Eine Begegnung in der Marktkirche in Halle im Jahre 1928 von Rainer Noll
(erschienen in „Albert Schweitzer heute – Beiträge zur Albert-Schweitzer-Forschung“ Bd. 1, Tübingen 1990)
Am 25. November, dem Totensonntag des Jahres 1928, spielte Albert Schweitzer ein Orgelkonzert in der Marktkirche Unserer Lieben Frauen in Halle an der Saale. Auf dem für Schweitzer typischen Programm standen
— von Johann Sebastian Bach: Präludium und Fuge h-moll (BWV 544),
die Choralvorspiele „Nun komm, der Heiden Heiland“ (BWV 599),
„Gelobet seist du, Jesu Christ“ (BWV 604), Fuge A-Dur (BWV 536),
die letzte Variation der Partita „Sei gegrüßet, Jesu gütig“ (BWV 768),
das Choralvorspiel „Schmücke dich, o liebe Seele“ (BWV 654),
und die Fuge F-Dur (BWV 540):
— von César Franck: Choral Nr. 1 E-Dur 1.
Der Stadtsingechor unter der Leitung von Karl Klanert sang zu den Choralvorspielen die zugehörigen Choräle im Bachschen Tonsatz, wie Schweitzer es immer, wenn möglich, für seine „musikalischen Andachtsstunden“ wünschte.
Der seinerzeit in der liturgischen und in der Orgel- und Singebewegung aktive Schweizer Kirchenmusiker Walter Tappolet studierte in den Jahren 1928-30 bei Günther Ramin in Leipzig. Ramin und Tappolet waren nach Halle gereist, um jenes Orgelkonzert des damals schon berühmten „Urwalddoktors“ zu hören. Walter Tappolet verdanken wir einen Bericht über diese Begegnung mit Schweitzer:
„Wir waren … beide gleicherweise von dem Spiel beeindruckt: sehr genau, sauber (wie seine Ausgabe der Orgelwerke von Bach bei Schirmer in New York) und gediegen, allerdings keineswegs hinreißend, dafür aber einnehmend durch große Objektivität aufgrund der Ehrfurcht vor der Bedeutsamkeit dieser Musik. Aber alles andere als das Spiel eines ,Dilettanten‘, oder doch eines solchen, der seit Jahrzehnten den Schwerpunkt seines Einsatzes nicht mehr bei der Musik und beim Orgelspiel hatte.“2
Bei der Zusammenkunft nach dem Konzert hielt Albert Schweitzer eine kurze Ansprache. Walter Tappolet erinnert sich: „Im Gedächtnis geblieben ist mir als einem überzeugten Verfechter der Anfangszeiten der Orgelbewegung sein Rühmen der wirklich ziemlich schlechten Orgel, für die ein Neubauprojekt bestand, aber noch nicht ganz gesichert war! Albert Schweitzer mußte gehört haben von diesen Plänen. Er griff sie heftig an: Das erübrigte sich, da es sich ja um eine gute Orgel handle; sie sollten von einem Neubau absehen und den beträchtlichen Betrag lieber ihm geben für sein Urwaldspital! Man wird verstehen, daß wir dies mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis nahmen. Es ist darum erstaunlich, weil seinerzeit Albert Schweitzer es war, der den allerersten Anstoß zur Orgelbewegung gegeben hat… Genau dem seinem richtigen Urteil erwachsenen Impuls am Kongreß 1909 in Wien3 gemäß wollte also auch Halle … seine dickflüssige, vom 8′-Ton bestimmte ‚Orchesterorgel‘ durch ein gediegenes, wesensgerechtes Instrument ersetzen. Diese überraschende Stellungnahme, bei der Albert Schweitzer seiner früheren Initiative untreu geworden ist, kann nur von daher verstanden werden, daß damals der Auf- und Ausbau des Urwaldspitals in Lambarene das Ein und Alles seiner Intentionen und seines bewunderungswürdigen Einsatzes war.“4
Auf die Behauptung, er habe sich schon lange vor seiner Abreise nach Afrika (1913) von dem Eintreten für die gute Orgel zurückgezogen, entgegnete Albert Schweitzer bereits im Jahre 1914: „Von dem Kampfe für die gute Orgel werde ich mich überhaupt nie zurückziehen.“5 Sollte er nun aber doch bis zum Jahre 1928 „seiner früheren Initiative untreu geworden“ sein, wie Tappolet Schweitzers Äußerung in Halle deutet? Lassen wir zunächst die Fakten sprechen.
