Rezension (2007)

(dieser Artikel erschien am 10.08.2007 in „Kelsterbach Aktuell“)

„Standhalten statt Flüchten“, so hatte Rainer Noll, seit 35 Jahren Kantor an St. Martin, in seiner kurzen Dankesrede nach dem Konzert das Zustandekommen von „30 Jahren Bach-Konzerte“ gleichermaßen geist- wie humorvoll kommentiert (in Abwandlung eines Buchtitels des berühmten Psychoanalytikers Horst Eberhardt Richter: „Flüchten oder Standhalten“). Der lutherische Kantor zitierte ausgerechnet Papst Benedikt XVI. und sieht sich wie dieser als ein „bescheidener Arbeiter im Weinberg Gottes“ (schon beim 25. Bach-Konzert hatte Noll den jetzt bei Radio Vatikan in Rom arbeitenden Dominikanerpater Maximiliano Cappabianca das Evangelium lesen lassen). Dieser Weinberg müsse allerdings kultiviert werden, je steiniger der Boden, desto mehr – genau dies habe er in den Jahrzehnten seiner Kelsterbacher Tätigkeit versucht. Und dieses Kultivieren habe schon vom Wort her etwas mit Kultur zu tun. Dahinter steckt unbedingter Wille zur Kultur. Diese Kultur dürfe die Kirche nicht vergessen (über allem Kult, möchte man hinzufügen). Noll machte damit für denjenigen, der Ohren hat zu hören, in knappen, aber hintergründigen Worten deutlich, dass für ihn Bach nicht einer Konfession gehört, sondern ein geistiges Gut der ganzen Menschheit ist, das sowohl der Kultur wie dem Kultus dienen kann. In jener Höhe des Geistes begegnen sich mühelos Kultur und Religion.

Entsprechend hoch war dann auch der Anspruch dieses 30. Bach-Konzertes „mit Pauken und Trompeten“.

Eine Ouvertüre in D-dur und zwei Orchestersuiten in C- und D-dur, das Festlichste und Feierlichste, was Bach zu bieten hat, umrahmten die virtuose Solosopran-Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ BWV 51, von der Heidelberger Sopranistin Eva Lebherz-Valentin bravourös gesungen, aber auch voller Wärme und Inbrunst in den meditativen Partien. Glanzvoll erstrahlte ihr hohes C, dem spontaner Beifall folgte!

Mit dieser Kantate wurde noch eine Sensation geboten: sie erklang in der völlig unbekannten Fassung für zwei Trompeten und Pauken des ältesten Bach-Sohnes Wilhelm Friedemann, die Noll dank seiner musikwissenschaftlichen Recherchen rekonstruieren konnte. So entsprach auch sie dem Motto des ganzen Konzertes „mit Pauken und Trompeten“. Unangetastet blieb dabei die originale Trompetenstimme des Vaters, brillant geblasen von Alexander Petry.

In den Ouvertüren arbeitete Noll die Gegensätze zwischen den gravitätischen Ecksätzen in feierlich-punktiertem Rhythmus und den flinken Fugatomittelteilen markant heraus. Alle Tanzsätze der Suiten wurden „con delicatezza“ zelebriert, lediglich das Passepied kam vielleicht ein wenig zu „menuettig“ daher.

Alle Solisten des Heidelberger Kantatenorchesters boten mit diesem ebenso anstrengenden wie anspruchvollen Programm eine grandiose Leistung unter dem spannungsvollen Dirigat Rainer Nolls, dem akribische Probenarbeit voran gegangen war. Dennoch wirkte die Musik nicht nur festlich, sondern auch heiter, kurzweilig und sogar mitreißend dank des hohen Niveaus, mit dem dieses sicher nicht alltägliche Jubiläum begangen wurde, das dann auch nahtlos in einen Weinempfang für die zahlreichen, z. T. wieder weit angereisten Zuhörer überging und beschwingt ausklang.

