„Wer Ohren hat, der wird es hören“, sagte der Organist und Kantor der Martinsgemeinde Rainer Noll stolz über die Orgel der Kirche. „Alles klingt edel. Man muss einfach Ehrfurcht haben und sie bewundern.“ Dass alles so gut aufeinander abgestimmt ist, empfindet er als ein kleines Wunder, denn ob eine Orgel nach der Fertigstellung auch gut klingt, war damals weder beim Bau im Jahr 1823, noch beim Neubau 1970 vorhersehbar.
Eine Orgel hat verschieden klingende Pfeifenreihen, die jeweils aus Orgelpfeifen gleicher Bauart und Klangfarbe bestehen. Insgesamt hat die Kelsterbacher Orgel 24 Klangfarben, die als Register bezeichnet werden. Einige Pfeifen sind aus einer Blei-Zinn-Legierung. Je höher der Bleigehalt ist, desto runder klingt der Ton. Die größte und tiefste Pfeife ist 2,40 Meter lang. Eine Orgel setzt sich aus mehreren Klangebenen zusammen. In der Martinsgemeinde sind dies das Haupt-, Ober- und Pedalwerk. „Sie sind wie ein Orchester. Man kann die Register der Werke immer wieder neu mischen und bekommt jedes Mal einen ganz eigenen Klangcharakter“, so Noll. Er ist begeistert von der großen Harmonie dieses Instruments, denn bei anderen Orgeln ist es nicht selbstverständlich, dass jede Mischung gut klingt. Der Spieltisch ist seitlich von der Orgel auf der Orgelempore der Martinskirche verborgen. Rainer Noll schätzt diesen Platz, da so nicht der Organist, sondern das Instrument und die Töne selbst im Vordergrund stehen. Vom Spieltisch aus kann er einzelne Pfeifenreihen verschiedener Tonhöhe und Klangfarbe einschalten und mischen. Der Druck auf die Taste wird mechanisch durch eine Hebelverbindung zu den Ventilen unter den Pfeifen geleitet, während die Register elektrisch geschaltet werden. Die Geburtsstunde der Orgel ist auf das Jahr 1823 datiert. Sie war von dem bekannten oberhessischen Orgelbauer Friedrich Wilhelm Bernhard in Romrod erbaut worden. Nach 125 jährigem Dienst war sie fast nur noch zur Hälfte spielbar, sodass die Orgel einer gründlichen Überholung bedurfte. 1948 nahm der Orgelbaumeister Richard Schmidt aus Gelnhausen eine weitgreifende Überholung und Umgestaltung vor, sodass sie am 7. November desselben Jahres in einem Kirchenkonzert wieder in Gebrauch genommen werden konnte. Von der ursprünglichen Orgel sind bis heute drei Register und die Schauseite, die man Prospekt nennt, übrig geblieben. Dahinter verbirgt sich ein neues Orgelwerk, das sich der vorherige Pfarrer Wolfgang Lichtenthaeler 1970 mühsam erkämpft hat. Es wurde von der Orgelbaufirma Förster & Nicolaus in Lich erbaut, von der auch die Orgeln in der Christus- und Johanniskirche in Mainz stammen. Lichtenthaeler setzte sich für den Klangerhalt der desolaten Orgel ein. Sie sollte verschrottet und durch eine elektronische ersetzt werden. Die Register ließen sich nicht mehr einschalten, die Windladen, die dicht sein mussten, waren verrottet und kaputt. Das Besondere an dem neuen Werk ist, dass die neuen den alten Registern angeglichen wurden. Sie wurden so gut integriert, dass ein Unterschied zwischen den alten und den neuen Registern nicht hörbar ist. Problematisch empfindet es Noll, sobald ein Organist sein Instrument nur nach seinem subjektiven Geschmack umbauen lässt, ohne auf die Gesamtkonzeption einer vorhandenen Orgel als Kunstwerk zu achten. „Diese Orgel ist eine so schöne, abgerundete Einheit, dass ich mich hüten werde, irgendetwas an ihr zu verändern. Lieber spiele ich die Stücke, die hier nicht spielbar sind, auf einer anderen Orgel“, stellte Noll fest. Die bisherigen Veränderungen dienten lediglich der besseren Handhabung und Erleichterung der Bedienung. Der Klang blieb dabei unverändert. Beispielsweise ist die Registersteuerung jetzt elektrisch. Noll findet es unwichtig, historisierend zu bauen. Es soll so gebaut werden, dass der ursprüngliche Klang erhalten bleibt, obgleich man sich moderner Mittel bedient. Musste früher beim Orgelspiel noch jemand beim Organisten dabeisitzen und mit der Hand oder sogar einem Stock die Register während des Spiels ändern, geht das heute elektronisch. Bis zu 4 000 verschiedene Registermischungen können gespeichert werden. Aber die schönste Orgel klingt nicht, wenn die Raumakustik nicht stimmt. In der Martinskirche ist die Akustik nicht trocken, aber völlig klar und somit ideal. „Viele gehen in den Mainzer Dom, um sich dort Orgelmusik anzuhören, aber die Akustik ist dort derart schlecht, dass man von Einzelheiten wenig hört“, weiß Noll. Eine weitere Besonderheit der Orgel ist, dass der Darmstädter Hoforganist Johann Christian Heinrich Rinck im Jahre 1823 die Oberaufsicht beim Bau hatte. Rinck ist ein bekannter Komponist und ein Enkelschüler von Johann Sebastian Bach. Die Auswirkungen sind bei dem Instrument heute noch hörbar, denn es eignet sich perfekt zum Spielen von Bach-Stücken. Rainer Noll selbst entdeckte diese Orgel 1972 für sich. Eigentlich besichtigte er eine neue Orgel in Niederrad, doch von der war der Orgelbaufachmann enttäuscht. Als ihm daraufhin als Geheimtipp die Orgel in der Martinskirche in Kelsterbach empfohlen wurde, durfte er dort gleich Probespielen. „Der erstaunte Pfarrer Lichtenthaeler bot mir sofort die Stelle als Kantor an, obgleich es schon unzählige andere Bewerber gab“, schmunzelte Noll. Heute setzt er sich sehr für die Erhaltung der Orgel ein. Besonders gerne spielt er Bach und romantische und moderne Stücke.
(Interview von Norsin Tancik mit Kantor Rainer Noll, erschienen im Freitags-Anzeiger 6.9.07)