Das Instrument, auf dem Schweitzer in Halle spielte, war 1896/97 von der Firma Wilhelm Rühlmann aus Zörbig hinter dem Barockprospekt von Christoph Cuncius (Halberstadt) aus dem Jahre 1716 mit pneumatischer Traktur erbaut worden; es wies die folgende Disposition auf:
I.
|
|
II.
|
|
||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
III.
|
|
Pedal
|
|
Obwohl diese Disposition erst aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stammt, entspricht sie doch denjenigen der nach Albert Schweitzer „besten Orgeln“, die etwa zwischen 1850 und 1880 erbaut wurden6. Nehmen wir noch an, daß das III. Klavier als Schwellwerk gebaut war (was ich nicht ermitteln konnte), so finden wir in dieser Disposition Schweitzers eigene Dispositionsprinzipien so weitgehend verwirklicht, daß sich gar ein Einfluß der Elsässischen Reformbewegung vermuten ließe, wäre diese nicht erst Jahre später zur Wirkung gekommen.
Auch die pneumatische Traktur widerspricht dem nicht: Schweitzer, zwar verbal ein Verfechter der mechanischen Traktur und der Schleiflade, ließ noch 1932 die Günsbacher Orgel mit Pneumatik und Kegelladen versehen, da der Orgelbau noch nicht wieder in der Lage gewesen sei, eine ordentliche Mechanik zu bauen. Erst 1961 erhielt diese Orgel mechanische Schleifladen, wobei sich auch in diesem vorgerückten Jahr Schweitzer persönlich von Lambarene aus um alle Einzelheiten des Orgelneubaues kümmerte (also noch in seinem 87. Lebensjahr kein Rückzug!). Was den Klang der Günsbacher Orgel von 1932 betrifft, so erinnere ich mich gut an ebensolches enttäuschtes Erstaunen in damals noch ungebrochen orgelbewegten organistischen Kreisen der 60er Jahre, wie Tappolet und Ramin es schon 1928 in Halle erlebten. Daß Schweitzer für seine Orgeleinspielungen im Jahre 1952 die Orgel in Günsbach wählte, wurde nie als sein Bekenntnis zu dieser Orgel für möglich gehalten; man bedauerte vielmehr diesen „Fehlgriff“ Schweitzers und hatte dafür alle möglichen Entschuldigungen bereit, wie: Schweitzer habe sich in seinem Alter nicht mehr auf eine andere Orgel umstellen wollen, viel lieber hätte gerade er auf einer Barockorgel gespielt usw.
Wie die Rühlmann-Orgel in Halle tatsächlich geklungen hat, läßt sich anhand der Disposition leider nicht verlebendigen. Wie Albert Schweitzer aber diesen Klang beurteilte, das läßt sich authentisch belegen. Er schrieb an die Orgelbaufirma Rühlmann: „Schon lange wollte ich Ihnen schreiben, um Ihnen meine lebhafte Anerkennung für die Restauration der Orgel in der Liebfrauenkirche zu Halle a. S. auszusprechen. Ich habe das Instrument am zweiten Adventssonntage 1927 auf der Heimkehr von einer Konzertreise in Schweden gespielt und war von dem Klange entzückt.“7
Mit „Restauration“ meint Schweitzer wohl den Orgelneubau in dem Barockgehäuse von Cuncius. Sein Restaurationsbegriff hatte noch nichts zu tun mit historisierenden Tendenzen, forderte er doch z.B. bei der Restaurierung zweier bedeutender Barockorgeln (in Harlem, St. Bavo, und in Hamburg, St. Jakobi) den Einbau eines Schwellkastens (in Hamburg sogar mit Erfolg!). So bleibt uns nichts anderes übrig als anzuerkennen, daß Schweitzer tatsächlich von der nach Tappolets und Ramins Urteil „wirklich ziemlich schlechten, dickflüssigen, vom 8′-Ton bestimmten ,Orchesterorgel'“ der Marktkirche in Halle, die er gleich durch zweimalige Begegnung kannte, aufrichtig begeistert war – unabhängig von seinem Einsatz für das Spital in Lambarene.