Eckard B. Gandela

Ausführende (2007)

Eva Lebherz-Valentin – Sopran

 

Mitglieder des Heidelberger Kantatenorchesters:

Alexander Petry, Egbert Lewark und Markus Seeger – Trompeten

Peter Kreckel – Pauken

Stefan Gleitsmann, Christina Mühleck und Olaf Gramlich – Oboen

Werner Köhler – Fagott

Jeanette Pitkevica und Ana Zivkovic – Violinen

Kascia Gasztecka – Viola

Valeria Lo Giudice – Violoncello

Mark Beers – Kontrabass

Martin Nitz – Orgelcontinuo

Die Solisten:

Eva Lebherz-Valentin, Sopran,

studierte in Frankfurt/M Gesang, Klavier und Oboe an der dortigen Musikhochschule. Seit 1988 wohnt sie in Heidelberg und lebt von ihrer Konzerttätigkeit im In- und Ausland. Neben dem allgemein bekannten Repertoire (von Bachs Passionen bis zu Haydns „Schöpfung“ und Verdis „Requiem“) befasst sie sich ausgiebig mit der Musik des 16. und 17. Jahrhunderts sowie der Zeitgenössischen Musik.

Zahlreiche CD- Produktionen mit außergewöhnlichen Programmen aus Mittelalter, Renaissance, Klassik und Moderne sowie Live- Konzertmitschnitte, auch von Rundfunk und Fernsehen, zeugen von ihrem untrügerischen musikalischen Stilgefühl.

 

Rainer Noll, Dirigent,

wurde am 29. Januar 1949 in Wiesbaden geboren, einer alten Bauernfamilie entstammend, deren Hof in Wiesbaden – Nordenstadt (Erbacher-Hof) er renovierte und wo er heute auch lebt. Seit 1990 richtet er die beliebten „Torhauskonzerte“ auf diesem Anwesen aus.

Kurzbiografie: 1964 – 1968 Organist in Nordenstadt; nach dem Abitur an der Gutenbergschule in Wiesbaden zunächst Physik- und Mathematik-Studium in Mainz und Hamburg, dann Musikstudium in Siena (1967), Hamburg und Frankfurt am Main (A- Prüfung/Staatsexamen für Kirchenmusiker); seit 1972 hauptamtlicher Kantor und Organist an St. Martin in Kelsterbach; 1979 – 1993: Gründung und Leitung der „Kantorei St. Martin“. Seit 1974 Dozent an der Musikschule Kelsterbach; 1976 liturgiewissenschaftliche Arbeit über „Die Entwicklung des Eucharistischen Hochgebetes“;

1979 – 1992 zunächst stellvertretender, dann Vorsitzender der MAV des Dekanates Rüsselsheim sowie Gründungs- und Vorstandsmitglied der „Historischen Werkstatt Nordenstadt“; 1981/82 künstlerischer Leiter der „Airport Chapel Concerts“ des Rhein-Main Flughafens Frankfurt. Seit seinem 10. Lebensjahr beschäftigt er sich intensiv mit Albert Schweitzer. Er entwarf 1973, inspiriert vom Orgelideal Schweitzers, die neue Orgel der Evangelischen Kirche in Wiesbaden-Bierstadt und begründete die dortige Konzerttradition. 1987 – 1993: Gründungsmitglied und Mitglied des „Wissenschaftlichen Beirates“ der „Wissenschaftlichen Albert-Schweitzer-Gesellschaft“; 1990 Leitung des Chores der Oranier-Gedächtniskirche in Wiesbaden, seit 1995 projektweise Leiter der „Idsteiner Vokalisten“, die er bereits zu vielbeachteten Höhepunkten führte. Konzerte, Schallplatten- und Rundfunkaufnahmen, Vorträge und Veröffentlichungen (u. a. über Ethik und Musikauffassung Albert Schweitzers) im In- und Ausland; 1993: USA-Tournee; Juni 2001: Konzertreise nach Tschechien; 1982 – 1989 ordnete er zudem den nachgelassenen Notenbestand in Schweitzers Haus in Günsbach/Elsaß und legte eine Kartei zur wissenschaftlichen Auswertung an. Im Herbst 1991 und Frühjahr 1992 erfolgte die gleiche Arbeit an dem von Schweitzer eingespielten Schallplatten, was eine Korrektur und Ergänzung der von Professor Erwin R. Jacobi (Zürich) und ihm 1975 erstellten Diskographie beinhaltete.

