Einige Thesen zum Thema
Albert Schweitzer und Silbermann
(Vortrag von Rainer Noll 3.10.2024 für Silbermann-Tagung in Königsfeld/Straßburg)
Sehr geehrte Damen und Herren,
es gab eine Zeit, da Schweitzer und Silbermann fast Synonyme waren in der Orgelwelt.
Es hieß: „In Afrika rettet er alte Neger, in Europa alte Orgeln.“ [Zitat!]
Das kam daher, dass er als erste Orgel die Silbermann-Orgel in St. Thomas in Straßburg vor dem Abriss gerettet hatte.
Aber wie war sein Verhältnis zu „Silbermann“?
Dazu kurze Thesen.
1) Bereits in seiner Jugend lernte Schweitzer ältere Orgeln im Elsass kennen.
Zu nennen sind hier u. a. die Walcker-Orgeln in St. Stephan zu Mülhausen (1866) und in der Ev. Kirche zu Münster (1873, heute Mühleisen-Orgel von 1985).
Die Begegnung mit diesen Orgeln nährte bereits seine Zweifel am Orgelbau seiner Zeit.
Hauptkritikpunkt war die industrielle Fertigung der Orgel als Massenware („Fabrikorgel“).
Diese Zweifel führten schließlich zur „Elsässischen Orgelreform“ mit Emile Rupp an seiner Seite.
Wolfgang Metzler nennt sie „den letzten Höhepunkt des romantischen Orgelbaues“ („Romantischer Orgelbau in Deutschland“, S. 81).
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese Reformbewegung weitergeführt in der „Orgelbewegung“.
Lange Zeit galt Schweitzer immer noch als deren Galionsfigur (so auch noch in meiner Jugend). Aber man hatte kaum bemerkt, dass nun ein ganz anderes Orgelideal galt: die „Barockorgel“. Diese war gleichweit entfernt von der „Fabrikorgel“ des Industriezeitalters wie von der „wahren“ Orgel Schweitzers.
2) Unter den alten Orgeln seiner Jugend schätzte Schweitzer besonders die im 18. Jahrhundert erbauten Werke von der im Elsass wirkenden Orgelbauerfamilie Silbermann (z. B. in St. Matthäus zu Colmar und in St. Thomas, St. Aurelien, St. Wilhelm und St. Nikolaus zu Straßburg).
Doch zu Schweitzers Zeit befand sich keine dieser Orgeln mehr im Originalzustand.
Sie hatten z. T. erhebliche Änderungen und Erweiterungen im Sinne des 19. Jahrhunderts erfahren (z. B. Vermehrung der 8′-Register, erweiterter Ausbau des Pedals, Ersetzung des Echo-Werks durch ein vollständiges III. Klavier oder gar ein Schwellwerk, Wegfall des Rückpositivs).
3) Diese umgebauten Silbermann-Orgeln entsprachen Schweitzers Orgelideal weit mehr als der Silbermannsche Originalzustand, für den er sich nur sekundär interessierte (er war z. B. noch anzutreffen bei den Orgeln in Ebersmünster und Maursmünster).
Die Silbermannschen Originale im Elsass lehnten sich stark an den klassischen französischen Orgelbau an. Somit waren sie ursprünglich alles andere als ideale Orgeln für Bach. Werke des französischen Barock, für die diese Orgeln gedacht waren, hat Schweitzer nicht gespielt.
Aber hatte er nicht gesagt: „Maßstab einer jeglichen Orgel, bester und alleiniger Maßstab, ist die Bachsche Orgelmusik.“ („Deutsche und französische Orgelbaukunst“ in Gesammelte Werke Bd. V, S. 410)
Dies ist eine der irreführendsten und missverstandensten Äußerungen Schweitzers. Suggeriert dies nicht, dass die idealsten Bach-Orgeln die der Bachzeit seien? Nicht so für Schweitzer. Diesen Satz muss man als Schnittpunkt zwischen Schweitzers orgelbaulichen Ansichten und dem Stil seiner Bachinterpretation verstehen: Bach nicht als historische Größe, sondern als ihn selbst unmittelbar betreffende ästhetisch-ethische Größe!
Orgeln des sächsischen Gottfried Silbermann, Bruder des in Straßburg wirkenden Andreas Silbermann, wurden von Bach gespielt. Aber Schweitzer hat sie nie kennengelernt. So gebrauchte er den Namen Silbermann sehr pauschal, ohne zwischen beiden Linien zu differenzieren, obwohl er sich des Unterschiedes bewusst war. Aber instinktiv stand ihm der elsässische Silbermann näher.
