Die Hofreite in der heutigen Heerstraße 15 in Wiesbaden-Nordenstadt nannte man früher im Volksmund „Erbacher Hof“. Auch in Mainz gibt es einen „Erbacher Hof“ in der Grebenstraße 24-26. Dort ist heute die Akademie des Bistums Mainz beheimatet.
Was haben beide Lokalitäten mit Erbach zu tun? Nur soviel, daß es sich vom mundfaulen Volk leichter sprechen läßt als Eberbach, die Zisterzienserabtei im Rheingau, unweit von Erbach gelegen. Beide Höfe gehörten im Mittelalter zu diesem reichen Kloster, das in beeindruckendem Zustand erhalten ist, und dessen gewaltige Basilika heute für bedeutende Konzerte genutzt wird. Es waren Sammel- und Verwaltungszentren für die umliegenden Ländereien des Klosters. Die beträchtlichen Liegenschaften des Klosters ordnete man verschiedenen „Syndikaten“ (Verwaltungsbezirken) zu. Der Hof in Nordenstadt bewirtschaftete um 1500 herum 109 ½ Morgen Ackerland und 3 Morgen Weinberge und gehörte zum Syndikat Mainz, dessen Zentrum der stattliche dortige Hof war. Daher der Name „Erbacher Hof“ für beide Höfe.
Bedingt durch wirtschaftliche Rezension wurde der Nordenstadter Hof im Jahre 1556 an den Amtmann der Herrschaft Eppstein, Herrn Koch, genannt „Pfeffer“, verkauft. – Im selben Jahr dankte Kaiser Karl V. ab, der Martin Luther 1521 auf dem Reichstag zu Worms hatte verhören lassen, und zog sich für die zwei letzten Jahre seines Lebens in ein spanisches Kloster zurück.
Wer im Jahre 1611 das Wohnhaus mit dem im Obergeschoß größtenteils erhaltenen Schmuckfachwerk neu errichtete, ließ sich bisher nicht ermitteln. Eine im Haus gefundene Jahreszahl in Verbindung mit einer umfangreichen dendrochronologischen Untersuchung der Hölzer läßt jedenfalls keinen Zweifel an diesem Erbauungsjahr. Die repräsentative Ornamentik des Baues deutet auf ein Herrschaftshaus. – Zu dieser Zeit wirkte Claudio Monteverdi in Italien, und der junge Heinrich Schütz studierte gerade dort bei Giovanni Gabrieli in Venedig. Kurz zuvor (1607) war Rembrandt geboren worden, und 1609 hatte Johannes Kepler seine „Astronomia“ veröffentlicht. Noch sieben Jahre waren es bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges, und 74 Jahre mußten noch vergehen, bis Johann Sebastian Bach geboren wurde.
Im 17. Jahrhundert kennen wir immerhin einen Bewohner des „Erbacher Hofes“: den Amtmann der Herrschaft Eppstein, Adam Reinhardt Heroldt. 1666 starb er im 61. Jahr seines Alters nach 32 Dienstjahren als „Ambtskeller“ (so die originale Bezeichnung) und wurde als offenbar hochstehende Persönlichkeit in der hiesigen Kirche bestattet. Auch sein Vater Georg Lorenz Heroldt hatte schon diese Amtmannsposition inne. Ist er der Erbauer des Wohnhauses?
Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Gehöft im Besitz meines Ururgroßvaters Johann Georg Stemler (1805 – 1876). Er erbaute 1849 das Torhaus, das den Torhauskonzerten ihren Namen gibt. Seinen und den Namen seiner Frau, meiner Ururgroßmutter Maria Catharina Stemler, geb. Heller (1808 – 1881), sowie das Erbauungsjahr verewigte er über der Tür des Torhauses. Johann Wolfgang von Goethe wäre in diesem Jahr 100 geworden, und Johann Georg Stemler war immerhin noch 27 Jahre lang sein Zeitgenosse. In Paris starb Frédéric Chopin. Nordenstadt gehörte damals zum Herzogtum Nassau, das von 1806 bis 1866 bestand, bevor es zu Preußen kam. Es waren unruhige Zeiten: Im Jahr zuvor hatten die Märzaufstände für Aufruhr gesorgt, und die Deutsche Nationalversammlung war in der Frankfurter Paulskirche zusammengekommen. Im Mai 1849 hatte sich Richard Wagner an dem Aufstand in Dresden beteiligt, er floh und wurde steckbrieflich gesucht. Erste Regungen Richtung Demokratie in Deutschland!
Als ich geboren wurde, war das Torhaus genau 100 Jahre alt. Im gleichen Jahr wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet als zweiter, verordneter Anlauf zu einer demokratischen Staatsform. Der „Erbacher Hof“ hatte gerade zwei Weltkriege unversehrt überstanden, was allerdings kaum über die Menschenopfer hinwegtrösten kann, die ein Unrechtsregime auch hier forderte: Zwei Brüder meiner Mutter, Philipp und Willi Stemler, beide Anfang 20, fielen, einer in Rußland, der andere in Frankreich. Verlogen hieß es offiziell „für Volk und Vaterland“, in Wahrheit aber für die Größenwahnidee eines „tausendjährigen“ Verbrecherstaates. „Mir ist Deutschland groß genug“, pflegte mein Großvater Johann Philipp Stemler (1876 – 1946) den Kriegsbeginn zu kommentieren.
Der Hof kam über meine Mutter Marta Noll, geb. Stemler (1925 – 1976) in die Familie. Nach dem Tod meines Vaters Wilhelm Noll (1905 – 1984) erbte ich das Anwesen und begann unverzüglich mit den Restaurierungsarbeiten, die im wesentlichen 1990 abgeschlossen waren. Neben dem Wohnhaus von 1611 und dem Torhaus von 1849 bilden eine Scheune aus dem 18. Jahrhundert, Stallbauten meines Urgroßvaters und Großvaters sowie ein Wohnhausanbau meines Vaters auf den Mauern des Backhauses von 1904, auf dessen hohem Schornstein bis 1959 ein Storchenpaar nistete, das Gebäudeensemble.
Weder rein museale noch nostalgische Bestrebungen lagen in meiner Absicht. Problem und Ziel zugleich bei der Restaurierung war, unter Achtung des historisch Gewachsenen die bauliche Vielfalt des Gehöfts zu einem neuen, praktisch nutzbaren und ästhetisch befriedigenden Ganzen zu fügen.
Ein historisches Gebäude verträgt sich sehr wohl auch mit neuer Technologie: 1996 stattete ich das Haus mit einer Solaranlage für Warmwasser und einer Regenwasseranlage für die Toilettenspülung und die Gartenbewässerung aus, die das Regenwasser fast aller Dachflächen aufnimmt – eine Notwendigkeit in Zeiten des Raubbaues an den Energie- und Rohstoffressourcen und der Aussicht, daß die Kriege der Zukunft vielleicht ums Trinkwasser geführt werden könnten. Verhindern kann sie ein einzelner sicher nicht, aber er kann begehren und für seinen Teil dazu beitragen, „nicht schuld daran zu sein“, wie es in einem Gedicht über den Krieg von Matthias Claudius heißt. Vor der eigenen Haustür zu kehren, ist nicht genug: zukunftsreiche Weltpolitik muß immer schon dahinter beginnen.