Darüber hinaus gilt sein Interesse besonders philosophischen und theologischen Problemkreisen. Er nimmt durch die Ausgestaltung und Leitung des jährlich seit 30 Jahren stattfindenden „Bach-Konzertes“, der „Musikalischen Meditation zur Todesstunde Jesu“ am Karfreitag sowie der vor 25 Jahren von ihm begründeten „Abendmusik zum Weihnachtsmarkt“ einen bedeutenden Platz im Kulturleben der Stadt Kelsterbach und der ganzen Region ein.

Rainer Noll wirkt nun seit genau 35 Jahren als Kantor an St. Martin Kelsterbach (siehe auch www.Erbacher-Hof.de).

Programmheft (2007)

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)

Ouvertüre D-dur BWV 1069
für Trompeten, Pauken, Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo

 Ouvertüre C-dur BWV 1066
für Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo

Ouverture – Courante – Gavotte I und II – Menuet I und II – Bourrée I und II – Passepied I und II

 „Jauchzet Gott in allen Landen“ BWV 51
Kantate für Sopran, Trompeten, Pauken, Fagott, Streicher und Basso continuo

in der Bearbeitung von Wilhelm Friedemann Bach (1710 – 1784)
(Arrangement: Rainer Noll)

Ouvertüre D-dur BWV 1068
für Trompeten, Pauken, Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo

Ouverture – Air – Gavotte I und II – Bourrée – Gigue

 

Das diesjährige 30. Bach-Konzert feiern wir ausgiebig „mit Pauken und Trompeten“. Es werden Werke geboten, die selbst bei Bach an Glanz und Festlichkeit kaum zu überbieten sind.

Von Bach sind vier Ouvertüren (Suiten) für Orchester überliefert. Ob er weitere komponiert hat, bleibt Spekulation. Es handelt sich eigentlich um Orchestersuiten, also eine Folge von stilisierten Tanzsätzen. Als Einleitung ist diesen eine ausladende Ouvertüre nach französischem Vorbild in feierlich-punktiertem Rhythmus und mit fugiertem Mittelteil vorangestellt, die schließlich als pars pro toto dem Ganzen seinen Namen gab. Mit der Form dieser Folge von Tanzsätzen bewegt Bach sich ganz in traditionellen Bahnen, während er mit seinen Solo-Konzerten zum Wegbereiter dieser neuen Gattung wurde.

So dient zur Eröffnung des Konzertes tatsächlich nur die Ouvertüre, also der erste Satz, der Orchestersuite BWV 1069, während die beiden Suiten BWV 1066 und 1068 vollständig musiziert werden (die Suite h-moll BWV 1067 für Solo-Flöte und Streicher kam im Bach-Konzert 2005 hier zur Aufführung).

Wann genau diese Suiten (Ouvertüren) entstanden sind, ob schon in Bachs Jahren als Hofkapellmeister zu Köthen (1717 – 1723) oder danach in Leipzig, muss offen bleiben. Sie sind uns bei sehr geringem autographen Anteil nur in späteren Abschriften, und auch da nicht als Partitur, sondern nur als Einzelstimmenmaterial, überliefert. Von der Suite C-dur BWV 1066 existiert ein Stimmensatz wahrscheinlich von 1723/24. Sie dürfte somit die älteste und einzige im Originalzustand erhaltene sein. Die Quellenlage der Suite D-dur BWV 1069 ist so spärlich, dass man sie erst für echt hielt, als man die Weihnachtskantate BWV 110 „Unser Mund sei voll Lachens“ entdeckte, deren Einleitungssatz eine Umarbeitung der Ouvertüre ist (Hinzufügung von Trompeten und Pauken, Choreinbau in den fugierten Mittelteil). Diese Kantate wurde am 1. Weihnachtstag des Jahres 1725 aufgeführt. Von der Suite D-dur BWV 1068, die unser Konzert beschließt, existiert ein Stimmensatz von 1730/31. Auch hier ist offensichtlich, dass Bach die Trompeten und Pauken erst später wie eine zweite Schicht über eine Erstfassung gelegt hat, wohl nach dem gelungenen Experiment mit BWV 1069.