Beim Umbau der noch original erhaltenen Silbermann-Orgel in Sundhausen im Jahre 1911 wurde praktisch ein Neubau unter Verwendung von weniger als der Hälfte des Originalbestandes ausgeführt; Rückpositiv und alle Einzelaliquote wurden beseitigt, die 8′-Stimmen vermehrt, das Echo-Werk durch ein Schwellwerk ersetzt, das Pedal ganz umgestaltet, die mechanische Traktur pneumatisiert, Spielhilfen wie Tutti, freie Kombinationen und Koppeln (einschließlich Sub- und Superoktavkoppeln!) eingebaut. Im Abnahmegutachten gratuliert Schweitzer dem Orgelbauer (Dalstein & Haerpfer) für seine gute Arbeit.
Auch die ursprünglich von Silbermann erbaute Orgel der Straßburger St. Aurelienkirche war 1884 „romantisiert“ worden, Dieser Umbau kam fast einem Neubau gleich. Doch Schweitzer ließ sie 1911 durch Dalstein & Haerpfer nochmals verändern in seinem Sinne.
Solche Änderungen bedeuteten für ihn keinen Eingriff in die Silbermannsche Konzeption, sondern eine Vervollkommnung „im Geiste Silbermanns“, d. h. eigentlich eine Verbesserung im Sinne seines eigenen Orgelideals.
Wie weit das Ziel dieser „Restaurierung“ von Silbermann entfernt war, möge folgendes Zitat aus einem Brief Schweitzers von 1949 an Christian Brandt (Pfarrer an St. Aurelien) belegen: „Wenn ich für Kenner spielen soll, wähle ich das Instrument von St. Aurelien, auf dem ich dann Bach, Mendelssohn, Widor, César Franck so wiedergeben kann, wie ich es nur selten auf all den zahlreichen Instrumenten kann, die ich in der Welt kenne.“
In diesem Briefzitat zeigt sich etwas für Schweitzer Wesentliches: er spielte und registrierte Werke der genannten Komponisten auf ein und dieselbe Weise. Da gab es für ihn nur eine „Wahrheit“ und folglich auch nur eine „wahre“ Orgel. Nämlich die, die seinem Ideal entsprach. Stilistische Unterschiede existierten nicht.
So verwundert es nicht, dass für die Schallplatteneinspielung Bachscher und Franckscher Orgelwerke im Oktober 1936 seine Wahl auf St. Aurelien fiel.
4) Eine gewisse Ausnahme stellt die Behandlung der Orgel in St. Thomas zu Straßburg dar.
Sie war die erste Silbermann-Orgel, die Schweitzer vor dem Abbruch retten konnte (was ihm zuvor in St. Wilhelm noch nicht gelungen war). Im 19. Jahrhundert waren auch hier einschneidende Veränderungen vorgenommen worden, aber sie war die einzige Silbermann-Orgel Straßburgs, bei der die originale Tastatur, die Traktur und die Schleifladen aus der Zeit Silbermanns erhalten waren. Diese ließ Schweitzer hier aus Pietät und auch als Muster für die Nachwelt erhalten und ersetzte sie nicht durch moderne Ladensysteme und Pneumatik; auch das Rückpositiv wurde nicht entfernt. Ansonsten ließ er aber auch diese Orgel in seinem Sinne umgestalten.
Dieses etwas abweichende, für ihn keineswegs typische Vorgehen wurde (selbst in seinen Augen) überbewertet und führte zu der völlig irrigen Interpretation, er wolle im Orgelbau zurück zu Silbermann. Auch für die Erhaltung wertvoller Instrumente des 19. Jahrhunderts setzte er sich ein und bedauerte deren Verschwinden. Die besten Orgeln wurden für ihn zwischen 1850 und 1880 gebaut. In Deutschland schätzte er besonders Werke von Walcker und Ladegast aus dieser Zeit.
In seinen Schriften, und Jahrzehnte später auch in der Praxis, favorisierte Schweitzer allerdings generell die mechanische Traktur und die Schleiflade. Diese hätten die Orgelbauer zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht wieder bauen können. So plante er zunächst häufig pneumatische Trakturen. Auch in Günsbach ließ er die Pneumatik erst 1961 von Alfred Kern durch Mechanik ersetzen.
Später hielt er auch das Rückpositiv für wesentlich.
5) Weit über „Restaurierungen“ vorhandener Silbermann-Orgeln hinaus gipfelte für Schweitzer die Weiterentwicklung des Orgelbaues „im Geiste Silbermanns“ in den Schöpfungen von Aristide Cavaillé-Coll. Dessen Orgeln hielt er (abgesehen von den zu dominanten Zungenstimmen) für das Vollkommenste, was der Orgelbau bis dahin aufzuweisen hatte.
Schweitzers eigenes Ideal war die Synthese aus alter und moderner Orgel, aus den weichen, runden, biegsamen Labialstimmen eines Cavaillé-Coll und den verschmelzungsfähigen deutschen Zungenstimmen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Technische Errungenschaften akzeptierte er nur, soweit sie der künstlerischen Gestaltung dienen.