Worin liegt nun der Grund für Tappolets Enttäuschung über Schweitzers Ansprache in Halle? In einem Missverständnis. In der unreflektierten Annahme nämlich, daß sein klangästhetischer Wertmaßstab mit dem des früheren Schweitzer identisch sei, so wie er Schweitzer bisher jedenfalls verstanden hat. Durch Schweitzers Äußerung nach jenem Konzert, also angesichts des gerade eben vernommenen konkreten Klangerlebnisses, wird unausweichlich klar, daß Schweitzers ästhetische Klangbeurteilung eben eine ganz andere ist. Um das eigene, sicher geglaubte Urteil nicht in Frage gestellt zu sehen, muß Tappolet annehmen, Schweitzer sei inzwischen seiner ursprünglichen Initiative als Orgelbaureformer wegen anderer Prioritäten untreu geworden.
Wie kommt es zu einem solchen Missverständnis? In erster Linie wohl durch verbal bedingte Fehlinterpretationen, die sich meist nur am erlebten Klang selbst aufklären lassen. Tappolet kannte bis zum Besuch jenes Orgelkonzertes in Halle Schweitzers Ansichten offensichtlich nur durch verbale Vermittlung (und auch so wahrscheinlich nur recht unvollständig). Erst durch den Klang der Rühlmann-Orgel und dessen unterschiedliche Beurteilung wird die unerwartete Differenz der beiden Standpunkte schlagartig deutlich (die erneute Fehlinterpretation Tappolets verhindert hier jedoch seine Aufklärung). Schweitzer selbst sagt hierzu ein erhellendes Wort: „Sooft ich über Orgelbau schreibe, habe ich das Empfinden, daß es sehr schwer ist, sich darüber auf dem Papier zu erklären und zu verständigen. Das, um was es sich handelt, ist etwas Klingendes und muß als solches von denen, die sich mit stummen Worten auseinandersetzen, hinzugedacht werden. Und jeder denkt sich unter denselben Bedingungen und Worten etwas anderes.“8
Unter anderem waren es diese rein verbalen Missverständlichkeiten, die halfen, das Bewusstwerden der Radikalität des geistigen Umbruches nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber dem Ansatz der Elsässischen Reform, die Wolfgang Metzler „als den letzten Höhepunkt des romantischen Orgelbaues“ bezeichnet9, zu verschleiern. Nicht Schweitzer war inzwischen seiner früheren Initiative untreu geworden – genau das Gegenteil war der Fall! -, sondern man huldigte bereits in den Anfangszeiten der Orgelbewegung der 20er Jahre, deren „überzeugter Verfechter“ sich Walter Tappolet nennt, einem ganz anderen Orgelideal als dem von Albert Schweitzer vertretenen, wobei man sich paradoxerweise meist noch als konsequenter Vollstrecker und Vollender der Schweitzerschen Maximen fühlte. Wer so fühlte, mußte fast zwangsläufig bei einer so enthüllenden Begegnung wie der in Halle enttäuscht sein und Schweitzer der Untreue gegenüber seiner früheren Initiative verdächtigen, wie Tappolet es tat.
Es muß klar angesprochen werden, daß Schweitzers Orgelideal wesentlich geprägt wurde durch die Orgel der Hochblüte des Orgelbaues gerade des 19. Jahrhunderts, das im Zuge der Orgelbewegung fast vergessen gemacht worden war. Seine Persönlichkeit wurzelt in diesem 19. Jahrhundert. Unmissverständlich äußerte er sich 1931 über sein Orgelideal: „Die besten Orgeln wurden etwa zwischen 1850 und 1880 erbaut, als Orgelbauer, die Künstler waren, sich die Errungenschaften der Technik zunutze machten, um das Orgelideal Silbermanns und der anderen großen Orgelbauer des 18. Jahrhunderts in höchstmöglicher Vollendung zu verwirklichen. Der bedeutendste von ihnen ist Aristide Cavaillé-Coll… Während mir die monumentale Orgel des 18. Jahrhunderts, wie sie später durch Cavaillé-Coll und andere ihre Vollendung erfuhr, in klanglicher Hinsicht als das Ideal gilt, wollen neuerdings Musikhistoriker in Deutschland auf die Orgel der Zeit von Bach zurückgehen. Diese ist aber nicht die wahre Orgel, sondern nur ihr Vorläufer. Es fehlt ihr das Majestätische, das zum Wesen der Orgel gehört.“10