Wozu Bach diese Festmusiken brauchte, ist ungewiss. Sicher dürfte lediglich sein, dass er sie wieder aufführte, als er 1729 für über zehn Jahre das studentische Collegium Musicum übernahm, das 1701 von Georg Philipp Telemann gegründet worden war. Man nannte es von da an das „Bachische“ Collegium.

1736 vermerkt Mizlers „Musikalische Bibliothek“ dazu: „Die Glieder, so diese Musikalischen Concerten ausmachen, bestehen mehrerentheils aus den allhier Herrn Studirenden, und sind immer gute Musici unter ihnen, so daß öffters, wie bekandt, nach der Zeit berühmte Virtuosen aus ihnen erwachsen.“ Da es überdies „jedem Musico vergönnet [war], sich in diesen Musikalischen Concerten öffentlich hören zu lassen“, hatte Bach den zusätzlichen Reiz, mit reisenden Virtuosen von internationalem Format zusammenzuarbeiten. Lobend wird auch das Publikum erwähnt: „…und sind auch mehrerentheils solche Zuhörer vorhanden, die den Werth eines geschickten Musici zu beurtheilen wissen.“ Hier liegt der Keim für ein in Deutschland sich entwickelndes öffentliches Konzertleben.

Musiziert wurde im Zimmermannschen Kaffeehaus, auf dem Programm standen weltliche Vokal- und Instrumentalwerke aller Art. Im Sommer fanden die Konzerte im Wirtsgarten statt, jeden Mittwoch um 16 Uhr. Im Winter spielte man im Kaffeehaus, regulär freitags von 20 bis 22 Uhr, zu Messezeiten sogar zweimal wöchentlich, dienstags und freitags. Insgesamt zeichnete Bach hier für mehr als fünfhundert zweistündige Programme verantwortlich. „Zur Bürde des Kantorats standen diese Nebenbeschäftigungen im reziprok proportionalen Verhältnis: je weniger Interesse Bach an der Weiterentwicklung der Kirchenmusik und ihres Repertoires hatte, desto mehr schienen ihn die weltlichen Verpflichtungen anzuziehen.“ (Karl Böhmer, Programmheft der Wiesbadener Bachwochen 1995, S. 32)

Es war Mendelssohn, der die vier Ouvertüren 1838 im Leipziger Gewandhaus erstmals seit Bachs Tod wieder aufführte (1829 hatte er erstmals wieder die Matthäuspassion dirigiert). Bereits als Elfjähriger spielte er dem über achtzigjährigen Goethe aus der D-dur-Ouvertüre BWV 1068 auf dem Klavier vor. Goethe bemerkte dazu, „es gehe darin so pompös und vornehm zu, dass man ordentlich die Reihe geputzter Leute, die von einer großen Treppe heruntersteigen, vor sich sehe“.

Albert Schweitzer schreibt zu den Ouvertüren: „In den Tanzweisen dieser Suiten ist ein Stück einer versunkenen Welt von Grazie und Eleganz in unsere Zeit hinübergerettet. Sie sind ideale musikalische Darstellungen der Rokokozeit. Der Reiz dieser Stücke beruht in der Vollendung, mit der Kraft und Anmut sich in ihnen durchdringen.“ („J. S. Bach“, Wiesbaden 1960, S. 354)
BWV 51 Jauchzet Gott in allen Landen!

