Wenn man glaubt, nach fast vierzig Jahren Spiel auf der Martinskirchenorgel sei wohl alles gesagt, so hat Kantor Rainer Noll seine Zuhörer am Karfreitag eines Besseren belehrt. Immer wieder wartet dieser kreative Klangzauberer mit neuen Werken und ungeahnten Klängen seiner Orgel auf.
Gleich zu Beginn ein herzzerreißendes Präludium und Fuge f-moll des Bach-Lieblingsschülers Johann Ludwig Krebs mit hochgespannten Akkorden und schmerzlicher Chromatik, ganz aus dem Geiste Bachs geschaffen. Dann mehrere äußerst expressive Werke des Meisters selbst: „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ Bachwerkeverzeichnis (BWV) 622, „An Wasserflüssen Babylon saßen wir und weinten“ BWV 653 (Melodie „Ein Lämmlein geht“), die große, sehr selten zu hörende Bearbeitung „O Lamm Gottes, unschuldig“ BWV 656 und „Herzlich tut mich verlangen nach einem sel’gen End“ BWV 727 (Melodie „O Haupt voll Blut und Wunden“).
Typisch für Nolls Programmgestaltung, dass das Schaffen der Gegenwart nicht fehlen darf. Die Variationen über „Nun gehören unsre Herzen ganz dem Mann aus Golgatha“ von Lothar Graap (geb. 1933) wirkten nach Bach fast harmlos-verspielt. Ganz anders die große Choralfantasie „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Christoph Nogay (geb. 1941), die dem „Programm eine Dornenkrone aufsetzte“ (so Noll in seinen Erläuterungen). Dieses unmittelbar unter die Haut gehende Werk reizt die ganze Palette von meditativer Innigkeit bis zur fast brutalen Darstellung der Kreuzigung voll aus.
Das „Markenzeichen“ von Nolls Interpretationen sind die ergreifende Beseeltheit und Wärme und die jede Veräußerlichung meidende glutvolle Intensität, und damit gehört er zu einer einsamen Spitze der internationalen Orgelszene. Der fast vergessene Geist des Orgelspiels Albert Schweitzers wird bei ihm immer wieder gegen den Trend der Zeit lebendig.
Trotz des sonnigen Karfreitagswetters hatten wieder viele dankbare Besucher aus nah und fern in die Martinskirche gefunden.
Eckard B. Gandela