Pastor Reinhold Becker (20. Juli 1932 – 4. Mai 2012) zum 80. Geburtstag

„Ich freue mich schon auf Ihren Nachruf.“ Dies sagte nicht er, sondern ich. Denn er sprach immer davon, mir den Nachruf schreiben zu wollen (sogar von Biographie war die Rede – niemand kannte mich besser und wusste mehr von mir als er, und in seinem Wissen fühlte ich mich „aufgehoben“). Er, der 17 Jahre Ältere – meinen Nachruf! Er war vielleicht der Einzige, der das mit Anstand und Würde und Inhalt hätte tun können, zumal wir bei meiner nicht geringen Gefährdung immer wieder damit rechneten, dass ich vor ihm gehen würde (er war ja bis fast zum Ende immer kerngesund, zäh und unglaublich ausdauernd – noch so um die 50 machte er fast täglich stundenlange Läufe um den Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, wo nun seine Asche und die seiner beiden Frauen ruht und wo er die meisten seiner Beerdigungen hielt, und schwamm regelmäßig 5000 m am Stück, während ich meine 1000 schaffte!). Hiermit erweise ich ihm den Dienst, den er mir versprochen hatte.

Natürlich ist diese Äußerung pure Selbstironie – wer hat schon etwas von seinem eigenen Nachruf und freut sich gar darauf? Aber diese Art von schwarzem Humor war charakteristisch für unseren Umgang, viel hatten wir so zu lachen, wo es für andere nichts zu lachen gab – ich glaube, mit niemandem habe ich mehr zusammen gelacht (dahinter steckte auch der gemeinsame Sinn für Situationskomik). Außenstehende verstanden dies oft nur schwer, wenn überhaupt.

Schon in diesen ersten Sätzen wird deutlich: es ist unmöglich, über „Becker“ (so nannten wir ihn und so will ich ihn auch hier im weiteren Text nennen, was nicht die Spur von Respektlosigkeit hat) zu reden, ohne über mich selbst zu sprechen, ich erscheine hier in ihm gespiegelt. Das eine bedingt das andere und ist allein nicht nur unvollständig, sondern auch unverständlich.

Zum Jahreswechsel 1966/67 hatte mich Kantor Peter Schumann nach Hamburg eingeladen, bei dem ich zuvor ein knappes Jahr Orgelunterricht in der Wiesbadener Lutherkirche gehabt hatte und der 1965 zur Bugenhagenkirche am Biedermannplatz (der Name trügt!) in Hamburg-Westbarmbek gewechselt war (später Kirchenmusikdirektor an Hl. Geist in Heidelberg). Schon damals konzertierte ich „nebenbei“ in der Bugenhagenkirche und im Auditorium Maximum des Pädagogischen Institutes der Universität Hamburg an Orgel und Cembalo. Reisen kannten wir in unserer bodenständigen Bauernfamilie nicht: es war meine zweite Reise nach einem Schullandheimaufenthalt in Nordhessen am Reinhardswald, und deshalb subjektiv eine „Weltreise“. Drei lutherische Pastoren unterschiedlichsten Charakters und Alters wirkten damals an Bugenhagen (heute aufgelöst, Kirche umgenutzt): Strege, Mielk und jener Becker (absteigend nach Alter geordnet). Nach kurzer Bekanntschaft auf der Straße vor seiner Wohnung neben der Kirche lud Becker mich für den Abend auf ein Glas Wein ein. Er kredenzte süßen Samos, legte eine Platte mit Chopinwalzer auf und war allein schon von der Begeisterung für diese „noblen Klänge“ wie betrunken (an denen er in der Jugend bei eigenen Versuchen am Klavier gescheitert war – auch wegen seiner hohen Ansprüche an sich selbst). Und neugierig war er, was dieser unbeholfene, komische Jüngling aus Nordenstadt bei Wiesbaden wohl für ein Mensch sei. Bis spät in die Nacht redeten wir über Gott und die Welt und haben schon damals viel gelacht – so sehr und laut, dass seine Frau Susanne, die aus Hermannstadt in Siebenbürgen stammte (gest. am Hl. Abend 1979, hinterließ ihm zwei Kinder: Christine, damals 14, und Heinrich, wenige Jahre jünger), erwachte und dem Treiben ein Ende machte. Für die Jahre danach war dies das Muster unserer Begegnung, wenn auch (meist) ohne die nächtliche Ruhestörung seiner Frau. Außerdem war ich regelmäßig sonntags nach dem Gottesdienst zum Essen eingeladen und nachmittags zum Kaffee, wann immer ich in der Nähe war (ich übte ja ausgiebig auf dem Flügel der Gemeinde).