1. Aria
Jauchzet Gott in allen Landen!
Was der Himmel und die Welt
An Geschöpfen in sich hält,
Müssen dessen Ruhm erhöhen,
Und wir wollen unserm Gott
Gleichfalls itzt ein Opfer bringen,
Dass er uns in Kreuz und Not
Allezeit hat beigestanden.

2. Recitativo
Wir beten zu dem Tempel an,
Da Gottes Ehre wohnet,
Da dessen Treu,
So täglich neu,
Mit lauter Segen lohnet.
Wir preisen, was er an uns hat getan.
Muss gleich der schwache Mund von seinen Wundern lallen,
So kann ein schlechtes Lob ihm dennoch wohlgefallen.

3. Aria
Höchster, mache deine Güte
Ferner alle Morgen neu.
So soll vor die Vatertreu
Auch ein dankbares Gemüte
Durch ein frommes Leben weisen,
Dass wir deine Kinder heißen.

4. Choral
Sei Lob und Preis mit Ehren
Gott Vater, Sohn, Heiligem Geist!
Der woll in uns vermehren,
Was er uns aus Gnaden verheißt,
Dass wir ihm fest vertrauen,
Gänzlich uns lass’n auf ihn,
Von Herzen auf ihn bauen,
Dass uns’r Herz, Mut und Sinn
Ihm festiglich anhangen;
Drauf singen wir zur Stund:
Amen, wir werdn’s erlangen,
Glaub’n wir aus Herzensgrund.

5. Aria
Alleluja!

 

Diese virtuose Kantate wurde höchstwahrscheinlich zum 15. Sonntag nach Trinitatis, dem 17. September des Jahres 1730, komponiert. Bachs eigener Zusatz „et in ogni tempo“ (und zu jeder Zeit) entbindet sie aber von dieser speziellen Verwendung. Der Text ist ein jubelnder Lobpreis und Dank für Gottes Beistand, verbunden mit der Bitte um künftige Treue. Der Textdichter ist unbekannt, den Schluss bildet die Zusatzstrophe (Königsberg, 1549) zu Johann Gramanns Lied „Nun lob, mein Seel, den Herren“, der ein „Alleluja“ angehängt ist. Bei aller Knappheit der Form vereint diese Kantate fünf charakteristische Satzprinzipien des Barock: Konzert (Satz 1), Monodie (Satz 2), Ostinatovariation (Satz 3), Choralbearbeitung (Satz 4) und Fuge (Satz 5).

Die eigentliche Sensation der heutigen Aufführung aber ist, dass das Werk in der unbekannten, noch nicht edierten Fassung des ältesten Bach-Sohnes Wilhelm Friedemann erklingt. Er hat zur Komposition des Vaters eine zweite Trompeten- und eine Paukenstimme dazu komponiert. In mein Arrangement habe ich noch das Fagott einbezogen, wie Bach es sicher auch getan hätte, wenn eines vorhanden war.

Johann Sebastian Bach wurde am 21. März 1685 in Eisenach geboren. 1703 – 07 Organist in Arnstadt. 1707 – 08 Organist an St. Blasius in Mühlhausen. 1708 – 17 Hoforganist, Cembalist und Violinist (seit 1714 auch Hofkonzertmeister) in Weimar. 1717 – 23 Hofkapellmeister in Köthen. Ab 1723 Kantor der Thomaskirche und „Kirchenmusikdirektor“ der Stadt Leipzig, wo er am 28. Juli 1750 starb.