Mehr als bei allen Silbermann-Restaurierungen verwirklichte er seine Vorstellungen z. B. in den von ihm konzipierten Orgelneubauten in der Erlöserkirche zu Straßburg-Kronenburg und in der Altstädter Nicolaikirche zu Bielefeld. Diese Instrumente spielten in der „Orgelbewegung“, als deren missverstandener „Vater“ er nun galt, kaum eine Rolle – die Entwicklung war längst über ihn hinweg gegangen. Die Orgel in Kronenburg ist original erhalten, aber immer noch zu wenig beachtet.
Vergangenen Epochen unterstellte Schweitzer, sie hätten dieses „Ideal der wahren Orgel“ mangels technischen Vermögens noch nicht verwirklichen können, und folgerichtig bezeichnet er deren Produkte als „Vorläufer“.
Und genau dazu zählt dann auch eine Silbermann-Orgel im Originalzustand. Zur „wahren“ Orgel wird sie erst durch Restaurierung „im Geiste Silbermanns“ und im Sinne Schweitzers, was hier eigentlich gleichbedeutend ist. „Im Geiste Silbermanns“ besagt bei Schweitzer nicht, einen konkreten historischen Silbermann und dessen Bauweise zum Maßstab zu erheben (womöglich noch zum alleinigen wie in der Orgelbewegung die Barockorgel). Dieses Diktum Schweitzers ist vielmehr zu verstehen als Synonym für eine ästhetische Geisteshaltung, die derjenigen Schweitzers entspricht oder verwandt ist. „Im Geiste von …“ soll dieser Geisteshaltung historische Legitimation verleihen.
Während sich in der Orgelbewegung das Ideal einer Orgel zunehmend zur Ideologie der „Barockorgel“ verengte und der Bruch mit der Tradition des 19. Jahrhunderts bewusst herbeigeführt wurde, da wollte Schweitzer die Weiterentwicklung wieder da anknüpfen, wo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Faden der künstlerischen Tradition im Orgelbau gerissen war und der Verfall durch Industrialisierung und den Sieg des Kaufmännischen über das Künstlerische begonnen hatte.
6) Bewundernswert, und auch heute noch eine Herausforderung an den Zeitgeist, ist Schweitzers Kraft des Glaubens an das eigene Ideal, die hier deutlich wird. Sie kann gar nicht anders, als rein historische Betrachtungsweisen zu überschreiten und hier und jetzt selbst Geschichte zu schreiben.
Schon der Musikwissenschaftler Leo Schrade (1903 – 1964) schrieb 1962: „Er [Schweitzer] wollte weg vom Historischen und hin zum Ästhetischen, denn das schien ihm der feste Punkt, von dem aus ein neues Bachverhältnis zu gewinnen war. (…) Der Freimut, mit dem Schweitzer die Freunde der Musik aufforderte, sich von der rein geschichtlichen Sicht wegzuwenden und der Ästhetik zuzukehren, zeigt einen geistigen Mut, der in der Musikliteratur unserer Tage kaum seinesgleichen hat.“ („Die Ästhetik Albert Schweitzers – eine Interpretation J. S. Bachs“ in „Albert Schweitzer – Sein Denken und sein Weg“, Tübingen 1962, S. 262-280.)
In seinem Bach-Buch (1908/1960, S 230) schreibt Schweitzer: „Es ist an der Zeit, daß die Ästhetik an die Stelle der Geschichte trete und das Wesen der Bachschen Kunst in seiner ganzen Tiefe und seiner reichen Mannigfaltigkeit zu erfassen suche.“
Alles Epigonenhafte, archaistische Tendenzen und Historizismus lehnte er ab. Nicht um die Wiederbelebung oder gar Nachahmung historischer Ideale ging es ihm, sondern um die Schaffung neuer Ideale für seine Zeit, durch eigenschöpferisches geistiges Ringen aus der Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft gewonnen. Persönlichkeiten der Vergangenheit dienten ihm allenfalls als Katalysatoren für geistige Prozesse, nicht als zu kopierende Vorbilder.
Der Glaube an die schöpferische Kraft des eigenen Geistes gab ihm den Mut, selbständig neben historische Größen zu treten und den Faden der Geschichte in der Gegenwart weiterzuspinnen. Das Motto „im Geiste Silbermanns“ ließ für Schweitzer den Spielraum, selbst kreativ zu sein bei gleichzeitiger Wahrung des geschichtlichen Kontinuums.
Also Fortschritt ja, der sich aber aus Vorgängern in Tuchfühlung mit der Vergangenheit entwickeln soll.
Nicht: „Zurück zu Silbermann!“, war seine Devise, sondern: „Von Silbermann aus in die Zukunft!“