Sosehr er es begrüßte, daß nach dem Ersten Weltkrieg die Orgel Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden war, sowenig war er mit der Idealisierung des barocken Orgelbaus dieser neuen Ära einverstanden: „Ich habe darunter gelitten, daß eine gewisse Richtung sich … auf einen historischen Orgeltypus, und gar noch auf einen vorbachischen, festlegte.“11 Gerade in Briefen äußert sich Schweitzer weit freimütiger als in seinen Schriften, so auch an den Architekten Leitolf in Aschaffenburg: „Günsbach, 7. Oct. 32 …Hören Sie nicht auf die Leute, die Ihnen eine ,Barock-Orgel‘ oder ,Praetorius-Orgel‘ aufschwätzen wollen. Das ist vorübergehende Mode.“12 Ebenso im Brief an Johannes Schäfer in Osterode: „Günsbach, 6. März 36 …arbeiten Sie für die wahre Orgel, die gleich weit entfernt ist von der heutigen Barock-Gebimbel-Orgel, wie von der früheren Orchester-Fabrikorgel!“13
Trotz solcher Äußerungen machte das Mißverständnis von Schweitzers Orgelideal seine Runde wie einmal in Umlauf gebrachtes Falschgeld – und nur wenige merkten, daß sie betrogene Betrüger waren. Walter Tappolet stehe in diesem Beitrag stellvertretend für viele Fachleute der fünf Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg.
In dem Aufsatz „Zur Reform des Orgelbaus“14 muß sich Schweitzer bereits gegen eine falsche Inanspruchnahme seines Namens in einem Artikel von Peter Epstein (Breslau) in derselben Zeitschrift wehren: „Etwas irreführend in seiner [Epsteins] Darstellung ist, daß er mich die Forderung aufstellen läßt, für die Wiedergabe der Orgelwerke Bachs sollten wir zur Orgel des achtzehnten Jahrhunderts zurückkehren… Weder in meiner Schrift über deutsche und französische Orgelbaukunst (1906), noch in meinem Buche über Bach (1906) [sic!], noch bei den Verhandlungen über Orgelbau auf dem Kongreß der ‚Internationalen Musikgesellschaft zu Wien‘ (1909), die zur Aufstellung des ‚Internationalen Regulativs für Orgelbau‘ (Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1909) führten, noch in der amerikanischen Ausgabe der Orgelwerke Bachs (Schirmer, New York, 1913) habe ich archaistische Ansichten vertreten… Die in meiner Schrift von 1906 ausgegebene Losung lautet: Zurück von der dröhnenden Fabrikorgel zur tonreichen und tonschönen Orgel der Orgelbaumeister.“ Immer wieder muß Schweitzer Mißverständnisse klarstellen: „Mancherorts ist die Losung ‚Zurück zur alten tonschönen Orgel‘ so mißverstanden worden, als sollte die Orgel des achtzehnten Jahrhunderts zum Ideal erhoben werden. Dies ist nicht der Fall.“15
Zu Mißverständnissen Anlaß gab auch Schweitzers Forderung nach zahlreichen und weichen Mixturen. Bereits der Begriff stiftet Verwirrung: Aus Schweitzers Äußerungen geht hervor, daß er unter „Mixturen“ auch Einzelaliquotregister versteht. Die bisweilen scharfen Mixturen des norddeutschen Barock waren nie sein Fall. Dieser Ruf nach Mixturen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schweitzer den größten Wert auf tragfähige, verschmelzungsfähige Grundstimmen verschiedener Bauart legte (sogar auf Kosten der Klangkrone im I. und des Prinzipalaufbaues im II. Manual). Die 8′-Register sind für ihn das Fundament, auf dem die ganze Schönheit einer Orgel beruht. Flöte 8′, Bordun 8′ und Salicional 8′ braucht er besonders für den runden Flötenton, gegen den sich die Solostimme in Bachs Choralvorspielen besonders gut abhebt16. Gerade den lange Zeit mißbilligten streichenden Stimmen galt seine besondere Aufmerksamkeit: „Die Ablehnung streichender Stimmen (Salicional 8′, Gambe 8′, Cello 8′, Violonbaß 16′) habe ich nicht begreifen können und daher nie mitgemacht. Bach hat sie nie abgelehnt. Er hatte Violonbaß 16′ in den Pedalen von Orgeln, die er spielte. Beim Umbau der Mühlhauser Kirche fordert er die Einsetzung einer Gamba 8′, die er mit Salicet 4′ verbinden will… Aber diese Stimmen dürfen nicht schneidend und scharf sein wie so um 1900 herum, sondern milde und edel. Ein Violon 8′ (Cello) gut und mild intoniert im Pedal halte ich auch in einer Orgel von 20 Stimmen erfordert, um den Baß im Piano aufhellen zu können.“17 Der ehemalige Organist der New Yorker Philharmoniker, Edouard Nies-Berger, langjähriger Freund und Mitarbeiter Schweitzers, erzählte mir, mit welchem Stolz Schweitzer immer von „seinem“ Violoncello 8′ der Orgel in Günsbach sprach: „Ein solches Cello findest du in ganz Paris nicht!“