Bachkonzert 2007

30 Jahre Bach-Konzerte in St. Martin zu Kelsterbach

Bach-Kantate in sensationeller Fassung

Gleich nach seinem Staatsexamen für Kirchenmusiker („A-Examen“) startete Kantor Rainer Noll im Jahre 1977 in der Kelsterbacher St. Martinskirche, an der er seit 35 Jahren wirkt, die Reihe der Konzerte zu Johann Sebastian Bachs Todestag. Jährlich fanden sie seitdem am oder um den 28. Juli (Bachs Todestag) statt und gewannen überregionale Beachtung. Eckard Gandela begleitete Nolls Konzerte im In- und Ausland als Toningenieur und schrieb dazu: „Zunächst waren es reine Orgelkonzerte auf der 1970 von Förster & Nicolaus (Lich) erbauten ‚idealen Bach-Orgel in idealer Akustik‘ (so Noll). Werke aller Gattungen des Bachschen Orgelschaffens interpretierte Noll hier in der ihm eigenen beseelt-atmenden Weise, wie er sie bei seinen Forschungen über Albert Schweitzer kennen gelernt hatte. Aber auch Kompositionen von Bach-Söhnen, Bach-Schülern und der weiteren Bach-Familie standen auf dem Programm, bis hin zu Uraufführungen von verschiedensten Bearbeitungen über die Tonfolge B-A-C-H, die Noll bei Kurt Fiebig (1908 – 1988), Harald Heilmann (*1924) und dem französischen Komponisten Gaëtan Santa Maria (*1957) in Auftrag gegeben hatte. Dank städtischer finanzieller Unterstützung kam später eine stattliche Zahl Bach-Kantaten und Instrumentalkonzerte hinzu, aufgeführt mit namhaften Solisten, den ‚Idsteiner Vokalisten‘ und dem ‚Heidelberger Kantatenorchester‘ in einer eigenständigen Interpretation, die das Beste aus historischer und traditioneller Aufführungspraxis zu vereinigen sucht.“

Das Motto des diesjährigen 30. Konzertes lautet: Mit Pauken und Trompeten. Das festliche Programm wird gestaltet von Eva Lebherz-Valentin (Heidelberg), Sopran, und Solisten des Heidelberger Kantatenorchester unter Leitung von Rainer Noll.

Im Zentrum steht die Bach-Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ BWV 51, die sowohl dem Sopran als auch der Solotrompete das Äußerste an Virtuosität abverlangt. Gemäß dem diesjährigen Motto wird aber diese Kantate in der fast nie zu hörenden und selbst Musikern kaum bekannten Fassung des ältesten Bach-Sohnes Wilhelm Friedemann mit zwei Trompeten und Pauken geboten. Der Sohn schrieb zum Werk des Vaters (Originalinstrumentarium: Solotrompete und Streicher) eine zweite Trompetenstimme sowie eine Paukenstimme. Dank der Recherchen und des Arrangements von Rainer Noll kann diese sensationelle, noch nicht im Notenhandel edierte Fassung musiziert werden.

Den Rahmen bilden die Ouvertüre BWV 1069 sowie die Orchestersuiten BWV 1066 und 1068, die in ihrer Maximalbesetzung mit 3 Trompeten, Pauken, 3 Oboen, Fagott, Streicher und Orgel an Festlichkeit nicht zu überbieten sind.

Das 30. Bach-Konzert anlässlich des 257. Todestages von Johann Sebastian Bach findet statt am Sonntag, dem 29. Juli 2007, um 20 Uhr in der St. Martinskirche zu Kelsterbach.

Eintritt: 10 € im Vorverkauf, 12 € an der Abendkasse

Vorverkaufsstellen:

  • Kelsterbach: Schreibwaren Hardt, Marktstraße 3
  • Glückslädchen Eckes, Mönchbruchstraße 50
  • Pfarramt der St. Martinsgemeinde, Pfarrgasse 5
  • Wiesbaden: Musikalien Petroll, Marktplatz 5

Veranstalter: Magistrat der Stadt Kelsterbach und St. Martinsgemeinde

Bachkonzert 1998

St. Martinskirche Kelsterbach

Orgelkonzert am 26. Juli 1998

 Anlässlich der 248. Wiederkehr des Todestages von

 

Johann Sebastian Bach († 28. Juli 1750)

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 Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Präludium a-moll, BWV 569

 

Contrapunctus I, BWV 1080,1

(aus „Die Kunst der Fuge“)

 

Partita über „O Gott, du frommer Gott“, BWV 767

 

Fuge c-moll, BWV 574

(über ein Thema von Giovanni Legrenzi)

 

 

Harald Heilmann (*1924)

 Meditation über BACH

 

 

Johann Sebastian Bach

 Passacaglia und Fuge c-moll, BWV 582

 

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An der Förster & Nicolaus-Orgel:

Rainer Noll

 

Zum Programm:

Musik will nicht nur verstanden werden, sie will vor allem erlebt werden. Zu beidem, Verstehen und Erleben, möchten die folgenden Anmerkungen zum heutigen Konzert dem interessierten Hörer eine Hilfestellung anbieten.