Fast immer haben wir dabei auch Musik gehört und besprochen – je nach den „Phasen“, in denen Becker sich befand, verschiedene: Bach, Schubert, Wagner usw.. Ganz ernst wurde es trotz unseres vielen Lachens, als er seine Liebe zu Bruckner entdeckt hatte. Oft ließen wir uns dann mit anderen Gästen bei Bekannten zum Essen und anschließendem Brucknerhören einladen. Wehe, wenn jemand während dieser himmlischen Längen redete oder (fast noch schlimmer) austreten musste! Es grenzte an Fanatismus, wobei ein Wesenszug Beckers deutlich wird: was er tat, das tat er ganz, mit höchster Intensität, wenn auch der Gegenstand seines Interesses phasenweise wechselte. Aber dies machte die ungeheure Lebendigkeit seiner Person aus. Machtgehabe („Pfarr-Herrlichkeit“) und Hierarchien (wie sie schwache Charaktere brauchen, um stark aufzutreten) waren ihm denkbar fern, Großzügigkeit und Ringen um Weisheit kennzeichneten ihn.

Ganz zuletzt war es sein Puppentheater, das ihn total erfüllte und mit dem er künstlerische Erfolge feierte zusammen mit seiner zweiten Frau Milli (1943 –  2008, https://de.wikipedia.org/wiki/La_Milli ) – angesichts seiner alles andere ausblendenden Hingabe an das neue Projekt sagte sie mir: „Ich bete zu Gott, dass ich diesen Mann nicht hasse.“ Leicht war es nicht mit ihm, dafür aber interessant und anregend, eben höchst lebendig für den, der bereit und fähig war, ihn und seine Intensität auszuhalten. Er fertigte selbst die ausdrucksstarken Puppen, die Milli (Malerin – sie spielte auch in dem Theaterteam mit) anmalte (er gab sie ins Puppenmuseum in Lübeck), ebenso die große Bühne mit selbst erdachten Mechanismen und Spezialeffekten, schrieb die Drehbücher und Kommentare, führte Regie und spielte selbst die Hauptrolle (er brachte es damit bis zu einem Auftritt beim NDR-Fernsehen). Die Stücke basierten alle auf Beckers hintergründigem schwarzen Humor – so z.B. waren Hitlers letzte Tage im Bunker ein zentrales Thema, wobei alle Dialoge gründlichst recherchiert waren und in seiner Darstellung zur Groteske gerieten, über die man lachen musste, obwohl es zum Weinen war. Diese tragikomische Spannung reizte ihn, und er verstand es, sie bis zur Neige auszugestalten und auszukosten. Dieser künstlerische Erfolg war die späte Erfüllung einer alten Sehnsucht.