Eine der problematischsten Äußerungen Schweitzers, die manche Fehlinterpretation verursacht hat, lautet: „Maßstab einer jeglichen Orgel, bester und alleiniger Maßstab, ist die Bachsche Orgelmusik.“18 Dieser Satz muß als Schnittpunkt zwischen Schweitzers orgelbaulichen Ansichten und seiner Bachinterpretation19 verstanden werden. Der wahre Sinn dieses Leitwortes bleibt nämlich unverständlich, wenn man nicht berücksichtigt, wie Schweitzer Bach begreift: nicht als historische, sondern als ihn unmittelbar betreffende ästhetisch-ethische Größe! „Es ist an der Zeit, daß die Ästhetik an die Stelle der Geschichte trete und das Wesen der Bachschen Kunst in seiner ganzen Tiefe und seiner reichen Mannigfaltigkeit zu erfassen suche“, sagt er im Bach-Buch20. Mag Schweitzer auch seine philosophisch-ästhetischen Studien unabhängig von seinen ethischen Intentionen betrieben haben (wie ja auch z.B. ein Medizinstudium an sich und unabhängig von dem später damit beabsichtigten ethischen Wirken absolviert werden muß): Seine Bach-Interpretation wie auch sein damit verknüpftes Orgelideal, die praktischen Seiten seiner Ästhetik sozusagen, leben nicht aus einer historischen Sicht, sondern letztlich aus einer erzieherisch-ethisch-religiösen Absicht heraus. Am Schluß seines Vortrags zum 1. Westfälischen Bach-Fest in Dortmund im Jahre 1909 sagt Schweitzer: „In dem Thomaskantor redet einer der größten Mystiker, die es je gegeben hat, zu den Menschen und führt sie aus dem Lärm zur Stille. Er gehört zu denen, welchen es verliehen ward, an der Erlösung der Menschheit mitzuhelfen… Möge uns verliehen sein, was er zu sagen hat, in der rechten Sammlung zu vernehmen und Stunden zu feiern, aus denen wir innerlich stärker und besser, reicher an dem was die Welt nicht geben kann, wieder in das Leben und die Arbeit hinaustreten.“21 An Willibald Gurlitt schreibt er am 23.2.1926: „Wer sich mit Orgel beschäftigt, wird über alles Menschliche und Allzumenschliche hinausgetragen und zur reinen Freude an der Wahrheit geläutert und verehrt Orgel und Orgelklang als die großen seelischen Erzieher zum Erleben der Ewigkeitsgesinnung.“22 Es mag damit hinreichend deutlich geworden sein, daß die Orgeln der Bachzeit dem Maßstab Bachscher Orgelmusik im Sinne Schweitzers nicht genügen.
Für die Orgelmusik der französischen Romantiker stellt Schweitzer berechtigte Forderungen an die Disposition, die erst im Orgelbau unserer Tage wieder häufiger Beachtung finden: „An dem Grundsatz, daß das Schwellwerk das vollständigste sein müsse, ist unter allen Umständen festzuhalten… César Franck, Widor und die anderen romanischen Meister setzten voraus, daß das Schwellwerk mit einer intensiven Gambe, einer nicht minder intensiven und nicht zu engen Voix céleste, mit Oboe 8′ und Clairon 4′ ausgestattet ist. Klarinette 8′ erwarten sie auf dem Positiv. Finden sich diese Stimmen aus irgendeiner Willkür des Erbauers auf einer Orgel nicht an ihrem Platze, so muß für die Wiedergabe der Werke dieser Meister und aller von ihnen beeinflussten Komponisten die ganze Registrierung umgeworden werden.“23 Die volle Bedeutung dieser Äußerung wird erst klar, wenn man bedenkt, welch wesentliches kompositorisches Element die Klangfarbe für Orgelwerke des angesprochenen Stilkreises ist.