Das Programm besteht hauptsächlich aus Frühwerken Johann Sebastian Bachs, von denen das Präludium a-moll und die Fuge c-moll sehr selten in Konzerten zu hören sind.

Das Präludium a-moll besteht, von dem bewegteren Anfang und Schluß abgesehen, aus der monotonen Aneinanderreihung eines viertönigen Motivs, die nur von kurzen Zwischenspielen aufgelockert wird – ein Werk, das nicht von kontrapunktischen Künsten, sondern von seiner teils kühn-dramatischen Harmonik lebt. Der Gebrauch des Doppelpedals am Schluß zeigt, daß Bach schon in jungen Jahren seiner Orgel „Gravität“ abzutrotzen versuchte, auf die er noch in späteren Jahren so viel Wert im Orgelbau legte.

Die Fuge c-moll ist dreiteilig aufgebaut. Im ersten Teil verarbeitet Bach das von Legrenzi stammende Thema. Im zweiten Teil entfaltet sich ein zweites, lebhafteres Thema, das aus Motiven des ersten hervorgeht. Der dritte Teil bringt schließlich die Vereinigung beider Themen. Ein toccatenartiger Schluß im freien Stil („stylus fantasticus“) beendet das Werk.

 

Neben dieser Fuge sind auch die beiden späteren Jugendwerke, Partita „O, Gott, du frommer Gott“ und die Passacacglia, durch die Tonart c-moll verbunden, und beide dürften im gleichen Zeitraum der Jahre 1707/1708 entstanden sein (d.h. Bach schrieb diese genialen Kompositionen bereits im Alter von zwei- oder dreiundzwanzig Jahren!). Auch handelt es sich bei beiden um Variationswerke.

Die Partita über „O Gott, du frommer Gott“ besteht aus neun Teilen (Teil = lat. Pars, daher die Bezeichnung Partita). Die Melodie des Chorales ist das verbindende Element aller Teile. Wie der holländische Musikwissenschaftler Albert Clementi in seiner Dissertation (1989) nachgewiesen hat, ist jedem dieser Teile eine Strophe des Chorales zugeordnet, deren Inhalt von der Musik af teils äußerst subtile Weise ausgedeutet wird. Deshalb finden Sie im Programm den Choraltext zum Mitlesen. Teil I verherrlicht in seiner vollgegriffenen Harmonisierung des Chorals die Majestät des Schöpfergottes. Im Baß des sechsten Teils sind deutlich die „sauren Tritte“ abgebildet, durch die man ins Alter dringt, wie es in der zugehörigen Strophe heißt. Strophe sieben redet von Sterben und Grablegung: die Musik versinnbildlicht dies durch eine alle Stimmen durchziehende Abwärtslinie (ähnlich wie in der Orchesterbeleitung des Schlußchores der Johannespassion oder in den Bässen des Schlußchores der Matthäuspassion). Die folgende Strophe enthält die Bitte des Frommen, Gott möge seiner bei der Auferweckung der Toten gedenken: Bach schildert in quälender Chromatik die schmerzliche Sehnsucht derer, die in dunkler Gruft der Erlösung harren. Im letzten Teil bricht sich dann der Jubel der Auferstandenen Bahn, die sich den Lobpreis der Dreieinigkeit zusingen.

