV: Jesus wird ins Grab gelegt. Alles scheint gescheitert und vergeblich gewesen zu sein. Und endgültig vorbei. Düstere Tonballungen (Cluster) wachsen bedrohlich in die Tiefe wie alles verfinsternde Gewitterwolken. Fast körperlich vermeint man Nachbeben des geschilderten Erdbebens zu erleben. Da leuchtet hoffnungsvoll der Osterchoral „Christ ist erstanden“ über allem. Aber nicht wörtlich erklingt der Choral, sondern gebrochen und verzerrt: Damit setzt Wiemer ein dezentes Fragezeichen hinter den unverbindlichen Buchstabenglauben an Ostern als ein rein historisches Faktum, dessen Faktizität als solche wiederum nicht im geringsten davon abhängt, ob jemand daran glaubt oder nicht. Die hoffende Glaubensgewissheit erweist sich als frei und unabhängig und wirkt so Befreiung und Erlösung.

  4. Partita „Nun komm, der Heiden Heiland“ von Augustinus Franz Kropfreiter, geb. 1936, Organist an der Bruckner-Orgel im Stift St. Florian bei Linz [? 2003].
    Aufnahme: Live-Mitschnitt vom 7. Dez. 1996 in St. Martin zu Kelsterbach mit Rainer Noll, auf CD zu erhalten.Aus Zeitmangel hören wir diese Partita nicht mehr. Die Teilnehmer erhalten ein Blatt mit Melodie und Text des Chorals mit der Aufgabe, nachher im Konzert eventuell Verbindungen zwischen den einzelnen Variationen und Strophen zu entdecken.

Ich hoffe, Sie nun neugierig (statt alt-gierig) gemacht zu haben für diesen Weg der Annäherung an einige zeitgenössische Werke meines Orgelkonzertprogramms. Wenn Sie dann nachher im Konzert nur einiges wiedererkennen, ist der erste Schritt über die Schwelle des Unvertrauten schon gemacht, denn dieses Wiedererkennen von Bekanntem ist ja für manche Besucher traditioneller Konzert der höchste, weil leider auch oft einzige Konzertgenuss.
Wer Ohren hat zu hören, der höre. (Mk. 4, 9)

1 Vortrag während der Internationalen Seminartage des Albert-Schweitzer-Hauses in Günsbach/Elsaß (Thema: Heiliger Geist – Geist des Lebens – Geist der Wahrheit), gehalten am 15. März 1997
(ausgearbeitete Fassung)

2 Popper / Eccles: Das Ich und sein Gehirn, München 1982, S. 135.

3 Zitiert nach Ulrich Warnke: Gehirn-Magie, Saarbrücken 1997, S. 57 und 87.

4 Hans-Peter Dürr: Gott, der Mensch und die Wissenschaft, Augsburg 1997, S. 15.

5 Wie 4, S. 8 und 118.

6 Wie 3, S. 110.

7 Hoimar v. Ditfurth: Wir sind nicht nur von dieser Welt, Hamburg 1981, S. 270 f.

8 Goethe: Einleitung zu „Entwurf einer Farbenlehre“, Insel-TB Bd. 6, S. 381.

9 Zitiert nach Karl Jaspers: Nikolaus Cusanus, München 1987, S. 26.

10 Wie 8, S. 448.

11 Wie 3, S. 72.

12 Wie 3., S. 87

13 Wie 3, S. 86.

14 Wie 4, S. 139.

15 Wie 4, S. 139 f.

16 Pinchas Lapide: „Ist die Bibel richtig übersetzt?“ Bd. 1, Gütersloh 1986, S. 107

17 Joseph Blank:„Verändert Interpretation den Glauben?“, Freiburg 1972, S. 54, zitiert nach Lapide, wie Anm. 16, S. 108.

18 A. S.: Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, S. 10

19 A. S.: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 886 (Hervorhebungen von mir).

20 Predigt 7.11.1902, zit. bei Stefan Hanheide: J. S. Bach im Verständnis A. Schweitzers, München 1990,
S. 26 (Hervorhebung von mir).

21 Harald Schützeichel: Die Orgel im Leben und Denken A. Schweitzers, Kleinblittersdorf, 1991, S. 326.

(Hervorhebung von mir).

22 A.S.: J. S. Bach, Wiesbaden 1960, S. 265.

23 Wie 21, S. 345.

 

Orgelkonzert am 15. März 1997, 20 Uhr, Pfarrkirche Günsbach

An der Orgel: Rainer Noll

Michael Praetorius (1571 – 1621)

„Veni, redemptor gentium“

(aus „Hymnodia Sionia, 1611, Melodie im Bass)

Augustinus F. Kropfreiter (1936[ – 2003])

Orgelpartita „Nun komm, der Heiden Heiland“

(Choral und fünf Variationen)

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)

Fuge über das „Magnificat“ BWV 733

Christoph Nogay (geb. 1941)

Choralfantasie „O Haupt, voll Blut und Wunden“

Wolfgang Wiemer (geb. 1934)

Stationen nach dem „Kreuzweg nach Holzschnitten von HAP Grieshaber“:

XII. Jusus stirbt am Kreuz

XIII. Kreuzabnahme (Beweinung)

XIV. Grablegung

Dick Troost (geb. 1949)

Orgelpartita „Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist“

(Choral und fünf Variationen)

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847)

Sonate c-moll Op. 65 Nr. 2

Grave – Adagio – Allegro maestoso e vivace – Fuga