Einige ironische Gedichte schrieb ich über Becker, die er nie krumm nahm (Selbstironie!), im Gegenteil: es gab uns wieder Anlass, herzlich darüber zu lachen. Das letzte dieser Art bezieht sich auf den Puppenspieler (Titel in Anlehnung an Theodor Storms Novelle „Pole Poppenspäler“):

Pastor Poppenspäler

Ein Pastor lebt´ in großem Frust
Und hatt´ zum Dienste nie recht Lust.
Als frei und pensioniert er war,
entdeckte er die Puppen gar:
passioniert statt pensioniert
hat er sich noch mal engagiert.
Er bastelte sich seine Welt,
> die ihn im Alter aufrecht hält.
Statt Kanzel – nun auf Puppenbühne,
wird dieser Mensch Theaterhüne.
Er packt die „großen Themen“ an,
dieser wunderliche Mann:
nichts, was er nicht verscheißern tut –
vor seinem Spott sei auf der Hut!
Doch dann gebricht es ihm an Kraft
und meint: Ich hab´ genug geschafft.
Das Alter setzt sich auf die Brust
und erdrückt ihm jede Lust.
Nur lachen kann der Kerl wie immer,
das beste Pferd wiehert nicht schlimmer.
Am Ende ist ihm alles schnuppe…
und wird selbst seine beste Puppe!

Tatsächlich hat er eine Puppe von sich selbst angefertigt (wieder Selbstironie), hier auf dem Foto zu sehen (zusammen mit Frau Milli und auch einer Puppe von ihr):

Negativ klingt in dem Gedicht seine Lust zum Dienst an. Das ist so zu verstehen: jede Predigt war ihm ein Angehen, eine Aufgabe, die von ihm Überwindung verlangte, gegen die er sich immer wieder sträubte wie die Propheten gegen ihren göttlichen Aufrag. Aber immer wieder packte er sie auch an, und dann wieder mit ganzer Hingabe. Oft hatte er samstags Magenbeschwerden, wenn die Predigt noch nicht so war, wie er sie wollte. Oft saß er noch sonntags morgens um 4 Uhr am Schreibtisch, zerquälte sich, übersetzte neu aus dem Urtext, wälzte Kommentare, nur um noch präziser zu fassen, was der Text eigentlich aussagen (und vor allem uns sagen) will – darin stand er einem Theologieprofessor in nichts nach. Hunderte von Predigten hat er so akribisch ausgearbeitet und hielt sie dann doch frei wie aus dem Moment geboren (wie Schweitzer). Kaum je hörte ich bessere Predigten: wissenschaftlich saubere sprachliche Kunstwerke, errungen in tiefster persönlicher Durchdringung. Und das in Bugenhagen, einer Arbeitergemeinde! Er hätte an eine der Hamburger Hauptkirchen oder die Universität gehört, aber da standen ihm seine Selbstzweifel im Wege, die mindestens so groß wie seine Selbstironie waren. Hilfreich war ihm bei der Vorbereitung, dass er den Urtext, sowohl griechisch wie hebräisch, bis in die kleinste grammatische Feinheit beherrschte. Theologiestudenten führte er unentgeltlich zu glanzvollen Examina in diesen Sprachen. Seinen Kantor Peter Schumann „zwiebelte“ er (wie er es nannte) in Griechisch bis zur Graecumsreife, einfach so zum Spaß (und Spaß hatten wir drei jede Menge: der Alltag war erfüllt von manchen Streichen, die manchmal auch übers Ziel schossen – aber das führt hier zu weit und wäre ein eigenes Kapitel wert). Mich selbst unterrichtete er in Griechisch bis zu Äsopfabeln und zum Grundverständnis des Neuen Testamentes im Urtext, denn er wollte, dass er mit mir fachlich darüber sprechen konnte. Viele Stunden und Tage widmeten wir uns speziellen biblischen Themen (z.B. der Weisheit im Alten Testament, die ich besonders liebe), nutzten dazu seine reichhaltige Bibliothek, und am Ende sagte er: „So, nun wissen Sie darüber mehr als der durchschnittliche Theologiestudent.“ Er selbst hat seine theologischen Examina mit Bestnoten absolviert, und ihm wurde die Promotion angeboten …, doch er selbst hielt sich für zu gering dafür, so hoch war seine Achtung davor und überhöht sein eigener Maßstab, den er an sich anlegte – ein Jammer.