 

Über das Geheimnis der Passacaglia und Fuge c-moll ist viel geschrieben und gerätselt worden. Bach hat nur ein einziges Werk dieser Gattung komponiert. Eine „Passacaglia“ besteht aus der Folge von Variationen über einem gleich bleibenden, ständig wiederholten (ostinaten) Thema. Dieses wird zu Beginn einstimmig vorgetragen. Daraus folgen zwanzig Variationen, die ohne Übergang in die Fuge münden. Der erste Teil des Passacagliathemas, der aus einem „Trio en passacaille“ betitelten „Christe“ aus André Raisons „Premier Livre d’orgue“ (Paris, 1688) stammt, bildet das Fugenthema. Ihm ist gleich von Anfang an ein Kontrasubjekt beigegeben, dessen charakteristischen Intervalle aus dem zweiten Teil des Passacagliathemas abgeleitet sind. Das Hauptthema erklingt in der Passacaglia 21mal, in der Fuge 12mal (12 ist die Spiegelung von 21!). – Der holländische Organist Piet Kee deutet Passacaglia und Fuge als musikalische Darstellung des Vaterunsers.

 

Ganz bewusst stelle ich den Jugendwerken eine Fuge (Contrapunctus I) des alten Bach, sowie eine zeitgenössische Meditation über das Namensmotiv der Tonfolge B-A-C-H von Harald Heilmann als Kontrapunkt gegenüber.

 

Das Contrapunctus I überschriebene Werk ist die Eröffnungsfuge des als „Die Kunst der Fuge“ bekannten monumentalen Alterswerkes Bachs, über dessen Fertigstellung er am 28. Juli 1750 schließlich verstorben ist. Das Hauptthema dieses Werkes wird vorgestellt und in einer gesanglichen, ruhig dahinfließenden Fuge verarbeite. Diese kontrapunktische Kompositionstechnik galt seinen Zeitgenossen als längst veraltet. Der alte Bach hatte sich selbst überlebt. Er komponierte sozusagen bewußt am herrschenden Musikbetrieb seiner Zeit vorbei. Dies befreite ihn von jeglicher Rücksicht auf bloße äußerliche Publikumswirksamkeit. In asketischer Konzentration auf das Wesentliche, fas zweckfrei, arbeitete er in der Abgeschiedenheit seiner Komponierstube an der höchsten Vollendung seiner Kunst, die ihn unsterblich machte. Das meisterliche spiel mit allen klanglichen Effekten und die unbekümmerte Entfaltung vitaler jugendlicher Kraft, denen wir in seinen Frühwerken begegnen, sind in seinem Spätwerk einer wohlkalkulierten Intensität und Abgeklärtheit gewichen. Was Albert Schweitzer in einem 1909 anläßlich des 1. Westfälischen Bachfestes in Dortmund gehaltenen Vortrag über „Johann Sebastian Bach“ sagte, gilt besonders für dessen Alterswerk: „Das, was man im weitesten Sinne als ››Leidenschaft‹‹ bezeichnen kann, finden Sie bei ihm nicht. Nicht Schmerz und Freude, sondern verklärter Schmerz und verklärte Freude reden zu uns. Wir schauen bie ihm das Leben, als wandelten wir auf einer Höhe, von milder Sonne umflossen, und sähen es durch blauen Nebel hindurch zu unseren Füßen ausgebreitet. Den Frieden, den er dem Leben in Freude und Schmerz abgewonnen hat, spendet Bach in seinen Tönen; er redet zu uns als einer, der nicht im Leben, sondern über dem Leben steht. Darum ist seine Kunst als solche religiös.“

 

Harald Heilmann wurde 1924 in Aue (Sachsen) geboren. Kompositionsstudium in Leipzig und Köln. 1951 Dozent an der Deutschen Hochschule für Musik in Berlin. 1954-59 Mitarbeiter verschiedener Musikverlage, danach freischaffend lebend, zunächst in Heidelberg und ab 1967 in Brombach (Odenwald). – Seine Meditation über Bach verarbeitet eigene, aus dem BACH-Motiv gewonnen Motive, deren charakteristische Intervalle oft den Ambitus einer Oktave überschreiten. Das Werk beginnt triomäßig. Der Anfang kehrt am Schluß als leicht variierte Reprise wieder.