So, wie man sich vorher an herrlichen Instrumenten des 18. Jahrhunderts verging, so lud die Orgelbewegung eine Schuld gegenüber den Instrumenten des 19. Jahrhunderts auf sich. Von Anfang an, so bereits 1914, erhob Schweitzer warnend seine Stimme gegen die Anfänge dieses Trends. Er hat nicht nur das Verschwinden vieler Orgeln aus dem 18. Jahrhundert bedauert: „Auch der Verlust von Instrumenten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – genannt seien nur die Namen Ladegast und Walcker – wiegt schwer. Die Gefahr liegt nahe, daß ihrer über der Verherrlichung der Meister des 18. Jahrhunderts, deren würdige und verständnisvolle Erben sie waren, nicht genug gedacht werde“24. Daß aber Schweitzer trotz seiner Liebe und seines Kampfes für schöne alte Orgeln eigentlich mehr zukunftsweisend-modern als historisierend dachte, dokumentiert folgendes Zitat: „Sicherlich müssen wir die noch vorhandenen alten Orgeln des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts als historische Kleinodien erhalten und möglichst sachgemäß und pietätvoll restaurieren… Sicherlich müssen wir die Orgeln aus jener Zeit noch viel besser kennenlernen… Unser Ideal der Orgel ist aber auch durch die Errungenschaften der großen Orgelbaumeister der sieben ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts bestimmt. Weiter noch hat es den Forderungen Rechnung zu tragen, die die bedeutenden Orgelkomponisten – die César Franck, die Widor, die Reger und die anderen – in ihren Schöpfungen an die Orgel stellen.“25
Während sich in der Orgelbewegung das Ideal einer Orgel zunehmend zur Ideologie der „Barockorgel“ verengte und der Bruch mit der Tradition des 19. Jahrhunderts bewußt herbeigeführt wurde, wollte Schweitzer die Weiterentwicklung wieder da anknüpfen, wo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Faden der künstlerischen Tradition im Orgelbau gerissen war und der Verfall durch Industrialisierung und den Sieg des Kaufmännischen über das Künstlerische begonnen hatte. Je mehr die neobarocke Ära der Orgelbewegung nach vielen Jahrzehnten sich ihrem Ende zuneigte, desto aktueller wurde plötzlich der allzu früh überholt geglaubte Albert Schweitzer – und desto treffender wurde die Einschätzung und Würdigung seiner Leistung. Sein Anliegen und Verdienst war die Wahrung des geschichtlichen Kontinuums in der schöpferischen Evolution des Orgelbaus. Alles Epigonenhafte, archaistische Tendenzen und Historizismus lehnte er ab. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hielt er Namensgebungen wie „Elsässische Orgelreform“ für zu eng und deshalb nicht für angebracht für die Idee, um die es ging.26 Nicht um die Wiederbelebung oder gar Nachahmung eines historischen Ideals ging es ihm, sondern um die Schaffung eines künstlerisch wertvollen ästhetischen Orgelideals für seine Zeit durch eigenschöpferisches geistiges Ringen aus Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft gewonnen. Der Glaube an die schöpferische Kraft des eigenen Geistes war in Schweitzer unerschüttert lebendig geblieben.
Beenden wir unsere Überlegungen an dem Ort, von dem wir ausgingen: Dank seiner Autorität hatte Albert Schweitzer seinerzeit Erfolg mit seinem Plädoyer für die Rühlmann-Orgel der Marktkirche in Halle. Sie mußte keinem Neubau weichen. Mehr noch, sie gelangte zu ungeahnten neuen Ehren: Der langjährige Marktkirchenorganist Oscar Rebling kündete mit Berufung auf Schweitzer von dem Anspruch seiner Orgel, eine der besten Deutschlands zu sein.