Als er später Pastor in Kiel war, fragte ich einmal nach seinen Hamburger Predigten und wollte anregen, man sollte sie vielleicht als Taschenbuch herausgeben. Da offenbarte er mir, teils bedauernd, er habe sie alle verbrannt (fast selbstzerstörerisch), wie er auch seine gesamte umfangreiche theologische Bibliothek weggegeben hatte – in dieser Phase (es war, als er seine zweite Frau Milli kennengelernt hatte) meinte er, alles wissenschaftliche Arbeiten sei doch nur „eitles Gegockel“. Später bedauerte er das, aber hier zeigt sich wieder, wie sehr dieser hochintelligente, aber keineswegs einfache Mann von radikalen Phasenumbrüchen umgetrieben wurde.

Als ich ihn 1966 kennenlernte, stand ich noch fast zwei Jahre vor dem Abitur, das ich 1968 an Wiesbadens Gutenbergschule bestand (danach Physik- und Mathematikstudium in Mainz). Er hielt mich für einen brillanten, energiegeladenen Feuerkopf, aber auch für einen Wirrkopf, was meine idealistische, von Schweitzer geprägte Gedankenwelt betraf. Wie eine Drohung klang es: Er wolle mich einmal einer gründlichen philosophischen Durchbildung unterziehen, und dies hat er dankenswerterweise getan. Einfach so, im Alltag. So oft ich konnte, fuhr ich nach Hamburg, und er kam erstmal 1969 nach Nordenstadt, später auch regelmäßig nach Kelsterbach (dazu kamen Reisen nach Holland, ins Elsass und nach Dresden und Umgebung, sogar zum Skifahren nach Österreich – 1967 besuchten wir zusammen den Kirchentag in Hannover). Zum Sommersemester 1969 ging ich dann ganz nach Hamburg (damals noch im Physik-, Mathematik- und Astronomiestudium), bis ich 1972 meine Kantorenstelle in Kelsterbach antrat (inzwischen hatte ich zum Musikstudium gewechselt und bereits mehrmals in Hamburgs Hauptkirchen St. Michaelis, St. Nikolai und St. Petri konzertiert, danach war ich öfter im Jahr dort). Die einzige Inschrift im Erbacher Hof hier in Nordenstadt, die meine Namensinitialen trägt, hat Becker 1985 am Balkenjoch über der Garage eingekerbt.

1999 sprach er beim Konzert zu meinem 50. Geburtstag in der Barockkirche in Nordenstadt die von mir ausgesuchten Gedichte.

Allerdings gab es zwischendurch auch einige kürzere oder längere Phasen, in denen er sich ohne jede Erklärung von allen abkapselte und auf nichts reagierte – von einem auf den anderen Tag konnte das vorbei sein, als wäre nichts gewesen.

Nie gab es nur „Geschwätz“ zwischen uns, um die Leere auszufüllen oder Zeit totzuschlagen, überall wurde „philosophiert“, und zwar nicht hochtrabend akademisch, sondern immer elementar, d.h. von den alltäglichen Problemen und Erlebnissen ausgehend und diese fragend ausleuchtend – ganz im sokratischen Sinn. Langeweile kannten wir nie. Voraussetzung war eine absolute Wahrheitsliebe ohne alle Denkverbote, und die ist bei den meisten Menschen leider nicht gegeben. Diese Wahrheitsliebe (radikale Wahrhaftigkeit) darf auch nicht vor sich selbst halt machen, sie kann, wenn sie radikal genug ist, sogar selbstzersetzende Züge annehmen. Nur ein Mensch, der sich im Letzten irgendwie gehalten und bejaht weiß, d.h. mit sich im Innersten im Lot ist (trotz allen Leidens am Leben), kann das überhaupt aushalten und sich dem aussetzen. Stundenlange Gespräche haben wir geführt, oft auch bis zu 3 Stunden am Telefon (fast täglich – auch mitten in der Nacht, wenn es sich ergab). Wenn er Besuch oder etwa Jugendkreis hatte (zu dem er die Jugendlichen stets in seine Wohnung einlud), konnte es vorkommen, dass er auf meinen Anruf nur mit „später!“ antwortete und auflegte – nach mehreren solcher Versuche hatte er dann schließlich alle Zeit, wenn der letzte Gast gegangen war, und wenn es 2 Uhr nachts war. Endlose Spaziergänge hier oder in der Umgebung Hamburgs (z.B. Alsterwanderweg) dienten uns zum Gedankenaustausch. Mit einem privaten Kanu (der Theologe und Psychotherapeut Dr. Gerhard Bartning, bei dem ich einige Zeit wohnte, hatte es uns großzügig zur freien Verfügung gestellt) paddelten wir oft mehrmals die Woche auf der Alster, ebenso auf dem Möllner und Ratzeburger See.

