Zur Renovierung des Erbacher Hofes in der Heerstraße 15 in Wiesbaden-Nordenstadt

„Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ (Goethe)

Architektur ist Ausdruck einer Geisteshaltung, die, zu baulicher Form verdichtet, unseren Lebensraum prägt und so beständig auf uns einwirkt. Ob diese Wirkung positiv oder negativ ist, hängt entscheidend davon ab, wie weit es gelungen ist, das Zweckmäßige und das Schöne – bei Achtung des historisch Gewachsenen – in Harmonie zu bringen. Dafür den Blick zu schärfen, forderte mich das Anwesen Heerstraße 15 heraus, nachdem es mir nach dem Tod meines Vaters 1984 als Erbe zugefallen war. Denn damit war mir die Möglichkeit gegeben, das Erkannte auch zu verwirklichen.

„Als Erbe zugefallen“, das heißt auch, dass diese geprägte alte Hofreite in meinen Besitz kam, ohne dass ich irgendein Verdienst daran hatte. Die Arbeit von Generationen steckt darin, auf deren Schultern wir im Guten wie im Schlechten stehen. So empfand ich dieses Erbe als anvertrautes Gut, dessen ich mich erst im Umgang damit als würdig zu erweisen hätte. In diesem Sinne, als Verpflichtung, begann ich die Renovierungsarbeiten.

Als erster Besitzer, der den Hof nicht mehr als landwirtschaftliches Produktionsmittel nutzt, war ich dabei mehr als meine Vorfahren befreit vom Zwang des wirtschaftlich Profitablen zugunsten einer ästhetischen Gestaltung. „Profitabel“ im wirtschaftlichen Sinne ist das ganze Unternehmen nicht. Es ist ein individuelles, geistig-ästhetisches Tun als Ausdruck persönlicher Wertschätzung.

Konkret forderte die neue Aufgabe Einsatz und auch Opfer – schon wegen ihrer Verschiedenheit zu meinem Beruf als Musiker. Aber ich erkannte, dass das Objekt die Mühe lohnen würde. Zunächst studierte ich einige Fachliteratur, holte mir Informationen und Rat wo immer nur möglich und nahm teil an einem Lehrgang für Fachwerkrestaurierung in Herrstein im Hunsrück. Neben eigenen Untersuchungen wurde ein Farbgutachten erstellt und eine dendrochronologische Altersbestimmung durchgeführt.

Ergebnisse waren das ursprüngliche „Ochsenblutrot“ für das Fachwerk und das Erbauungsjahr 1611 für das Wohnhaus, das als einheitlicher Renaissancebau errichtet und durch spätere Eingriffe stilistisch beeinträchtigt wurde. Alle Arbeiten mußte ich organisieren und koordinieren, zum Teil selbst ausführen oder leiten.

Dankbar war ich für jeden Handwerker, der sich über das notwendige Geldverdienen hinaus zu einer individuellen, kreativen Arbeit begeistern ließ, deren Produkt unverwechselbar seine Handschrift trägt – einer nicht entfremdeten Arbeit also, mit der sich der Ausführende identifizieren kann. Hier setzt solche Renovierungsarbeit ein Zeichen gegen den Zeitgeist einer profitorientierten Wegwerfgesellschaft, in der Menschen ohne Eigenschaften Produkte ohne Eigenschaften zum Massenkonsum fremdbestimmt herstellen. Ein Haus mit Geschichte, Charakter und Seele ist etwas anderes als eine beliebig vertauschbare, genormte Wohneinheit.

Viel Zeit brauchte das Nachdenken, ja Meditieren über die Lösung der vielfältigen praktischen und gestalterischen Probleme, die hier nicht ausgebreitet werden können. Bei der Gestaltung ging es mir weder um museale noch um nostalgische Bestrebungen. Unter Achtung des historisch Gewachsenen sollte die bauliche Vielfalt des Gehöfts zu einem neuen, praktisch nutzbaren und ästhetisch befriedigenden Ganzen gefügt werden. So ist z.B. das Ochsenblutrot für das Torhaus von 1849 sicher historisch nicht zu rechtfertigen. Als das Schmuckfachwerk des Wohnhauses im 17. Jahrhundert diesen Rotanstrich erhielt, existierte kein Torhaus. Und als das Torhaus erbaut wurde, verwendete man andere Farben, wobei das Fachwerk unter Putz war. Nun aber musste das Sichtfachwerk des 17. Jahrhunderts und das Torhaus des 19. Jahrhunderts zu einer einheitlichen Fassade gestaltet werden.

Ich hoffe, dass mir mit dieser Renovierung gelungen ist, allen Bürgern zur Freude an der Rettung und Gestaltung des Gesichts des historischen Ortskerns von Nordenstadt mitgewirkt zu haben. Hoffentlich werden möglichst viele durch diese Renovierung (wie auch diejenige vereinzelter anderer Höfe) zu neuem Denken und Handeln im Umgang mit überlieferter Bausubstanz angeregt, ehe dieser organisch gewachsene Ortsteil seine Seele endgültig verloren hat.

Nordenstadt, im August 1990
Rainer Noll