Im Jahre 1967 wurde das Instrument das Opfer einer Explosion der Fernwärmezuleitung in die Kirche. Die Orgelbaufirma Schuke aus Potsdam erbaute 1984 ein neues Werk mit 56 Stimmen.27
Der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Hans Heinrich Eggebrecht (†) urteilte über diesen Beitrag während der Planungsphase von „Albert Schweitzer heute“ Bd. 1 im Brief vom 7. Nov. 1989 an Pastor Helmut Amelung (Osnabrück), dem Initiator der „Wissenschaftlichen Albert-Schweitzer-Gesellschaft“:
„Der Aufsatz von Herrn Noll paßt gut in den geplanten Band. Er ist stilistisch gut und wissenschaftlich einwandfrei geschrieben und sehr glaubhaft und interessant. Schweitzers Auffassung über das erstrebenswerte Instrument Orgel erscheint – dargestellt an einem konkreten Fall! – in einem in seiner Klarheit neuen Licht, wobei der Aufsatz von Herrn Noll den Grundtendenzen des Aufsatzes von Herrn Schützeichel nahesteht. Also: ein Gewinn für die geplante Publikation. Unbedingt aufnehmen!“
1 Harald Schützeichel: Die Konzerttätigkeit Albert Schweitzers (Stand: November 1986), 55.
2 Walter Tappolet: Erinnerungen an Albert Schweitzer, in: Musik und Gottesdienst 3, 1984, 104.
3 Gemeint ist das „Internationale Regulativ für Orgelbau“, das unter Schweitzers Federführung auf dem Kongreß der Internationalen Musikgesellschaft 1909 in Wien ausgearbeitet und veröffentlicht wurde.
4 Tappolet, 104.
5 Albert Schweitzer: Zur Diskussion über Orgelbau, in Erwin R. Jacobi: Musikwissenschaftliche Arbeiten, 1984, 376.
6 Albert Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken, 193 (GW 1, 89).
7 Albert Schweitzer weilte in Halle, in: Der neue Weg v. 18.1.1975 (mitgeteilt durch Rudolf Schweitzer, Ulberndorf).
8 Zur Diskussion über Orgelbau, 396.
9 Wolfgang Metzler: Romantischer Orgelbau in Deutschland, o.J., 70.
10 Aus meinem Leben und Denken (GW I, 89, 91).
11 Aus einem Brief Schweitzers an Rudolf Quoika vom 2.8.1954 (Rudolf Quoika: Ein Orgelkolleg mit Albert Schweitzer, 1970, 29.).
12 Albert-Schweitzer-Zentralarchiv, Günsbach (ZAG).
13 ZAG.
14 In: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 32, 1927, 148-154.
15 Albert Schweitzer: Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst (mit Nachwort über den gegenwärtigen Stand der Frage des Orgelbaus), 1927 (GW V, 453).
16 Siehe die Briefe an Orgelbaumeister Alfred Kern vom 6.6.1959 und 24.1.1960, gedruckt bei Bernhard Billeter: Albert Schweitzer und sein Orgelbauer, in: Acta Organologica 11, 1977, 218f. Daß Schweitzer auch beim Bau der Günsbacher Orgel (1961) besonderes Gewicht auf die Grundstimmen legte, bestätigte mir Alfred Kern im Gespräch nach dem Gedenkkonzert zu Schweitzers Todestag in Günsbach im Jahre 1973.
17 Quoika, 29.
18 Deutsche und französische Orgelbaukunst (GW V, 410).
19 Siehe zu dieser Problematik meinen Beitrag „Der Orgelfachmann und Bach-Interpret Albert Schweitzer und mein Weg zur Orgel“, in: Rundbrief für alle Freunde von Albert Schweitzer, 48 und 49, 1979/80, sowie die gekürzte und überarbeitete Fassung „Albert Schweitzer als Orgelfachmann und Bach-Interpret“, in: Musik und Kirche 55, 1985, 122-132.
20 Albert Schweitzer: J. S. Bach, 1908, Neusatz 1960, 230.
21 Albert Schweitzer: Aufsätze zur Musik, hrsg. Von Stefan Hanheide, 1988, 46.
22 Schweitzer, Aufsätze zur Musik, 228.
23 Deutsche und französische Orgelbaukunst (GW V, 455).
24 Zur Diskussion über Orgelbau, 382.
25 Deutsche und französische Orgelbaukunst (GW V, 453f).
26 Zur Diskussion über Orgelbau, 377f.
27 Für Informationen zur Geschichte und Disposition der Orgel der Marktkirche, brieflich mitgeteilt am 29.5.1985, bin ich Herrn Carl-Gustav Naumann in Halle zu Dank verpflichtet.