Außer der Durchdringung von Alltagsfragen und -erlebnissen widmeten wir uns u. a. der Literatur, Lebensläufen großer Persönlichkeiten, biologischen und physikalischen Evolutionstheorien und Weltenstehungsmodellen, kurz: den großen Welträtseln und der Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält (hierzu las Becker bis zuletzt die neuesten Bücher, wobei wir uns gegenseitig Empfehlungen gaben – immer wieder gegenseitige Ergänzung und Anregung) und nicht zuletzt der Musik. Einen wahren Erkenntnissprung brachten für mich die gemeinsam besuchten Vortrags- und Diskussionsabende in der Hauptkirche St. Jacobi über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion mit namhaften Wissenschaftlern. Einmal saßen wir z.B. danach bei Hauptpastor Heidelbach vom „Michel“ zusammen mit den Referenten des Abends, dem berühmten Neurochirurgen Prof. Rudolf Kautzky und dem großen Physiker Prof. Pasqual Jordan, um bis in die Morgenstunden privat weiterzudiskutieren (was wir eigentlich immer ausgiebig taten).

Immer wieder betonte er, dass er die großen Dichter und Denker erst durch mich wirklich verstehen gelernt hat. Theoretisch hatte er sie längst studiert, aber „aufs Fleisch“ sei alles erst durch mein Erleben, das ich immer wieder in aller Offenheit und ohne jedes Tabu in unsere Gespräche eingebracht habe, gekommen. Er sagte, dass er bei mir (durch Teilnahme an meinem Leben, meiner Biographie, die er ja schreiben wollte) „erlebte“, wovon die anderen nur abstrakt reden. Es gab Fälle, da konnte ich eine Emotion oder einen Seelenzustand (oder wie man das nennen will) in mir „ansetzen“ wie eine Bakterienkultur auf einem Nährboden und dann beobachten, was sich daraus entwickelt (wozu eine große Offenheit und Erlebnisfähigkeit gehören). Das Ergebnis wurde aber erst klar im Dialog mit Becker, der durch seine Neugier und sein Fragen meine Beobachtungsfähigkeit motivierte und sensibilisierte.

Bis zuletzt las er auch Biographien und beschäftigte sich mit Lebensläufen der großen Dichter und Philosophen. So rief er noch euphorisch im letzten Jahr an: „Die haben fast alle gelitten wie die Schweine – wie Sie. Und immer wieder muss ich irgendwo denken: wie Noll. Bei allen finde ich Sie irgendwie wieder, und wenn Sie mir nicht durch Ihr Leben und Denken die Augen geöffnet hätten, verstünde ich gar nicht, worum es geht.“ Hier mag der Leser dieser Zeilen verwundert sein: Sie haben richtig gelesen, mit Becker siezte ich mich bis zuletzt trotz über 40 Jahre Freundschaft (nur bei so gewahrter Distanz war eine rückhaltlose Offenheit zwischen uns möglich – und auch persönliches Leiden wurde nicht schamhaft verdrängt, den Helden spielten wir aus Wahrhaftigkeit nie voreinander). Mit „leiden“ meinte er auch meine Situation im Leben und fragte immer wieder: „Wie halten Sie das eigentlich aus, woher nehmen Sie die Kraft, in solcher Umgebung ein solches Niveau über Jahrzehnte zu halten?“ Meine „Umgebung“ kriegt das nicht einmal mit. Diese Andeutung soll genügen.

Umgekehrt war er der kritischste und anregendste Leser meiner Texte und ein unerbittlicher Grammatiker. „Schreiben Sie, das ist Ihre Zukunft“, feuerte er mich immer wieder an, er kenne kaum jemanden mit einer größeren Einheit von Erlebnisfähigkeit, reichem Innenleben und Intelligenz – ich muss dieses Blankozutrauen noch einlösen und sehe es als Verpflichtung.

In der Musik war es ähnlich. Schon immer war er ein großer Musikliebhaber. Er spielte Laute (wie Luther) und sang dazu. Einmal sogar übernahm er die Tenorrezitative einer Bachkantate unter Schumanns Leitung neben gestandenen Profisängern. Bei Orgelkonzerten hat er mir als Registrant gelegentlich ausgezeichnet assistiert (so zuletzt 1999 in der Schlosskapelle zu Schmalkalden beim von Prof. Dr. Klaus Slapnicar inszenierten „Synästheticum“, wozu er auch ein kurzes Lutherpuppenspiel beitrug). Aber das verfeinerte Hören, d.h. hören, ob eine Musik nur heruntergespielt wird (und sei das noch so beeindruckend virtuos), oder ob sie mit Seele und Ausdruck erfüllt ist, das habe er mir zu verdanken. Mit großer Hingabe hörte er fast alle meine Interpretationen, wenn nicht immer live, so doch als Mitschnitt (er war immer der Erste, dem ich eine neue fertige CD schickte). Zuletzt sahen wir uns persönlich 2007, als wir zusammen nach Dresden in die Frauenkirche fuhren. Dort hörten wir die alltägliche Mittagsorgelmusik. Ein großer Könner spielte, es war supervirtuos und technisch makellos (kurz: das Übliche an einem solchen Ort der Massenproduktion). Und doch waren wir uns sofort einig und wunderten uns über den seelenlosen Nihilismus, der in dieser Interpretation herrschte. Becker spontan zu mir: „Sie haben mich, was das Musikhören betrifft, für alle Zeiten ,versaut‘: durch Sie lernte ich zu unterscheiden, ob es nur das ,Übliche‘, das alle bewundern, ist oder eben mehr.“ Mit „versaut“ meinte er, dass dieser vermittelte höhere Anspruch ihm unmöglich machte, das „Übliche“ so unschuldig zu genießen wie vorher.

Mit kaum einem anderen Menschen stand ich in so intensivem geistigen Austausch, rückhaltlos offen,, beide Seiten haben dabei unendlich profitiert. Alles Leben und Erleben geschah vor dem Hintergrund dieses ständigen Dialoges, der nichts aussparte, alles zu durchdringen suchte (es ist dies eigentlich die Grundhaltung eines Schriftstellers). Nichts kann dies nun ersetzen.

Seine allerletzten Worte, die ich von ihm hörte, waren: „Das sage ich Ihnen, das hier ist nun das Endspiel.“ Über die letzte große Erfahrung, den eigenen Tod, kann man mit niemandem mehr reden, es sei denn in der vorwegnehmenden Vorstellung, und das haben wir oft getan, auch angeregt durch Bachs ergreifende Musik zu diesem Thema. Zuletzt, als er noch sprechen konnte, sagte er mir: „Glauben Sie mir, das wird alles noch ganz anders in der Ewigkeit, als wir uns das so vorstellen.“ Er hat uns nun diese Erfahrung voraus, aber damit verstummt dieser einmalige Dialog in alle Ewigkeit.

Urnen-Grab von Reinhold Becker und seiner beiden Ehefrauen Susanne und Milli auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg:

Rainer Noll

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